Das wird immer noch kontrovers diskutiert, weil die irren Geschehnisse rund um hauptstädtische Pannen und Skandale – Wahlergebnisse partiell als Schätz-Event, erste vermeintliche Zahlen längst vor 18 Uhr in der Öffentlichkeit, lange Wählerschlangen nach formalem Wahlende u. dgl. mehr – kaum einen Zweifel mehr daran lassen, daß im dunkelrot-rot-grünen Berlin so einiges nicht mehr ganz sauber läuft.
Aber wer sich über eventuelle Neuwahlen freut, sich gar als Normalbürger bzw. Normalwähler für einspruchsberechtigt hält – der irrt wohl. Das jedenfalls deutet sich bei der Zeit (v. 30.9.2021) an.
Der Staatsrechtler Christian Pestalozza geht nicht davon aus, daß neu gewählt werden dürfte, und wenn, dann ohnehin nicht im großem Rahmen. Die Entscheidung der zuständigen Stellen
hängt davon ab, ob die Fehler mandatsrelevant waren, also Einfluss auf die Sitzverteilung gehabt haben. Dann würde die Wahl für ungültig erklärt. Dabei gilt das Prinzip der Schadensbegrenzung: Es wird nicht die gesamte Wahl wiederholt, sondern nur die Teile, bei denen sich ein Fehler ausgewirkt haben kann.
Entscheiden kann darüber in Berlin der Verfassungsgerichtshof (gemäß Verfassungsgerichtshofgesetz). Der Wähler selbst spielt hierbei keine juristische Rolle.
Denn »erstaunlich« sei, so Pestalozza,
eine weitere Besonderheit in Berlin: Die Wähler können gar keinen Einspruch vor dem Verfassungsgerichtshof geltend machen, wir sind nämlich gar nicht einspruchsberechtigt. Wir können nur versuchen, beim Verwaltungsgericht zu klagen oder direkt eine Verfassungsbeschwerde einzulegen.
Das heißt: Große Hoffnungen sollte sich der geneigte Berlin-Skeptiker nicht machen. Und selbst wenn an der ein oder anderen Stelle offen geschlampt wurde oder anderweitiges menschliches Versagen feststellbar wäre – die Berliner Wahl hätte wohl eher keine Auswirkungen auf die Bundestagswahl als solche,
denn das hängt nicht automatisch miteinander zusammen. Da muss man immer schauen, wie weit der Fehler reicht. Wenn etwa die Stimmzettel vertauscht worden sind, dann kann es sein, dass nur der Zettel für die Berliner Abgeordnetenhauswahl der falsche war. Was anderes ist es, wenn man rechtswidrig nach Hause geschickt worden ist. Dann ist man an der Stimmabgabe auch für die Bundestagswahl gehindert worden. Dann muss ermittelt werden, wie viele Wähler das betroffen hat – und ob das mandatsrelevant sein kann.
Lange Rede, kurzer Sinn: Es wird keine größeren Änderungen mehr geben, ein, zwei Rücktritte und das wars, Chaos bleibt Chaos, und den Wähler in der Hauptstadt juckt es nicht – bei deutlich über 90 Prozent Zustimmungswerten für die Altparteien ist er ohnehin der stärkste Garant deren Herrschaft.
Berlin, aber normal.
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Nicht normal ist es, daß immer noch hoffnungsvolle Projektionen aus dem konservativen bzw. liberalkonservativen Feld hinein ins parteiliberale Feld in Gestalt der FDP erfolgen.
Da kann die Lektüre der (ebenfalls liberalen) NZZ nur hilfreich sein: Am heutigen 8. Oktober kann man dort einen Bericht von Anja Stehle als Aufmacher konsultieren. Er räumt letzte Zweifel aus, ob man es bei der FDP, die neben den Grünen als Kanzlermacher fungieren, mit einer exemplarischen Formation des Altparteienblocks zu tun hat.
Denn natürlich sind sich die Freidemokraten längst mit den Grünen handelseinig geworden:
Der FDP-Chef Christian Lindner nennt sie «eine Art fortschrittsfreundliches Zentrum», die Grünen betonen die «grossen Gemeinsamkeiten» in gesellschaftspolitischen Fragen: Zehn Tage nach der Bundestagswahl haben sich die Spitzen der beiden Parteien für die Aufnahme von Gesprächen über eine Ampelkoalition ausgesprochen,
und wie sollte es auch anders sein, wenn man sich in den »gesellschaftspolitischen Fragen« – mehr Migration, mehr Gender, mehr EU-»Europa«, weniger Deutschland – einig weiß?
Das Kuriose ist ja nicht, daß sich hier Mitte-Liberale und Linksliberale gut verstehen. Die Nähe zur Macht, der Zugang zu ihr, die zu erwartenden Posten (Renate Künast als Justizministerin?) und die damit verbundenen Einflußoptionen auf die bundesdeutsche Politik – das kommt nur noch on top auf die Habenseite, die ohnehin bereits erklecklich ist.
Alte FDPler wie Gerhard Papke, der übrigens eine verdienstvolle Arbeit auf dem deutsch-ungarischen Feld leistet, sind von gestern. Sie realisieren nicht, daß der Widerspruch nicht zwischen Liberalen und grünen »Sozialisten« verläuft (mehr dazu in der 7. Ausgabe der Zeitschrift Die Kehre, in bälde auch bei antaios.de verfügbar), sondern daß vielmehr beide Parteien ihrem (gesellschafts-)politischen Wesen nach erzliberale Parteien sind, wobei lediglich die Nuancen eindeutig differieren:
Die FDP steht für mehr Oberschichtsfreiheiten und Wirtschaftsorientierung, aber für ein Lebensgefühl der totalen Freiheit und »Lässigkeit«, die Grünen für mehr Klimaideologie und Antifaschismus, aber ebenso für für ein Lebensgefühl der totalen Freiheit und »Lässigkeit« (– das sich habituell und ästhetisch eben weniger BWL-Studenten-like, sondern stärker linksalternativ äußert).
Kurz: Man bedient gelb wie grün zwar unterschiedliche liberale Nischen, aber sie beide sind Fleisch vom Fleische des Emanzipationskultus, für den bekanntermaßen Bindungen, Pflichten und Verortungen in organisch gewachsenen Gemeinschaften als Hindernisse für das freie, menschheitsunmittelbare Individuum gelten. Der Einzelne ist alles, die Gemeinschaft ist nichts; das ist wohl, mit Armin Mohler gedacht, die Quintessenz beider liberalen Medaillenseiten.
#Mohler #Hitlerkomplex pic.twitter.com/lSCnJwH2kN
— staatvolknation🏴 (@StaatVolkNation) October 6, 2021
Papke nun beanstandet beinahe empört:
Für viele #FDP-Wähler wird es eine böse Überraschung geben, wenn die #Ampel mit #Grünen und #SPD noch mehr Massenzuwanderung, die Liberalisierung von Rauschgift und die erleichterte Geschlechtsumwandlung von Minderjährigen vereinbart. Und genau das wird kommen.
— Gerhard Papke (@PapkeGerhard) October 8, 2021
Aber wieso eigentlich »böse Überraschung«? FDP- und JuLi-Aktive traten bereits vor der Wahl freimütig für die Abschaffung von Inzestparagraphen, die Liberalisierung von Rauschgiftdelikten, Transgender-Ideologie, den verstärkten Kampf gegen »Rechtsextremismus« oder auch für die Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre ein – exakt wie die Grünen und ihre Parteijugend.
Auch das Thema Massenmigration ist ebenfalls kein genuin grünes. Die FDP forderte – vor der Wahl – 500.000 (!) Migranten pro Jahr (!), um die Rente vorgeblich zu sichern, was wie so oft exemplarisch vorführt, daß es dieser materialistischen Partei und ihren Vertretern primär an ökonomischen Kennziffern und dem Wirtschaftsstandort BRD gelegen ist, nicht an Deutschland als bewahrenswerter Nation mit ihrem unermeßlichen gerade auch immateriellen Erbe. Also: Wo ist hier der entscheidende Unterschied zu den Grünen? Es gibt ihn nicht.
Unterschiede gibt es, davon abgesehen, durchaus: Sie liegen insbesondere in der Steuerpolitik. Dort stehen sich Grüne und SPD näher als Grüne und FDP. Aber was macht das noch für einen Unterschied, ob ein Spitzenverdiener nun 40, 43 oder 46 Prozent Einkommenssteuer abführt, wenn die demographische Katastrophe so oder so von beiden künftigen Koalitionspartnern nicht als verhängnisvoller Irrweg abgelehnt, sondern als multikulturelle Verheißung begrüßt wird?
Und so weiß die NZZ zu berichten:
SPD und Grüne werden den Liberalen wohl vor allem bei der Steuerpolitik ein grosses Stück entgegenkommen müssen. Die FDP wird sich in der Klimapolitik bewegen müssen.
Deutschlands Ampel, das neue »normal«?
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»Richtig interessant« werde es, so hieß es derweil an selbem Publikationsort (v. 5.10.2021),
wenn die CDU die Wahl und die Regierung verliert. Nachdem die meisten ihrer ehemals identitätsstiftenden Themen von Kanzlerin Angela Merkel im Dienste der Fähigkeit zur allseitigen Koalition (speziell mit den Grünen) abgeräumt worden sind, ist die inhaltliche Entkernung noch eklatanter,
womit Fatina Keilani einige Allgemeinplätze konzise zusammenführt.
Spannend wird es im unmittelbaren Anschluß:
Man könnte sich bald fragen: «Wozu gibt es diese Partei noch?» Die CDU kämpft nicht nur um die Macht, sondern auch um ihre Zukunft. Denkbar erscheint, dass sie sich in der Opposition erneuert, denkbar aber auch, dass sie darin ganz verschwindet,
was ja wohl nach 52 Jahren Regierungsbeteiligung der Union in 72 Jahren Geschichte der Bundesrepublik Deutschland der erste unvermeidliche Schritt auf dem langen, steinigen Weg darstellen müßte, um Deutschland wirklich so etwas wie »Normalität« zu verschaffen.
Zumindest parlamentspolitisch ist damit der einzige Weg klar:
Nach den Signalen der #Grünen zugunsten der #Ampel sollte klar sein, dass mit einer #FDP nie #Bahamas kommen wird.
Wir als #AfD müssen darauf hinarbeiten, dass sich die FDP in der Regierung und #CDU und #CSU in der Opposition selbst zerschießen, damit die AfD wachsen kann.— Johann Martel (@martel_afd) October 6, 2021
Mitleser2
Die AfD muss nur abwarten. Nach 16 Merkel Jahren sind alle Probleme nur verdrängt, aufgeschoben, negiert, kleingeredet. Aber sie werden aufbrechen. Und dann ist es für die AfD besser, wenn Scholz die Probleme am Hals hat. Mit einem Kanzler Laschet könnte sich die SPD als Opposition viel leichter auf Kosten der AfD profilieren.
Natürlich wird das nicht automatisch zum Höhenflug der AfD führen, aber man muss nicht zu pessimistisch sein.
Und noch ein Gedanke: Natürlich ist Söder charakterlich fragwürdig, aber vermutlich denkt er strategisch. Er wird wissen, dass die nächsten Jahre für keine Bundesregierung gut werden, da ist es besser, man hat nicht die Verantwortung, gerade als bayerische Regionalpartei.