Die Geistesverwandschaft zu der ihr persönlich unbekannten Frau hat sie frappiert. Interessant: Die Autorin schreibt hier immer wieder kommentierend mit. Ihr Pseudonym zu lüften ist einfach.
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Seltsam, wenn man selbst ein Buch geschrieben hat, und bald darauf ein anderes liest, das dieselben Fragen stellt. Das bis in die Verästelungen hinein dieselben Gedanken hin- und herwendet, und überdies aus einem ähnlichen Existenzgefühl entstanden sein muß. Zum Briefwechsel zwischen dem in China lebenden Anthroposophen Martin Barkhoff und mir, der nun bei Antaios unter dem Titel Volkstod und Volksauferstehung erscheint, hätte die Theologin Hanna Jüngling als Dritte hinzugestoßen sein können.
Wenn Christus (Joh 17, 11) sagt, sein „Reich ist nicht von dieser Welt“ (oder, näher am griechischen Text, „nicht aus diesem Weltsystem herstammend“, wie Jüngling übersetzt), und den Pharisäern verkündet, das Reich Gottes komme nicht „mit äußerer Gebärde“, sondern sei bereits „inwendig in euch“ (Lk 17, 20–21) stellt sich die Frage: Wo ist dieses Reich? Wie haben wir Teil an ihm? Es handelt sich um ein Innenreich. Die sprichwörtliche „deutsche Innerlichkeit“ war allen deutschen Revolutionären seit Hegel ein Ärgernis. Dies führt ins Zentrum des Buches.
Hanna Jüngling setzt sich an einer beispielhaften Stelle mit dem evangelischen Theologen Friedrich Gogarten auseinander, dessen kämpferische Schrift Wider die Ächtung der Autorität (1930) ich in meinem Erziehungsbuch zustimmend erwähnte. Sie hält ihm entgegen, daß nur die korrumpierten Menschenreiche, die irdische Politik und die Machtstrukturen der Eliten und Drahtzieher, auf Autorität begründet seien. Das Reich Christi ist immer dann schon da, wenn Menschen und Völker in freier, nichthierarchischer Ordnung existieren. Gogarten würde ihr entgegenhalten, es handle sich um ablehnenswerte opiniones judaicae, davon auszugehen, es wäre ein Reich ohne Autorität jemals unter den realexistierenden Menschen möglich – letzterem würden alle Rechten und Konservativen beipflichten.
Was hat dies nun mit uns Deutschen zu tun? „Innenkönige“ sind wir Deutschen, so lautet die zunächst seltsame These dieses seltsamen Buches: Wir waren und sind auf eine besondere Weise unter den Völkern in der Lage, „in diesem Weltsystem“ das kommende Reich Gottes zu denken und – hier trifft Jüngling sich mit uns Briefwechselautoren – seine zukünftige geschichtliche Entstehung mitzutragen. Wir Deutschen haben eine ureigene Aufgabe, die zu verwirklichen uns auf Erden noch bevorsteht. Ihr ist dabei vollkommen klar, daß es mit dem deutschen Volk gegenwärtig schlimm steht, daß unsere Realexistenz als Volk und unsere geistige Mission uns brutal ausgetrieben werden, so daß von den „Innenkönigen“ bald kein Innenleben mehr übrig zu bleiben droht.
„Wo aber Gefahr ist // wächst das Rettende doch“, läßt sich hier mit dem von Jüngling vielzitierten Hölderlin einwenden. Worin besteht es? Zunächst in der Suche nach den Wurzeln – diese betreibt die Autorin in einer ganz ungeschützt-kindlichen Weise. Ihrem Suchen ist nichts fremd, Denkverbote kennt sie nicht.
Hier kommen theologisches Quellenstudium, spekulative Geisteswissenschaft und etymologische Detailsuche zusammen, so daß Hanna Jüngling von der akademischen historisch-kritischen Theologie so entrüstet ausgestoßen wie von manchem Privatgelehrten früherer Jahrhunderte kollegial umarmt würde.
Außer in der Suche nach den Wurzeln besteht das „Rettende“ vielleicht auch in dieser von allen Autoritäten sich lossagenden sehr deutschen Liebe zum grundsätzlichen, manchmal auch abschweifenden Denken. Dem an der Zukunft des deutschen Volkes fast verzweifelnden, aber dogmatisch nicht festgelegten, geistig regen Leser könnte es vielleicht gut gefallen, erst Innenkönig und dann Volkstod und Volksauferstehung zu lesen.
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Hanna Jüngling: Innenkönig. Über das Volk der Dichter und Denker. Zeitschnur Verlag, Karlsruhe 2021, 196 S., 15 € – hier bestellen.
Martin Barkhoff und Caroline Sommerfeld: Volkstod – Volksauferstehung. Achtundzwanzig Briefe, Antaios, Schnellroda 2021, 120 Seiten, 16 € – hier bestellen.
Maiordomus
Die Schlagworte "Volkstod" und "Volksauferstehung" überzeugen nicht, weil sie das Politische metaphysisch und religiös aufhöhen zu einer Art Sozialreligion, wie Voegelin es formulierte, dessen Buch aber "Die Natur des Rechts" (1937) als indirekte Kritik der heutigen Auffassung der EU von Recht (z.B. gegenüber Polen und Ungarn) vielleicht so aktuell wäre wie nie. Ansonsten ist der Artikel von CS lesenswert, im Zusammenhang der Formulierung "nicht aus diesem Weltsystem herstammend", womit notabene Voegelin innerweltlichen Erlösungssysteme kritisierte, heute anwendbar z.B. auf Klimareligion und ins Sektiererische ausartende Gesundheitspolitik. Vieles sieht die rechte Opposition durchaus richtig, nur ist "Volksauferstehung" nun mal ein religiöser wahnhafter Begriff, kein Zeugnis rationaler Analyse.
E. Voegelin: Die Natur des Rechts. Matthes und Seitz, Berlin 2012, 1, amerikanische Auflage 1991 nach einer Vorlesung von 1957. Von 1958 bis 1969 war Voegelin Prof. für Politische Wissenschaft in München; weiterer Titel "Realitätsfinsternis", vom Titel her wohl nie so aktuell wie heute.
Kommentar Sommerfeld: Im Briefwechsel greife ich Ihren einige Zeit zurückliegenden Hinweis auf Voegelin auf - Dank dafür! Bevor Sie allerdings von einem "religiösen wahnhaften Begriff" sprechen, bitte ich Sie um Lektüres des Buches. Danach tausche ich mich gern über Wahnhaftes und Angemessenes aus ...