Er generiert und vernetzt Welten – ein famoses Medium, geschaltet zwischen uns und die Welt. Diese Welt selbst ist, was sie ist; die Zahlen, ob Null, ob Eins, ob Trillionen, interessieren sie nicht, denn ihre mannigfaltigen Einzelheiten da draußen tragen keine Ziffern; wir erst projizieren „Zahlen und Figuren“ (Novalis) auf alles, um es für uns mittels apriorischen Denkens zu rastern, zu skalieren und handhabbar zu machen.
Die Mathematik, die wir als Betriebssystem unseres Verstandes mitbringen, paßt als Schlüssel in die Welt, die wir vorfinden. Wundervolle Korrespondenz. Wir nutzen diesen Aufschluß, um zu erkennen und um das Erkannte zu verwerten.
Das ist unsere Art, die Zahlen und die Geometrie auf die Welt zu legen. Und der Computer – als Überrechner – ist ein effizienter Verwerter der Daten. Wir füttern ihn mit allem, was hineingeht. Mit immer mehr, mit der ganzen Welt. Vielleicht verschwinden wir bald selbst in den Speichermedien und im weltweiten Rechner-Netz, gehen als Subjekt im von uns geschaffenen Objekt auf, so ähnlich wie jener Maler in der chinesischen Anekdote, der schließlich in seinem eigenen Bild verschwand.
Digitale Welt klingt modern, analoge Welt hingegen hoffnungslos antiquiert. Wir wollen es nicht mehr analog, sondern nur noch digital. Digitalisierung, nicht mehr der Mensch, ist das Maß aller Dinge. Sie wirkt sauber und keimfrei wie das Apple-Design; alles Analoge erscheint dagegen wild, urwüchsig, beängstigend.
Mag aber nicht eine Gefahr darin bestehen, wenn wir uns vom Analogen, vom Tatsächlichen, vom sinnlich Empirischen immer weiter entfernen, uns dem Natürlichen also tendenziell entfremden und stattdessen nur mehr in der sterilen Welt des mathematisch beziehungsweise digital Generierten heimisch zu fühlen beginnen? Digitalisierung distanziert; deshalb wurde sie zum Leitbegriff in der fortdauernden Corona-Hysterie.
Alles Reale ist berechenbar; aber alles, was computerbasiert berechnet wird, ist zunächst nicht real greifbar vorhanden, sondern, nun ja, ein trügerisches Ding, eine vorgespiegelte, virtuelle, künstlich entworfene Welt, in der wir evolutionsgebildeten Naturwesen nicht eigentlich zu Hause sind.
Nein, hier soll gar nicht fortschrittspessimistisch beschworen werden, wie sehr wir alle getroffen wären, würden die maßgeblichen Server und Knotenpunkte des Web von irgendeiner Katastrophe zerstört, diesem mittlerweile schlimmsten GAU. Man denke stattdessen über Einfacheres nach:
Wenn jede Gleichung, jede Ableitung, jedes geometrische Problem, ach überhaupt alles, was uns einst zu denken gab, in wundervoller Dienstleistung per Mausklick oder App gelöst werden kann, verstehen wir dann nicht immer weniger, was sich hinter dem mathematischen Konstrukt „in echt“ verbirgt? Regieren wir die Algorithmen oder regieren die Algorithmen längst uns?
Es verbirgt sich uns immer mehr. Ebenso wie sich die Grammatik, Grundlage nicht nur unserer Sprache, sondern gleichfalls der Klarheit unserer Gedanken, hinter einem Korrekturprogramm versteckt, so unauffindbar, bis vielleicht niemand mehr weiß, was Grammatik eigentlich ist und soll. So, wie die Ableitung einer Gleichung als Problem, das sie ist, und in der Anschaulichkeit, die sie mal hatte, hinter einem flotten Programm verschwindet.
Wir kommen von den Rechnern, Smartphones, Tablets nicht mehr los, wir digitalisieren alles; daher sind diese Geräte von Hilfsmitteln zu Fetischen geworden. Das Smartphone avancierte längst zum Körperteil. Wir bergen darin unsre Welt und das ganze Leben. Das ganze? Echt?
Offenbar müssen Kinder, um Abenteuer zu bestehen, kaum mehr hinausgehen; sie erleben scheinbar Farbigeres, Spannenderes, Phantastischeres über ihre Konsolen und Systeme für PC- und Online-Spiele.
Um ein Klischee zu bedienen: Sie mögen zunehmend blaß, adipös und verrenkt vor ihren Screens hocken, ganz so wie Platons fixiertes Publikum in der Höhle, und sie dürfen sich doch als fitte Helden in ihrer Welt erleben, wenn sie über einen der starken Game-Commander verfügen, mit dem sie aus ihrem Game-Stuhl heraus den Gaming-Kosmos regieren und ihren Score ins Astronomische steigern.
Abgesehen von der Gefahr digitaler Demenz, vor der Hirnforscher Manfred Spitzer warnt, geht es um eine viel größere, nämlich die einer Verwechslung beider Welten, der digitalen mit der realen.
Ein Auto, das ich in einem PC-Game schrotte, funktioniert auf dem nächsten Level wieder wie neu; es wird vom Rechner generiert, und ist somit regenerierbar. No Problem! Jeder Söldner, der im Ego-Shooter erledigt wird, lebt als Zahlenkolonne über ein Programm sogleich neu auf.
Ständige Reinkarnation, beinahe nietzscheanisch die ewige Wiederkehr des Gleichen auf dem Bildschirm. The show must go on, and the show goes on. Niemals mehr Sendeschluß! – Aber: Wird jemand, der permanent in solchen virtuellen Räumen haust und dort geprägt wird, ebenso in der Welt analoger Tatsachen lebensfähig sein?
Wird er nicht sein Maß, seine Relationen verlieren und damit den Respekt vor den Dingen, der Schöpfung und den Mitgeschöpfen?
Wir Älteren, die keine digital natives sind, werkelten früh in Werkstätten herum. Schraubstock statt Festplatte, Schweißgerät statt Computer-Maus, Uhren, die wir aufziehen mußten, wie wir als Kinder unser Blechspielzeug aufzogen. Wir schraubten erst an unseren Fahrrädern, dann an Mopeds, dann an Motorrädern.
Wir gingen überhaupt mit einer analogen Maschinerie um, die empirisch, also sinnlich-sensuell erfahrbar war, beglückend und schmerzlich, laut und kraftvoll, rauchend und stinkend, Respekt gebietend, weil man den Umgang mit Funktion und Energie erst erfahrend zu lernen hatte.
Vom Dreirad bis zum rückstoßfreien Geschütz wollte die Technik als eine Verlängerung und Verstärkung unserer Sinne und Muskeln beherrscht werden. Von Fall zu Fall. Und oft genug bis zum Unfall. Irgendwo stand immer ein Verbandskasten. Und wurde früher oder später gebraucht.
Wenn wir frei hatten von allem, dann barg uns die Natur: mit dem Fahrrad an den See, baden, angeln, mit den Freunden im Wald unterwegs sein, im Winter auf Skiern stille Wege entlang – Urerfahrungen mit der Weite, der Frische, ja dem Weltganzen, seiner schweigsamen Faszination und der eigenen Vereinzelung wie dem Aufgehobensein darin.
Aber das Kid am Game-Commander kennt gar keine irreversiblen Fälle und Unfälle mehr, jedenfalls nicht solche, die es am eigenen Körper erfährt. Verlernt es so nicht die Bewährung an der echten Herausforderung, vor allem aber die Verantwortung, die wir im Realen beinahe überall zu übernehmen haben? Fühlt es je noch so etwas wie eine unio mystica in der Stille. Die Algorithmen laufen durch. Gewissermaßen ist es nirgendwo mehr still.
Unheimlich, wie gering der Unterschied zwischen dem am Computer spielenden Kind und dem GI an den Bedienelementen einer Killer-Drohne erscheint.
Alles Lebendige, sogar die analoge Technik, ist verletzlich. Die Menschen und die Natur, ja nicht mal Maschinen lassen sich über Reset- und Neustart-Befehle in der Weise einer Wunderheilung kurieren.
Wir alle haben und brauchen unser Maß, eines, das der Rechner mit seinen Giga- und Tera-Bytes nicht kennt. Mag sein, wir sollten ihn öfter mal herunterfahren, um wieder zu spüren, wie eng unsere naturbedingten Radien so sind und was uns an sich zugemessen ist. Aber die Rechenwelt scheint sich beinahe schon selbst gegen das Abschalten zu wehren. Sie warnt uns permanent vor dem, was dann geschehen könnte – daß wir dann nämlich selbst wieder zu leben und zu entscheiden beginnen müssen. Reanimiert.
In der Wirklichkeit, die uns hervorbrachte. Um Fühlung aufzunehmen. Fühlung! Wobei noch nicht mal von anderen Irrungen und Wirrungen die Rede ist, der virtuellen Liebe etwa auf den Dating-Plattformen, den sehnsüchtig-verzweifelten Projizierungen beim Partner-Shopping und dem Jahrmarkt der Selfie-Eitelkeiten.
Maiordomus
Der dritte Abschnitt Ihrer Betrachtung, Herr Bosselmann, erinnert mich an die Computernovelle "Der Versuch" aus dem Spätwerk von Friedrich Dürrenmatt, wo noch so ganz nebenbei das Verschwinden der Weissen um das Jahr 2 600 angesetzt wird. Interessant die Mutmassungen der Archäologen über im Jahre 10 000 unternommene Ausgrabungen einer Stadt, deren spannendste Krise um das Jahr 2000 angesetzt wird. Die Blüte von Sex-Shops und Pornografie wird von den Forschern fälschlicherweise als Fruchtbarkeitskult ausgelegt; Regierungsgebäude mit Tempeln verwechselt, wobei es verschiedene Theorien darüber gibt. Einig sind sich die Wissenschaftler um 10 000 nur in einem Punkt: Dass in jenen Bauten ein der damaligen Religion entsprechendes striktes Arbeitsverbot geherrscht habe... Am Ende der Geschichte entpuppt sich Gott als monströser Computer, zwar vom Menschen erschaffen, aber in der Lage, die Menschen so, wie Sie oben schreiben, mit der Zeit verschwinden zu lassen.