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Lesen
Gottfried Benn/Gertrud Zenzes: Briefwechsel 1921- 1956. Stuttgart: Klett-Cotta. 482 S., 34 €
Um es kurz und brutal zu sagen: Dieses Buch wird a) Benn-Fans, b) Geisteswissenschaftler generell, c) Gala/Bunte-Leser eminent ansprechen. Zu b) und c) bekenne ich mich freimütig, zu a) bloß zweidrittelweise.
Und doch war mir diese Lektüre ein ungetrübtes Vergnügen. Gertrud Zenzes, geb. Cassel und Gottfried Benn waren 1921/22 ein Dreivierteljahr ein Liebespaar. Sie ist in zahlreichen Briefen sein Schnuckchen, seine Petit, sein lieber Kleiner [sic], sein Trudchen. Zenzes, damals noch Cassel, schickt dem Geliebten eine wissenschaftliche Arbeit aus ihrer Feder. Er kommentiert gegenüber der Tochter aus jüdischer Familie: „Wie gescheit Du bist, trotz Deiner niedrigen Stirn.“
Mit einer schnöde-galanten Mitteilung Benns zu Silvester endet die Affaire jäh ohne Vorzeichen. „Mich sehen werden Sie auch vorläufig weiter nicht. Sie werden das verstehen.“ Zenzes, eine der ersten deutschen promovierten Frauen, nimmt es hin und sieht keinen Anlaß, die Brieffreundschaft seinzulassen.
Über die Jahre liest sie, wie Benn drei seiner Hauptfrauen beerdigt, zwei davon durch Selbstmord geendet. Nach dem Krieg schickt sie ihm aus den USA Versorgungspakte. Endlich Schnürsenkel für Dr. Benn! Und Cigarren! Und „Toil. cleaning paper“! Benn freut sich kolossal.
Hier, in diesem Briefwechsel, offenbaren sich einfach sämtliche Abgründe und Höhen, die das 20. Jahrhundert geistig zu bieten hatte. Dies alles, ergänzt um Zenzes Briefwechsel mit dem Benn-Freund und Verleger Max Niedermayer, ist eine wahre Fundgrube. Selbst in den „Apparat“ (editorische Hinweise und Kommentare) mag man sich über Stunden vergraben.
Gottfried Benn/Gertrud Zenzes: Briefwechsel 1921- 1956.
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Denken
Wolfgang Schivelbusch: Die andere Seite. Leben und Forschen und Berlin und New York, Hamburg: Rowohlt 2021, 336 S., 26 €
Am 26. November 2021 begeht der Soziologe, Literaturwissenschaftler und Philosoph Wolfgang Schivelbusch seinen 80. Geburtstag. Hellwach und „Wahrnehmungsavantgarde“ war Schivelbusch (in Berlin geboren, in Frankfurt aufgewachsen, seit den siebziger Jahren zwischen USA und Berlin pendelnd) seit je, als waschechter Renegat entpuppt sich der alte 68er erst jetzt in diesem Gespräch über seine Lebenserinnerungen:
„Wir waren die perfekten Mitspieler in der amerikanischen Moralerzählung. Dazu zwei Erinnerungen: Einmal an die amerikanische Fernsehserie «Holocaust» Ende der 70er Jahre, die in Deutschland einen enormen Erfolg hatte und die ganze deutsche Erinnerungskultur auslöste. Und zum Zweiten an das Buch von Daniel Jonah Goldhagen «Hitlers willige Vollstrecker», das die längst überwunden geglaubte Kollektivschuldthese wiederbelebte.“
Schivelbusch beschreibt, wie er im Nachkrieg die Attraktivität der GI anhand ihrer schicken Badehosen („Aura der Macht der Sieger“: die Besiegten trugen schwere Baumwolle) wahrnahm, wie er 1964 in einem Seminar bei Hans-Magnus Enzensberger aus Gründen der Neunmalklugheit scheiterte und wie er später mit phraseologischem, hohlem DDR-Funktionärsgeschwätz in renommierten Zeitschriften punkten konnte. Heute empfiehlt Schivelbusch die Lektüre des Tumult-Magazins. Das hier ist ein zeitgeschichtliches Zeugnis ersten Ranges. Im Wunschstaat würde man daraus Abituraufgaben flechten.
Wolfgang Schivelbusch: Die andere Seite.
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Schauen
Peter Lindbergh: Untold Stories, Köln: Taschen,. 329 S., 60 €
Ich entstamme einem Zeitalter, wo das Maß der „Schönheit“ zwar noch einigermaßen common sense war, aber bereits in die Lebendigkeit entlassen wurde. In dieser Zeit gab es das Wort „Fatshaming“ noch nicht, aber es gab auch nicht all diese Photo-Filter, diesen Normierungsdruck und die Schönheitsmaßnahmen „to go“. Peter Lindbergh, geboren 1944 im Wartheland als Peter Brodbeck, später Schaufensterdekorateur und Malerei-Student in Berlin, dann Werkkunstschule in Krefeld und Photographenausbildung in Düsseldorf, seit 1978 in Paris, hat mit diesem posthum erschienenen Bildband (er starb unerwartet Ende 2019) erstmals eine eigene Ausstellung kuratiert.
Oh – es ist wunderschön. Lindbergh hatte die „Supermodels“ der neunziger Jahre ikonisiert. Es ist einfach erhebend: Claudia Schiffer, Uma Thurman, Kirsten Owen, Linda Evangelista (letztere beide auf dem bestechenden Cover) zwar in Pose, doch „atmend“, also lebendig zu sehen! Die Haut und die Muskelstränge von Hannah Whelan und Karen Elson! Das alles in Schwarz/Weiß – wie lange sowas noch gutgehen mag? Hier haben wir Photographien (Lindbergh ließ sich beispielswiese von Fritz Langs Metropolis inspirieren), die nachhallen. Es gibt sie noch, die echten Gesichter und Körper!
Teile meiner Familie halten es für barbarisch, daß ich Seiten aus Bildbänden ausschneide und als „Druck“ gerahmt aufhänge. Na und! Ich kaufe sowas doch nicht teuer für’s Regal?
Peter Lindbergh: Untold Stories.
Maiordomus
@Kositza. Liess mir zehn Jahre vor Ihrer Geburt von meinem unterdessen verstorbenen Bruder die ca. sechsbändige blaue broschierte Benn-Ausgabe schenken, verfolgte schon damals die auf Schallplatte aufgezeichnete Debatte mit Reinhold Schneider "Soll die Dichtung das Leben bessern?"; ausserdem war Benn Gegenstand des ersten germanistischen Seminars mit meinem späteren Doktorvater. Also, gilt als bestellt! Dass es "Die Bunte" überhaupt noch gibt, war mir gar nicht mehr bekannt.
Noch bemerkenswert hinsichtlich nachdenken betr. Benn: "Das Wort, das meinem Stil fremd ist." Er meinte damit den Ausdruck mit vier Buchstaben für ein höheres Wesen, das Nietzsche im Anschluss an Hegel und Heine für "tot" erklärt hat. Auch lateinisch und griechisch hat es vier Buchstaben, wohingegen bei Meister Eckhart unter Verzicht auf die Doppelung am Schluss nur deren 3, analog zum Englischen.