Wiedervorlage (3): Ernst Nolte zum Kriegsende

Zum Volkstrauertag unsere Wiedervorlage: einer der großen Texte, die Ernst Nolte für die Sezession beisteuerte: "Konsens oder Streit um den 8. Mai 1945?"

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

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Jahr­zehn­te­lang war für das Geden­ken an den Tag des Kriegs­en­des, den 8. Mai 1945, die Alter­na­ti­ve von „Kata­stro­phe“ oder „Befrei­ung“ grund­le­gend. Wer die letz­ten Kriegs­mo­na­te mit­er­lebt hat­te, in wel­cher Eigen­schaft auch immer, dem bestä­tig­ten in der Regel eige­ne Erfah­run­gen die Schre­ckens­mel­dun­gen, die an sein Ohr drangen:

die Berich­te und Gerüch­te über die Mas­sen­ver­ge­wal­ti­gun­gen zahl­lo­ser deut­scher Frau­en durch die Sol­da­ten der vor­drin­gen­den Sowjet­ar­mee, über die Rie­sen­strö­me von Flücht­lin­gen aus dem Osten, von denen nicht weni­ge – Grei­se, Frau­en und Kin­der – von vor­sto­ßen­den Pan­zern nie­der­ge­walzt wor­den waren, über die ent­setz­li­chen Luft­an­grif­fe der West­al­li­ier­ten gegen unver­tei­dig­te Städ­te Deutsch­lands mit ihren bewußt her­bei­ge­führ­ten Feu­er­stür­men, in denen Zehn­tau­sen­de noch umka­men, nach­dem sie sich aus den Kel­lern ihrer zer­stör­ten Häu­ser geret­tet hatten.

Daß es sich um eine „Befrei­ung“ han­deln könn­te, war für die meis­ten unvor­stell­bar – schon des­halb, weil die Sie­ger aus­drück­lich pro­kla­miert hat­ten, daß sie nicht als Befrei­er, son­dern als Erobe­rer nach Deutsch­land kämen.

Wer die Erfah­rungs­be­rich­te der Augen­zeu­gen zur Kennt­nis genom­men hat, der weiß, daß zahl­rei­chen Deut­schen kaum etwas von jenem erspart wor­den ist, was meist als spe­zi­fi­sche Eigen­tüm­lich­keit des natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Regimes und sei­ner Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger sowie sei­ner erbar­mungs­lo­sen Kriegs­füh­rung betrach­tet wird:

die Stig­ma­ti­sie­rung durch auf­fal­len­de Kenn­zei­chen, wochen­lan­ge Trans­por­te ohne zurei­chen­de Nah­rung in Depor­ta­ti­ons­zü­gen, Fol­te­run­gen zur Erzwin­gung von Geständ­nis­sen, phy­si­sche Aus­rot­tung gan­zer Grup­pen wie etwa des ost­elbi­schen Adels, künst­lich erzeug­te Hun­gers­nö­te, Zwangs­ar­beit bis zur völ­li­gen Erschöp­fung, ent­wür­di­gen­de Behand­lung durch hoch­mü­ti­ge „Her­ren­men­schen“. Nur zu der qua­si-indus­tri­el­len Mas­sen­tö­tung von Men­schen läßt sich kei­ne Ent­spre­chung fin­den, aber ohne Ent­spre­chung waren auf einer weni­ger wider­mensch­li­chen Ebe­ne auch die bar­ba­ri­schen Aus­schrei­tun­gen haßer­füll­ter Volks­mas­sen gegen­über Deut­schen als Deutschen.

Mit Tat­sa­chen wie die­sen wird der heu­te popu­lä­re Sim­plis­mus am leich­tes­ten fer­tig: es habe sich um gerecht­fer­tig­te „Ver­gel­tung“ gehan­delt, und die Deut­schen soll­ten nie ver­ges­sen, daß sie den Krieg ange­fan­gen hät­ten und des­sen Fol­gen nun tra­gen müß­ten. Unter einer ande­ren Per­spek­ti­ve ver­si­chern die­se Inter­pre­ten indes­sen mit Nach­druck und gewiß nicht ohne Recht, kein Ver­bre­chen kön­ne durch ein frü­he­res Ver­bre­chen gerecht­fer­tigt wer­den und das mora­li­sche Urteil über einen Tat­be­stand müs­se von his­to­ri­schen Erklä­run­gen und zumal von einem Wunsch nach „Auf­rech­nung“ unab­hän­gig sein.

Ich mei­ne, daß Apo­lo­gien und Ver­harm­lo­sun­gen die­ser Art nicht akzep­tiert wer­den kön­nen, weil ich es für eine unver­zicht­ba­re Auf­ga­be der Geschichts­wis­sen­schaft hal­te, weder das Tri­umph­ge­fühl und die Rach­sucht der Sie­ger noch die Demuts­ges­ten oder den Trotz der Besieg­ten zu über­neh­men, son­dern sogar in der schwie­rigs­ten Situa­ti­on jene Distanz zu erstre­ben, wel­che die ele­men­ta­re Vor­aus­set­zung der Wis­sen­schaft ist.

Allen­falls hät­te man das Gefühl des Auf­at­mens ob des Endes der Kriegs­hand­lun­gen eine Art von „Befrei­ung“ nen­nen kön­nen, aber die­ses Emp­fin­den herrsch­te ja auch unter den Sol­da­ten der alli­ier­ten Armeen in dem besetz­ten Deutsch­land vor, das hin­fort kei­ne eige­ne Regie­rung mehr besaß, son­dern von dem „Kon­troll­rat“ der vier ver­bün­de­ten Mäch­te regiert wur­de. Nur die Insas­sen der Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger und Zucht­häu­ser fühl­ten sich wirk­lich befreit, und es waren nur rela­tiv weni­ge Deut­sche, die inmit­ten der kata­stro­pha­len Ver­hält­nis­se das Emp­fin­den der poli­ti­schen Befrei­ung von einem tyran­ni­schen Regime hatten.

Zwar ver­such­ten spä­ter eini­ge deut­sche Poli­ti­ker und vor­nehm­lich der ers­te Prä­si­dent der „Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land“, Theo­dor Heuss, die bei­den Begrif­fe von „Kata­stro­phe“ und „Befrei­ung“ zusam­men­zu­brin­gen und über ein „Ent­we­der – Oder“ hin­weg­zu­kom­men, aber jeden­falls blieb die Fra­ge unbe­ant­wor­tet, was denn das für eine „Befrei­ung“ sei, die für acht­zehn Mil­lio­nen Lands­leu­te die Dau­er­ka­ta­stro­phe des zwei­ten tota­li­tä­ren Regimes gebracht habe, wel­ches die Unter­wor­fe­nen zwin­ge, sich mit der einen der Sie­ger­mäch­te zu iden­ti­fi­zie­ren und mit die­ser gemein­sam das Kriegs­en­de auf fei­er­li­che Wei­se zu zelebrieren.

Noch die berühm­te Rede des Bun­des­prä­si­den­ten Richard von Weiz­sä­cker am 8. Mai 1985 setz­te die­sen Vor­rang des „Katastrophen“-Begriffs still­schwei­gend vor­aus und woll­te ihm ent­ge­gen­wir­ken, indem sie eine inne­re Ver­bin­dung zwi­schen dem 8. Mai 1945 und dem 30. Janu­ar 1933 her­stell­te und damit den Deut­schen ein­dring­lich klar­zu­ma­chen ver­such­te, daß sie eine ent­schei­den­de Mit­ver­ant­wor­tung für die kata­stro­pha­le Nie­der­la­ge tra­gen müß­ten, weil sie, wenn­gleich nur mit knap­per Mehr­heit, das Ereig­nis der „Macht­er­grei­fung“ Hit­lers in frei­en Wah­len bestä­tigt hätten.

Heu­te darf und muß man die Fra­ge stel­len, ob die­se Rede, die damals so viel an Befrem­den, ja an Empö­rung zur Fol­ge hat­te, in der Gegen­wart als „poli­tisch unkor­rekt“ betrach­tet wer­den wür­de, da sie die Deut­schen „in Trau­er um die getö­te­ten Lands­leu­te“ dazu auf­rief, „aller Toten“ zu geden­ken, und mit nega­ti­vem Akzent von einer mög­li­chen Betei­li­gung an Sie­ges­fei­ern sprach. Aber die ande­re Sei­te die­ser Rede, wel­che „die sechs Mil­lio­nen getö­te­ten Juden“ als „bei­spiel­los“ beson­ders her­vor­hob und dem Hin­weis auf den „Sta­lin-Hit­ler-Pakt“ mit der The­se ent­ge­gen­trat, dadurch wer­de die „deut­sche Schuld“ nicht ver­rin­gert, denn die Initia­ti­ve sei von Deutsch­land aus­ge­gan­gen, war zwei­fel­los für den Red­ner die wich­ti­ge­re und für die Öffent­lich­keit die aufregendere.

Der Bun­des­prä­si­dent war gleich­wohl kein ein­sa­mer Rufer in der Wüs­te. Schon zu Beginn der sech­zi­ger Jah­re war in einem wis­sen­schaft­li­chen Werk an die Stel­le der bis dahin in der Dis­kus­si­on vor­herr­schen­den Fra­ge, wel­che Per­so­nen und Umstän­de Hit­ler an die Macht gebracht hät­ten und wel­che Per­so­nen und Orga­ni­sa­tio­nen im Krie­ge die Trä­ger des Wider­stan­des gegen Hit­ler gewe­sen sei­en, der Blick auf den inter­na­tio­na­len Kon­text einer „Epo­che des Faschis­mus“ gerich­tet und dem natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Ver­such einer „End­lö­sung der Juden­fra­ge“ eine fun­da­men­ta­le Bedeu­tung für die Inter­pre­ta­ti­on des Regimes zuge­schrie­ben worden.

Her­vor­ste­chen­de Grup­pen der jün­ge­ren Stu­den­ten­ge­nera­ti­on hat­ten Fra­gen und Auf­fas­sun­gen die­ser Art akzep­tiert, waren aber sehr rasch dar­über hin­aus­ge­gan­gen, indem sie sich den mar­xis­ti­schen Faschis­mus­theo­re­ti­kern der Wei­ma­rer Repu­blik zuwand­ten und sich den Mar­xis­mus ins­ge­samt so sehr zu eigen mach­ten, daß ihre Kri­tik am „Kapi­ta­lis­mus“ und an der „west­li­chen Kon­sum­ge­sell­schaft“ von der ent­spre­chen­den Kri­tik, die in der DDR geübt wur­de, kaum zu unter­schei­den war.

Noch wich­ti­ger war der Kreis der Sym­pa­thi­san­ten, den sie vor allem unter dem Zei­chen des ame­ri­ka­ni­schen Krie­ges in Viet­nam fan­den, und es gab in der Tat gute Grün­de für die Annah­me, nun end­lich sei auch in Deutsch­land die reprä­sen­ta­ti­ve Demo­kra­tie oder das „Libe­ra­le Sys­tem“ so fest eta­bliert, daß sein eigent­li­ches Wesen her­vor­tre­ten kön­ne: die Ermög­li­chung einer radi­ka­len Wech­sel- und Selbst­kri­tik, die zu neu­ar­ti­gen Syn­the­sen im Den­ken und Han­deln füh­ren müsse.

Aber Tei­le der Acht­und­sech­zi­ger-Gene­ra­ti­on über­nah­men den stär­ker her­vor­ge­ho­be­nen und auf­fal­len­de­ren Teil der Weiz­sä­cker-Rede mit einem sol­chen Abso­lut­heits­an­spruch und mit so gro­ßem Ein­fluß auf wei­te Berei­che der Gesell­schaft, daß heu­te Tat­be­stän­de und Vor­gän­ge wirk­lich gewor­den sind, wel­che die Allein­gül­tig­keit, ja die Allein­herr­schaft der „Befreiungs“-Konzeption in sich schlie­ßen und wel­che für Richard von Weiz­sä­cker im Jah­re 1985 höchst befremd­lich gewe­sen wären:

Der Begriff des „Täter­vol­kes“ hat sich in sei­ner expli­zi­ten und noch mehr in sei­ner impli­zi­ten Erschei­nungs­form so sehr eta­bliert, daß jede schar­fe Kri­tik dar­an lei­den­schaft­lich zurück­ge­wie­sen wird; in einer als „kon­ser­va­tiv“ gel­ten­den gro­ßen Par­tei wur­de die Fra­ge auf­ge­wor­fen, ob man am 8. Mai auch der Lei­den der Deut­schen geden­ken sol­le; dem Autor eines Buches, das die älte­ren Deut­schen ob ihres angeb­li­chen „eli­mi­na­to­ri­schen Anti­se­mi­tis­mus“ so gut wie aus­nahms­los unter Ankla­ge stellt, wur­de von wich­ti­gen Pres­se­or­ga­nen und sons­ti­gen Medi­en ein gera­de­zu tri­um­pha­ler Emp­fang berei­tet; die soge­nann­te Wehr­macht­aus­stel­lung mit ihrer höchst ein­sei­ti­gen Dar­stel­lung der Ereig­nis­se und ihren nicht ganz weni­gen fal­schen Zuord­nun­gen von Bild­do­ku­men­ten wur­de in eini­gen Städ­ten von höchs­ten Reprä­sen­tan­ten des Staa­tes will­kom­men gehei­ßen; soge­nann­te „anti­deut­sche“ Grup­pen stell­ten sich den Gedenk­fei­ern zur Zer­stö­rung Dres­dens in laut­star­kem Chor und mit der Auf­for­de­rung ent­ge­gen: „Bom­ber Har­ris, do it again!“

Dabei moch­te es sich zum Teil um extre­me und iso­lier­te Erschei­nungs­for­men han­deln, aber es ist schwer­lich ein Fehl­ur­teil, wenn gesagt wird, in nahe­zu allen Reden zum 8. Mai tre­te der Begriff der „Befrei­ung“ mit nicht gerin­ge­rer Ein­deu­tig­keit in den Vor­der­grund, als vor fünf­zig und vier­zig Jah­ren der Begriff der „Kata­stro­phe“ vor­herr­schend gewe­sen sei. Was zu Beginn der sech­zi­ger Jah­re als Min­der­heits­mei­nung einen iso­lier­ten Platz ein­ge­nom­men hat­te, schien sich nun zu einem macht­vol­len Kon­sens ent­wi­ckelt zu haben, mit dem die jün­ge­ren Deut­schen auch nach der „Wie­der­ver­ei­ni­gung“, die ihnen ohne Ver­dienst zuge­fal­len war, sich von ihren Vätern und Groß­vä­tern als von einer Gene­ra­ti­on trenn­ten, wel­che den Fort­schritt und die Demo­kra­tie durch mili­tä­ri­sche Über­fäl­le auf ande­re Staa­ten und durch Mas­sen­mor­de an gan­zen Völ­kern bekämpft habe.

Aber es gab trotz­dem eine merk­wür­di­ge „ande­re Sei­te“. Füh­ren­de Ver­tre­ter der bal­ti­schen Völ­ker des Ost­see­raums mach­ten dar­auf auf­merk­sam, daß sie – vor der Beset­zung durch deut­sche Trup­pen – im Jah­re 1939 / 40 zu Opfern einer bru­ta­len staat­li­chen Ver­ge­wal­ti­gung gewor­den waren, und in Riga konn­te man ein Muse­um besu­chen, das eine Fül­le von Zeug­nis­sen aus dem Leben der in gro­ßen Mas­sen ver­schlepp­ten Gefan­ge­nen des „Gulag“ und umfang­rei­che Gedenk­bü­cher mit den Namen von dort Ver­stor­be­nen oder Ver­miß­ten ent­hielt, oft die Namen gan­zer Familien.

Der pol­nisch-jüdi­sche Autor Ian T. Groß, des­sen Buch „Nach­barn“ über ein Pogrom von Polen gegen jüdi­sche Ein­woh­ner des Ortes Jed­w­ab­ne wäh­rend der ers­ten Wochen des deutsch-sowje­ti­schen Krie­ges viel Auf­se­hen erreg­te, hat­te nicht lan­ge zuvor in sei­nen Unter­su­chun­gen über die Ver­hält­nis­se im sowje­tisch besetz­ten Ost­po­len der Zeit von 1939 / 40 davon berich­tet, daß die von der Roten Armee befrei­ten Weiß­rus­sen Tau­sen­de ihrer pol­ni­schen Nach­barn umge­bracht hät­ten und daß die sowje­ti­sche Besat­zungs­po­li­tik in Ost­po­len „viel grau­sa­mer“ gewe­sen sei als die deut­sche im ehe­ma­li­gen Westpolen.

Und in Deutsch­land selbst erschie­nen nun erst­mals Bücher, die nicht mehr bloß für die begrenz­ten Krei­se der Ver­trie­be­nen, son­dern für die gro­ße Öffent­lich­keit die unbe­schreib­li­chen Lei­den und das mas­sen­haf­te Ster­ben von Deut­schen in den Wochen des Kriegs­en­des zum The­ma mach­ten, etwa die Dar­stel­lung des alli­ier­ten Luft­kriegs gegen die Zivil­be­völ­ke­rung durch den bis dahin durch­aus „ortho­do­xen“ Jour­na­lis­ten Jörg Fried­rich und die Schil­de­rung der Tor­pe­die­rung des mit Flücht­lin­gen über­füll­ten Damp­fers „Wil­helm Gustl­off“ durch den immer noch ganz „links“ ein­ge­stell­ten Nobel­preis­trä­ger Gün­ter Grass.

Weder das eine noch das ande­re Buch erhob eine expli­zi­te Ankla­ge, aber in der übri­gen Welt gab es unge­wohn­te Ankla­gen genug, so die Ankla­gen fast aller Mus­li­me gegen die Ame­ri­ka­ner und Israe­lis als „Nazis“ und die Ankla­gen des welt­be­rühm­ten Lin­gu­is­ten Noam Chom­sky gegen die ame­ri­ka­ni­sche Poli­tik in der drit­ten Welt, der Hun­dert­tau­sen­de, ja Mil­lio­nen von ver­hun­ger­ten Kin­dern zum Opfer gefal­len sei­en. Und dem His­to­ri­ker, wel­chem beim Stu­di­um der Akten eine Mit­tei­lung der Wehr­macht aus dem Jah­re 1942 in die Augen fiel, daß durch ein Atten­tat von Par­ti­sa­nen in Ser­bi­en fünf­zig deut­sche Poli­zei­an­ge­hö­ri­ge getö­tet wor­den sei­en, muß­te die Ana­lo­gie zur Gegen­wart unüber­seh­bar sein, auch wenn er weit davon ent­fernt war, den ame­ri­ka­ni­schen „Krieg gegen den Ter­ror“ mit dem deut­schen Ver­nich­tungs­kampf gegen die Par­ti­sa­nen gleich­zu­set­zen. Waren am Ende der Natio­nal­so­zia­lis­mus und Hit­ler doch bei wei­tem nicht so voll­stän­dig aus der Geschich­te ent­fernt, wie es die „Lite­ra­tur der Befrei­ung“ anzu­neh­men schien? Hat sich nicht inzwi­schen weit­ge­hend der „Anti­na­zis­mus“ zum Antiok­zi­den­ta­lis­mus fort­ge­bil­det? Aber es ist nun an der Zeit, zu den Begrif­fen „Kata­stro­phe“ und „Befrei­ung“ zwei Sät­ze zu sagen, in denen die berech­tig­ten Emo­tio­nen bei­der Sei­ten andeu­tungs­wei­se einen Platz fin­den sollen.

Wer ohne Ein­schrän­kung dem Begriff der „Kata­stro­phe“ den Vor­zug gibt, der recht­fer­tigt – gewollt oder unge­wollt – den Natio­nal­so­zia­lis­mus auch in des­sen ideo­lo­gi­schem Kern, und wie empö­rend das wäre, will ich nicht durch Zita­te aus „Mein Kampf“, son­dern durch die Anfüh­rung eines Sat­zes aus den Geheim­re­den deut­lich machen, die Hein­rich Himm­ler wäh­rend des Krie­ges hielt: „Hier im Osten liegt die Ent­schei­dung, hier muß der rus­si­sche Geg­ner, die­ses 200-Mil­lio­nen­volk der Rus­sen, mili­tä­risch und men­schen­mä­ßig ver­nich­tet und zum Aus­blu­ten gebracht wer­den“. Schlim­me­res, Absto­ßen­de­res ist trotz Ehren­burg und Mor­genthau in kei­nem Krie­ge je gesagt worden.

Wer sich ohne Ein­schrän­kung für den Begriff der „Befrei­ung“ ent­schei­det, der ver­sucht, sich auf die­sel­be Ebe­ne zu stel­len, auf der die ehe­ma­li­gen Insas­sen der Kon­zen­tra­ti­ons- und Ver­nich­tungs­la­ger ihre Stät­te haben: sei­ne Absicht, unter den Sie­gern Platz zu neh­men, ist geschichts­wid­rig, wenn nicht verächtlich.

Viel­leicht soll­ten die bei­den Begrif­fe zusam­men­ge­bracht wer­den, so daß von einer „Befrei­ung durch die Kata­stro­phe“ zu spre­chen wäre. Aber einer Prü­fung die­ses Vor­schla­ges müs­sen noch eini­ge Fest­stel­lun­gen und Refle­xio­nen vorhergehen.

Wenn der 8. Mai 1945 das The­ma ist, ist zunächst eine Vor­fra­ge unum­gäng­lich: Um was für eine Art von Krieg han­del­te es sich bei dem deut­schen bezie­hungs­wei­se deutsch-ita­lie­nisch-japa­ni­schen Teil des Zwei­ten Welt­krie­ges? Mit Sicher­heit stand weder die­ser Krieg im gan­zen noch auch sei­ne Vor­ge­schich­te unter der offen pro­kla­mier­ten Paro­le einer Aus­rot­tung der Rus­sen durch „Aus­blu­ten“ und einer „End­lö­sung der Juden­fra­ge“ durch Mas­sen­tö­tun­gen in Gaskammern.

Die ein­fachs­te aller Kenn­zeich­nun­gen ist die fol­gen­de: es habe sich wegen der gewal­ti­gen Dif­fe­renz der Res­sour­cen an Men­schen und Mate­ria­li­en zwi­schen Deutsch­land und den drei Welt­mäch­ten Groß­bri­tan­ni­en, Sowjet­uni­on und USA um einen von vorn­her­ein aus­sichts­lo­sen Krieg gehan­delt. Hit­ler muß dann ohne wei­te­re Unter­su­chung als Narr oder Ver­bre­cher gel­ten, der erstaun­li­cher­wei­se einen Schwarm von Ver­führ­ten hin­ter sich her­zog; mit­hin ging es in die­sem Krie­ge nicht wirk­lich um eine Sache oder meh­re­re Sachen, und von einer „welt­his­to­ri­schen Bedeu­tung“ kann kei­ne Rede sein.

Aber in die­sem Krie­ge steck­ten zwei­fel­los auch die Impul­se eines „Wei­ma­rer Krie­ges“, den so gut wie alle Poli­ti­ker der Wei­ma­rer Repu­blik bei güns­ti­ger Gele­gen­heit zwecks Wie­der­ge­win­nung der ver­lo­re­nen Gebie­te von West­preu­ßen und Posen hat­ten füh­ren wol­len. Die qua­li­ta­ti­ve Dif­fe­renz gegen­über Wei­mar trat jedoch bald in den Blick: durch den Sta­lin-Hit­ler-Pakt als ein Abkom­men über Tei­lung und Beherr­schung Polens nach Ana­lo­gie der Tei­lun­gen des 18. Jahrhunderts.

Ein wei­te­res Teil­mo­tiv war der „Wil­son-Krieg“ zwecks Rea­li­sie­rung des in Ver­sailles von den Sie­gern ver­wei­ger­ten Selbst­be­stim­mungs­rechts, also der Ver­ei­ni­gung mit Öster­reich und den deut­schen Sude­ten­ge­bie­ten, mit­hin der „Anti-Ver­sailles-Krieg“, der dem „Anti-Sèv­res-Krieg“ Kemal Paschas in der Tür­kei entsprach.

Seit der Beset­zung der „Rest-Tsche­chei“ im März 1939 war der Weg zu einem „Impe­ri­al­krieg“ frei, der nach der bes­ten sei­ner Mög­lich­kei­ten die Wie­der­her­stel­lung des „Deut­schen Bun­des“ bedeu­tet haben wür­de, aber von den „völ­kisch“ ori­en­tier­ten Anhän­gern Hit­lers miß­bil­ligt wurde.

In den Gedan­ken Hit­lers hat­te die­ser Impe­ri­al­krieg jedoch von Anfang an den Cha­rak­ter des Krie­ges um „Lebens­raum“, das heißt eines Raub­krie­ges, der eine weit­ge­hen­de Moder­ni­sie­rung der erober­ten Gebie­te aller­dings nicht aus­schloß und des­sen nächs­tes Ana­lo­gon der Krieg der USA gegen Mexi­ko von 1845 bis 1848 zwecks Aneig­nung von Texas, Neu-Mexi­ko und Kali­for­ni­en war. Aber wich­ti­ger war für Hit­ler der Ver­nich­tungs­krieg gegen den Bol­sche­wis­mus und das als des­sen Urhe­ber betrach­te­te Juden­tum mit dem ideo­lo­gi­schen Ziel der Hei­lung der Welt von einer natur­wid­ri­gen „Wur­zel des Bösen“. Pro­pa­gan­dis­tisch wur­de die­ser Krieg sehr her­vor­ge­ho­ben, aber sei­ne Rea­li­tät wur­de nach Mög­lich­keit ver­steckt, soweit sie nicht ein Teil des Anti-Par­ti­sa­nen­krie­ges in Ruß­land war.

Jeder ein­zel­ne der Aspek­te die­ses Krie­ges, mit Aus­nah­me des letz­ten, konn­te für gro­ße Men­gen von Sol­da­ten im Vor­der­grund ste­hen – vie­le Hun­dert­tau­sen­de moch­ten glau­ben, für ein von den Ver­sailler Fes­seln befrei­tes Deutsch­land zu kämp­fen, und ande­re Hun­dert­tau­sen­de moch­ten bereits ein unter deut­scher Füh­rung ver­ei­nig­tes Euro­pa vor Augen haben. Die „End­lö­sung der Juden­fra­ge“ war jedoch nicht so sehr ver­bor­gen, daß die Behaup­tung rich­tig sein könn­te, nur weni­ge hun­dert Men­schen sei­en in dem rie­si­gen arbeits­tei­li­gen Gan­zen wirk­lich dar­an betei­ligt gewe­sen. Ver­mut­lich darf man behaup­ten, daß eine Mehr­heit von Deut­schen 1941 dem Pos­tu­lat zuge­stimmt hät­te, das auch Hit­lers frü­hes­te For­de­rung gewe­sen war, näm­lich: die Juden – unter Ein­be­hal­tung oder Sozia­li­sie­rung ihrer angeb­lich „geraub­ten“ Ver­mö­gen – aus Euro­pa zu „ent­fer­nen“, das heißt zu vertreiben.

Aber es ist nicht rich­tig, daß die­ser Krieg in sei­ner monu­men­ta­len Ganz­heit von vorn­her­ein für Hit­ler ver­lo­ren war: nach einer kei­nes­wegs bloß in Deutsch­land ver­brei­te­ten Über­zeu­gung fehl­ten im Okto­ber 1941 nur vier­zehn kla­re Herbst­ta­ge, bis Mos­kau erobert gewe­sen wäre, und den Eng­län­dern starr­te noch im März 1943 nach eige­ner Aus­sa­ge „die Nie­der­la­ge ins Gesicht“, weil die rie­si­gen Schiffs­ver­lus­te an die Gren­ze des Trag­ba­ren gelangt waren. Es ist eine all­zu beque­me Ansicht, daß Hit­ler den Krieg nicht hät­te gewin­nen kön­nen.

Und nun ist das gan­ze Gewicht der Fra­ge evi­dent: in wel­chen über­grei­fen­den Zusam­men­hang die­ser gro­ße Krieg gestellt wer­den müß­te, in dem es um die bedeu­tends­te aller Sachen ging, näm­lich um die Zukunft der Mensch­heit im gan­zen, denn daß ein „Euro­pa Hit­lers“ und indi­rekt die Welt ein völ­lig ande­res Aus­se­hen gehabt hät­ten als das (Teil-) Euro­pa von Chur­chill und Roos­velt, unter­liegt nicht dem gerings­ten Zweifel.

Es ist ein Haupt­kenn­zei­chen der Reden zum 8. Mai 1945, daß sie, von mar­gi­na­len Bemer­kun­gen abge­se­hen, nicht hin­ter das Jahr 1933 zurück­ge­hen und daß nir­gend­wo die The­se auch nur ernst­haft erör­tert wird, grö­ße­re Wich­tig­keit als das Jahr 1933 habe das Jahr 1917 gehabt und fol­gen­rei­cher als die soge­nann­te Macht­er­grei­fung des Natio­nal­so­zia­lis­mus in Deutsch­land sei die genui­ne, näm­lich gewalt­sa­me Macht­er­grei­fung des Bol­sche­wis­mus in Ruß­land gewesen.

Man scheut sich, die­se Inter­pre­ta­ti­on auch nur in Erwä­gung zu zie­hen, weil die deut­schen Natio­nal­so­zia­lis­ten unab­läs­sig gegen den Bol­sche­wis­mus in Ruß­land und den Kom­mu­nis­mus in Deutsch­land pole­mi­sier­ten und man des­halb fürch­ten muß, in das Umfeld die­ser Pole­mik zu gera­ten und mög­li­cher­wei­se gar der Sym­pa­thie mit dem Natio­nal­so­zia­lis­mus gezie­hen zu wer­den. Wenn über­haupt vom Ver­hält­nis der bei­den Bewe­gun­gen und Regime gespro­chen wird, wird der Akzent ganz auf den Unter­schied und auf den angeb­lich rein instru­men­tel­len Cha­rak­ter der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Feind­schaft gelegt, wel­che die wah­ren Absich­ten macht­po­li­ti­scher Art nur habe ver­de­cken sol­len. Aber die Geschichts­wis­sen­schaft darf sich durch poli­ti­sche Ver­mu­tun­gen oder Atta­cken nicht von ihrem Ziel abbrin­gen las­sen, geschicht­li­che Phä­no­me­ne, zumal sol­che von welt­his­to­ri­scher Art, in einen erhel­len­den Zusam­men­hang zu stel­len und soweit ver­steh­bar zu machen, wie es ihr mit ihren Mit­teln mög­lich ist.

Die Macht­er­grei­fung des leni­nis­ti­schen Flü­gels der sozia­lis­ti­schen Bewe­gung Ruß­lands, die soge­nann­te „Okto­ber­re­vo­lu­ti­on“, muß­te ein welt­his­to­ri­sches Ereig­nis höchs­ten Ran­ges sein, wenn es ihren Vor­kämp­fern und Anhän­gern gelang, sich wäh­rend der über­aus schwie­ri­gen ers­ten Jah­re zu behaup­ten. Sie war ja ein Teil der sozia­lis­ti­schen Bewe­gung in Euro­pa, und die­se schien vor 1914 in unauf­halt­sa­mem Vor­drin­gen zu sein, da sie an das „Pro­le­ta­ri­at“, das heißt die wirk­li­che oder poten­ti­el­le Volks­mehr­heit, zu appel­lie­ren ver­moch­te, und ihre Wur­zeln reich­ten tief in die Geschich­te zurück, denn eine Prä­fi­gu­ra­ti­on des Sozia­lis­mus waren die meis­ten Bewe­gun­gen gewe­sen, die immer wie­der „die Armen“ zum Ent­schei­dungs­kampf gegen „die Rei­chen“ oder die „Gläu­bi­gen“ zum Streit mit den „Gott­lo­sen“ auf­ge­ru­fen hat­ten und den künf­ti­gen Zustand von Gerech­tig­keit und Gleich­heit, das „Reich Got­tes“, vorhersagten.

Die Sozia­lis­ten waren also kei­ne bloß poli­ti­sche Bewe­gung, son­dern sie ver­kör­per­ten die ältes­te aller „Uto­pien“, die Vor­stel­lung von der einen, in fami­li­en­haf­ter Ein­tracht und voll­stän­di­ger Gleich­heit der Indi­vi­du­en leben­den Mensch­heit. Fried­rich Engels hat­te kurz vor sei­nem Tode der deut­schen Sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Par­tei den Sieg für die Anfangs­jah­re des zwan­zigs­ten Jahr­hun­derts vor­her­ge­sagt, und Sir Edward Grey, nach deut­scher Mei­nung einer der ent­schie­dens­ten Kriegs­trei­ber, hat­te, als sein angeb­li­cher Krieg unmit­tel­bar bevor­stand, in tie­fer Ver­zweif­lung aus­ge­ru­fen, nach die­sem Krie­ge wür­den über­all sozia­lis­ti­sche Regie­run­gen gebil­det werden.

Zwar ver­hielt sich das sozia­lis­ti­sche Pro­le­ta­ri­at dann beim Kriegs­aus­bruch ganz anders, als erwar­tet wor­den war, und für die nächs­ten Jah­re wur­de die Ver­zweif­lung zur Grund­be­stim­mung von Lenin, Luxem­burg und den ande­ren „revo­lu­tio­nä­ren Sozia­lis­ten“, aber die gigan­ti­schen Blut­op­fer des Krie­ges und die Macht­er­grei­fung der Bol­sche­wi­ki änder­ten die Situa­ti­on auf fun­da­men­ta­le Wei­se. So erschie­nen die Bol­sche­wi­ki als die erfolg­rei­che Spit­ze der „gro­ßen Frie­dens­par­tei“ in Euro­pa und der Welt, und sie durf­ten auf Sym­pa­thien zäh­len, die weit über den Kreis der sozia­lis­ti­schen Par­tei­en hinausgriffen.

Nie zuvor hat­te es in der Welt so viel Enthu­si­as­mus und so gro­ße Hoff­nung auf das Ein­tre­ten eines völ­lig ande­ren Welt­zu­stan­des gege­ben wie in den Tagen die­ser Revo­lu­ti­on und dann in der Zeit nach dem Kriegs­en­de im Novem­ber 1918. Sowjet­ruß­land sei einer Rie­sen­glo­cke zu ver­glei­chen, die der gan­zen Welt das Heil ver­kün­de, sag­te der eng­li­sche Sozia­list Tom Mann auf einem der ers­ten Kon­gres­se der neu­ge­grün­de­ten Kom­mu­nis­ti­schen Inter­na­tio­na­le, und Gri­go­rij Sino­wjew sah Anfang 1919 nach der Eta­blie­rung der Räte­re­gie­run­gen in Ungarn und Bay­ern die Welt­re­vo­lu­ti­on in so raschem Fort­schrei­ten, daß er zuver­sicht­lich das Zusam­men­tre­ten der kom­mu­nis­ti­schen Abge­ord­ne­ten zum Sie­ges­kon­greß in Paris für das Früh­jahr 1920 erwar­te­te. Wenig spä­ter ließ sich Lenin von einem Par­tei­kon­greß bestä­ti­gen, daß die kom­mu­nis­ti­sche Bewe­gung der gan­zen bür­ger­li­chen Welt ein­schließ­lich der sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Par­tei­en den Krieg erklä­re, und er sag­te vor­aus, daß sei­ne Par­tei nach dem bal­di­gen Sieg der Welt­re­vo­lu­ti­on über­all Bedürf­nis­an­stal­ten aus Gold bau­en wer­de, um den Tri­umph über den eigent­li­chen Feind, den „Mam­mon“, die auf dem Pri­vat­ei­gen­tum beru­hen­de und Kon­flik­te sowie Krie­ge viel­fäl­ti­ger Art erzeu­gen­de Geld­herr­schaft anschau­lich zu machen. Nichts ist daher ver­fehl­ter, als der bol­sche­wis­ti­schen Revo­lu­ti­on „Grö­ße“ abzu­spre­chen, das heißt den erns­ten Wil­len, sich außer­or­dent­li­che Zie­le zu set­zen und letz­ten Endes sich von der Absicht lei­ten zu las­sen, die mensch­li­chen Ver­hält­nis­se im gan­zen, wel­che das Grau­en des Welt­krie­ges ver­ur­sacht hät­ten, grund­le­gend zu ändern und in die­sem Sin­ne eine „Welter­lö­sung“ herbeizuführen.

Aber die­ser höchs­te Auf­schwung eines auf den Sieg „des Guten“ aus­ge­rich­te­ten Idea­lis­mus war von Anfang an aufs engs­te mit höchst irdi­schen und mate­ri­el­len Vor­gän­gen ver­knüpft, näm­lich mit der rus­si­schen Volks­re­vo­lu­ti­on einer Frie­dens­sehn­sucht, die alle Ange­hö­ri­gen der „höhe­ren Schich­ten“ für kriegs­schul­dig erklär­te und häu­fig auf grau­sams­te Art zu Tode brach­te, etwa durch „Pfäh­lun­gen“ von Pries­tern oder durch Ver­bren­nung von Unter­neh­mern in den Feue­run­gen ihrer Betriebe.

Und die Sowjet­re­gie­rung such­te sol­chen Exzes­sen nicht Ein­halt zu gebie­ten, son­dern sie ver­schärf­te und sys­te­ma­ti­sier­te sie durch ihre Pro­pa­gan­da, und so wur­den Din­ge mög­lich, zu denen es nir­gend­wo, auch nicht im natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Deutsch­land, Ent­spre­chun­gen geben wür­de: ein Pope wur­de hin­ge­rich­tet, weil er eine Mes­se zum Geden­ken an den nebst sei­ner Fami­lie ermor­de­ten Zaren gehal­ten hat­te; eine frü­he Unter­stüt­ze­rin der bol­sche­wis­ti­schen Par­tei, Madame Popo­wa, muß­te als „Klas­sen­fein­din“ den Hun­ger­tod ster­ben; nach dem Atten­tat der Sozi­al­re­vo­lu­tio­nä­rin Fan­ni­ja Kaplan auf Lenin im August 1918 fan­den in vie­len Städ­ten Ruß­lands rie­si­ge Demons­tra­tio­nen statt, denen Trans­pa­ren­te mit Inschrif­ten wie der fol­gen­den vor­an­ge­tra­gen wur­den: „Für einen von uns müs­sen tau­send von euch sterben.“

Und die­se Exzes­se der Reak­ti­on auf die Schre­cken des Krie­ges durf­ten zugleich als Rea­li­sie­rung des mar­xis­ti­schen Kon­zepts der Klas­sen­ver­nich­tung gel­ten, frei­lich nur als unor­tho­do­xe Rea­li­sie­rung, da in Ruß­land die von Marx zur Bedin­gung gemach­te gesell­schaft­li­che Vor­aus­set­zung der vol­len Aus­bil­dung des „Kapi­ta­lis­mus“ nicht gege­ben war. Ein links­ge­rich­te­ter Kor­re­spon­dent der Frank­fur­ter Zei­tung beklag­te das „Gräß­li­che“, das in allen Städ­ten Ruß­lands vor sich gehe, näm­lich die Ver­nich­tung einer gan­zen Gesell­schafts­klas­se, der Klas­se der Gebil­de­ten oder der „Intel­li­genz.“ Wenn der Ter­mi­nus schon geläu­fig gewe­sen wäre, wür­de er ver­mut­lich gesagt haben, daß sich in Ruß­land der schlimms­te „Kul­tur­bruch“ voll­zo­gen habe, der über­haupt vor­stell­bar sei. Lenin aber sah die unver­meid­ba­re Fol­ge in posi­ti­vem Licht: das bür­ger­li­che Euro­pa ängs­ti­ge sich und zit­te­re in allen Fugen, schrieb er, als nach dem Sieg im Bür­ger­krieg die Rote Armee aus der Ver­tei­di­gung her­aus zum Angriff auf Polen ansetz­te, der dann erst durch das „Wun­der an der Weich­sel“ scheiterte.

So rie­fen die bol­sche­wis­ti­sche Revo­lu­ti­on und die Grün­dung eines Ideo­lo­gie­staa­tes, der sich das umfas­sends­te über­haupt mög­li­che Ziel gesetzt hat­te, eben­so­sehr uner­meß­li­chen Schre­cken wie tief­be­we­gen­de Begeis­te­rung her­vor, und ihr ers­tes Resul­tat, der ab 1923 kon­so­li­dier­te Sowjet­staat als uner­war­te­te Etap­pe auf dem Wege zu einem nach wie vor befeu­ern­den Ziel, der einen und ega­li­tä­ren Mensch­heit, erwies sich als ein in höchs­tem Maße zwie­schläch­ti­ges Phä­no­men: mar­xis­tisch und unmar­xis­tisch in einem; vol­ler Idea­lis­mus und, trotz­dem oder des­halb, nach einer Wen­dung Trotz­kis zu „grau­sams­ter Chir­ur­gie“ mit Blick auf die gesam­te Gesell­schaft bereit; nach sei­nem Selbst­ver­ständ­nis als Räte­sys­tem die voll­kom­mens­te Form der „Demo­kra­tie“ und doch nach einer Aus­sa­ge Lenins beherrscht von dem „Körn­chen“ der bol­sche­wis­ti­schen Par­tei, wel­che gewillt war, die gan­ze Gesell­schaft umzu­ge­stal­ten, das heißt jenen Bür­ger­krieg zu füh­ren, der spä­ter in den unfaß­ba­ren Greu­eln der „Kol­lek­ti­vie­rung der Land­wirt­schaft“ und der erbar­mungs­lo­sen Ver­nich­tung der „Kula­ken“ am klars­ten, aber kei­nes­wegs zum ersten­mal zum Vor­schein kam.

Eins konn­te indes­sen nie­mand in Abre­de stel­len, ob er nun den Enthu­si­as­mus und die Ziel­set­zung glo­ri­fi­zier­te oder den Schre­cken bis zur Panik stei­ger­te: daß es sich um ein prä­ze­denz­lo­ses und wahr­haft welt­his­to­ri­sches Phä­no­men handelte.

Daß die rest­li­che Welt auf die Her­aus­for­de­rung reagie­ren und kämp­fen muß­te, kann im Rück­blick nur von den­je­ni­gen geleug­net wer­den, deren ver­steck­te Par­tei­nah­me so aus­ge­prägt ist, daß sie die Kapi­tu­la­ti­on ange­sichts des nach Grö­ße und Res­sour­cen über­mäch­ti­gen Ideo­lo­gie­staa­tes wünsch­ten, doch dazu zähl­te nicht ein­mal die Mehr­heit der Sozia­lis­ten. Für den kämp­fen­den Wider­stand aber exis­tier­ten nur zwei ide­al­ty­pi­sche Möglichkeiten:

Man konn­te im Ver­trau­en auf die inne­re Kraft des eige­nen Sys­tems der reprä­sen­ta­ti­ven und plu­ra­lis­ti­schen Demo­kra­tie eine Poli­tik des Ent­ge­gen­kom­mens und des fle­xi­blen Nach­ge­bens betrei­ben, die zu einer Auf­wei­chung der star­ren Ideo­lo­gie des zum blo­ßen Geg­ner wer­den­den Fein­des und zu einem „kor­rum­pie­ren­den“ Ein­fluß auf des­sen not­lei­den­de, weil zu äußers­ten Rüs­tungs­an­stren­gun­gen getrie­be­ne Bevöl­ke­rung füh­ren wür­de – die­se Kon­zep­ti­on gelang­te bekannt­lich in den frü­hen neun­zi­ger Jah­ren des zwan­zigs­ten Jahr­hun­derts zum Erfolg, aber erst, nach­dem die Här­ten des „Kal­ten Krie­ges“ durch­ge­stan­den waren, der haupt­säch­lich von der am meis­ten bevor­zug­ten und reichs­ten aller Mäch­te geführt wor­den war, von den Ver­ei­nig­ten Staa­ten von Amerika.

Es war aber auch mög­lich und sogar nahe­lie­gend, dem Bol­sche­wis­mus einen eben­so mili­tan­ten „Anti­bol­sche­wis­mus von bol­sche­wis­ti­scher Ent­schlos­sen­heit“ ent­ge­gen­zu­set­zen, der also anti­re­vo­lu­tio­när war und doch unver­kenn­bar revo­lu­tio­nä­re Züge auf­wies, der nur den uni­ver­sa­len oder glo­ba­len Frie­dens­be­griff ablehn­te, aber im Inne­ren der Nati­on oder sogar einer „ras­sisch“ begrün­de­ten Kul­tur den nach mar­xis­ti­scher Auf­fas­sung zen­tra­len „Klas­sen­kampf“ oder „Klas­sen­krieg“ durch die Her­stel­lung einer sta­bi­len Volks- oder Kul­tur­ge­mein­schaft an ein Ende brin­gen woll­te und der einem kon­kre­ten Feind eben­so die Ver­nich­tung ansa­gen muß­te, wie die Bol­sche­wi­ki den „Bour­geois“ die Ver­nich­tung ange­sagt hatten.

Ihre Anhän­ger muß­te die­se Art des Anti­bol­sche­wis­mus und Anti­mar­xis­mus vor­nehm­lich unter all den­je­ni­gen fin­den, die aus­schließ­lich die Schre­cken des Bol­sche­wis­mus wahr­nah­men und jenen Grup­pen einer hoch­dif­fe­ren­zier­ten Gesell­schaft ange­hör­ten, wel­che von den Bol­sche­wi­ki in Ruß­land mit rela­tiv gerin­ger Mühe ver­nich­tet wur­den: der Aris­to­kra­tie, den Offi­zie­ren des Krie­ges, den Mit­tel­schich­ten oder dem „Klein­bür­ger­tum“, den immer noch zahl­rei­chen, aber nicht die Mas­se der Bevöl­ke­rung bil­den­den Bauern.

Hier liegt der ide­al­ty­pi­sche Ort Adolf Hit­lers und des Natio­nal­so­zia­lis­mus, und nur Unkennt­nis, Par­tei­lich­keit oder Vor­ein­ge­nom­men­heit kön­nen in Abre­de stel­len, daß die mili­tan­te Abwehr eines mili­tan­ten Angriffs in den Bereich des „Ver­steh­ba­ren“ gehört, wel­cher der eigent­li­che Bereich der Geschichts­wis­sen­schaft ist.

Kaum irgend­wo in der fast unüber­schau­ba­ren Lite­ra­tur wird die inne­re Bezo­gen­heit der jün­ge­ren auf die älte­re Bewe­gung the­ma­ti­siert, und ich wüß­te kaum mehr als einen Abschnitt in dem ver­dienst­vol­len und all­ge­mein aner­kann­ten Werk von Hel­mut Kraus­nick und Hans-Hein­rich Wil­helm über „Die Trup­pe des Welt­an­schau­ungs­krie­ges“ anzu­füh­ren, wo man fol­gen­des lesen kann: „Ob Hit­ler und sei­ne nächs­ten Bera­ter sich (1940 / 41) wirk­lich vor der Welt­re­vo­lu­ti­on gefürch­tet haben, ist eher frag­lich. Aber nicht nur sie trau­ten seit der Okto­ber­re­vo­lu­ti­on, der Kula­ken­ver­fol­gung, den Säu­be­run­gen von 1937 / 38 und den Erfah­run­gen auf inner- und außer­deut­schen Bür­ger­kriegs­schau­plät­zen den Bol­sche­wis­ten fast jede Grau­sam­keit zu. Den bes­ten Schutz gegen bol­sche­wis­ti­sche Grau­sam­keit hat­ten die Natio­nal­so­zia­lis­ten jedoch stets dar­in gese­hen, daß sie selbst frü­her und, wenn mög­lich, noch här­ter als ihre Geg­ner zuschlu­gen. Daß sie es auch bei dem, nach ihrer Mei­nung, vor­aus­sicht­lich ‚letz­ten Gefecht‘ mit der ‚Inter­na­tio­na­le‘ wie­der mit die­sem Rezept ver­su­chen wür­den, war zu erwarten.“

Es han­del­te sich indes­sen kei­nes­wegs nur um eine „deut­sche“ Reak­ti­on, und ver­mut­lich gab es kein Ereig­nis in der Nach­kriegs­zeit, das so weit in die Zukunft vor­aus­wies, wie der Über­gang des ehe­ma­li­gen Füh­rers der Ita­lie­ni­schen Sozia­lis­ti­schen Par­tei, Beni­to Mus­so­li­ni, zu der schon 1922 sieg­rei­chen Gegen­be­we­gung des Faschis­mus. Jeden­falls wur­de der Kampf zumal in Deutsch­land auf eine Wei­se geführt, die das genaue Gegen­teil eines wis­sen­schaft­li­chen Bemü­hens um „Ver­ste­hen“ war und für die etwa der fol­gen­de Satz kenn­zeich­nend ist: der Bol­sche­wis­mus sei „die gewal­tigs­te Orga­ni­sa­ti­on der Unter­welt, des Ver­rats, der Ver­schwö­rung im Weltmaßstab.“

Ich gehe nun über alle Geschichts­er­zäh­lun­gen hin­weg und wei­se ledig­lich dar­auf hin, daß der Strom des Natio­nal­so­zia­lis­mus – wie schon der­je­ni­ge des ita­lie­ni­schen Faschis­mus – vie­le Quel­len besaß und daß es sich um ein viel­schich­ti­ges und wider­spruch­rei­ches Phä­no­men handelte.

Die Fra­gen, die zum Abschluß ansatz­wei­se zu klä­ren sind, sind die folgenden:

(1) War der Natio­nal­so­zia­lis­mus in sei­nem eigent­li­chen und vor­nehm­lich von Hit­ler ver­kör­per­ten Kern tat­säch­lich in ers­ter Linie ein mili­tan­ter Antibolschewismus?
(2) War der Krieg, den Hit­ler seit dem 22. Juni 1941 gegen die bol­sche­wis­ti­sche Sowjet­uni­on führ­te, ein kon­se­quen­ter ideo­lo­gi­scher Krieg?
(3) Wie kam es, daß ein aus einer Reak­ti­on gegen sozia­le Ver­nich­tun­gen erwach­sen­des Regime sich am Ende einer Ver­nich­tung schul­dig mach­te, die mit Recht als „sin­gu­lär“, als Über­gang in eine ande­re und schlim­me­re Dimen­si­on gekenn­zeich­net wird?

Auf die ers­te Fra­ge läßt sich kei­ne Ant­wort fin­den, die im stren­gen Sin­ne „beweis­bar“ wäre. Daß ich die The­se beja­he, rührt nicht aus Spe­ku­la­tio­nen und Annah­men her, wie mei­ne Geg­ner mir unter­stel­len, son­dern aus einer inten­si­ven, in den Jah­ren vor 1963 vor­ge­nom­me­nen Lek­tü­re der frü­hen Arti­kel, Reden und Publi­ka­tio­nen Hit­lers, die mich aller­dings dazu führ­ten, den Begriff „Anti­mar­xis­mus“ dem­je­ni­gen des „Anti­bol­sche­wis­mus“ vor­zu­zie­hen, weil Hit­ler zu kei­nem Zeit­punkt ein blo­ßer Poli­ti­ker, son­dern ein Deu­ter der Welt­ge­schich­te sein wollte.

Auf die zwei­te Fra­ge ant­wor­te ich: die­ser Krieg war kein kon­se­quen­ter ideo­lo­gi­scher Krieg, denn dann hät­te er an den unter Polen, Bal­ten und Ukrai­nern weit­ver­brei­te­ten Anti­bol­sche­wis­mus anknüp­fen und auf glaub­wür­di­ge Wei­se zu einem „Befrei­ungs­krieg“ wer­den müs­sen. Aber der tri­via­le deut­sche Natio­na­lis­mus, dem Hit­ler immer ver­haf­tet blieb, ließ die­se Mög­lich­keit nicht zur Ent­fal­tung gelangen.
Zur drit­ten Fra­ge ist fol­gen­des zu bemerken:

Es gab eine Viel­falt des­sen, was der Natio­nal­so­zia­lis­mus zwecks „Säu­be­rung“ Euro­pas und viel­leicht der Welt von angeb­li­chen Krank­hei­ten und Krank­heits­kei­men ver­nich­ten woll­te: etwa die Erb­krank­hei­ten, die als Deka­denz gefaß­te moder­ne Mas­sen­zi­vi­li­sa­ti­on oder im Zuge der Fort­set­zung des „Volks­tums­kamp­fes“ des neun­zehn­ten Jahr­hun­derts die Selb­stän­dig­keit Polens. Aber der schärfs­te und ent­schie­dens­te Ver­nich­tungs­wil­le muss­te sich gegen den Bol­sche­wis­mus rich­ten, ganz wie der Bol­sche­wis­mus die Popen der Zaren­zeit und die Ima­me der isla­mi­schen Regio­nen der Sowjet­uni­on ver­nich­tet oder min­des­tens bekämpft hat­te und doch nie­mals ver­gaß, daß „der Kapi­ta­lis­mus“ oder „das Pri­vat­ei­gen­tum“ der Haupt­feind war. Für Hit­ler hät­te „der Kom­mu­nis­mus“ die­ser Haupt­feind sein kön­nen, und nicht weni­ge sei­ner Äuße­run­gen gehen in die­se Richtung.

Aber auch Deut­sche konn­ten Kom­mu­nis­ten sein, und die­se waren nicht auf den ers­ten Blick zu erken­nen, anders als die Kapi­ta­lis­ten, die nie­mand für Pro­le­ta­ri­er hal­ten konn­te. Er benö­tig­te daher einen anschau­ba­ren Haupt­feind, der als Urhe­ber des Bol­sche­wis­mus und zahl­rei­cher ande­rer Übel gel­ten konn­te. Die­ser anschau­ba­re Feind war in dem Begriff des „jüdi­schen Bol­sche­wis­mus“ ent­hal­ten, der kei­nes­wegs eine Erfin­dung Hit­lers war, son­dern ein in ganz Euro­pa nach dem Ende des Ers­ten Welt­krie­ges geläu­fi­ger Begriff. Wenn man als bekannt vor­aus­setzt, daß nicht nur die Män­ner der Ein­satz­grup­pen der SS, son­dern auch zahl­lo­se Ange­hö­ri­ge der Wehr­macht als einer durch den Par­ti­sa­nen­krieg sehr beun­ru­hig­ten und gefähr­de­ten Armee von der engen Ver­bin­dung zwi­schen Par­ti­sa­nen und Juden über­zeugt waren, ist nun zu einer „Defi­ni­ti­on“ der End­lö­sung – von „Ausch­witz“ – zu gelan­gen, die nicht über den Bereich des geschichts­wis­sen­schaft­lich Ver­steh­ba­ren hin­aus­geht: „die ‚End­lö­sung‘ war das bio­lo­gisch umge­präg­te, zugleich ver­eng­te und radi­ka­li­sier­te Gegen­stück zu der vom Bol­sche­wis­mus inten­dier­ten welt­wei­ten Ver­nich­tung des Bür­ger­tums, der Unter­neh­mer­wirt­schaft und der sou­ve­rä­nen Staaten.“

Aber der im Rah­men die­ses Krie­ges ver­steh­ba­re, wenn­gleich nicht mora­lisch gerecht­fer­tig­te Bereich wird über­schrit­ten und die gan­ze Wider­sprüch­lich­keit des Natio­nal­so­zia­lis­mus wird sicht­bar, wenn über Bel­zec und Treb­linka als Ver­nich­tungs­stät­ten des Ost­ju­den­tums hin­aus­ge­gan­gen und Ausch­witz als das Ver­nich­tungs­la­ger für die euro­päi­schen Juden ins Auge gefaßt wird, die doch ganz über­wie­gend „Bür­ger“ waren. Der Natio­nal­so­zia­lis­mus ist daher als radi­ka­le bür­ger­li­che Wider­stands­be­we­gung gegen den anti­bür­ger­li­chen, in moder­ne Ter­mi­ni gehüll­ten Uto­pis­mus der kom­mu­nis­ti­schen Bewe­gung unzu­rei­chend charakterisiert.

Aber bevor ich den letz­ten Schritt zu tun ver­su­che, darf ich nicht davor zurück­schre­cken, einen Punkt zu berüh­ren, der als ganz beson­ders „hei­kel“ gilt. Die For­mel vom „jüdi­schen Bol­sche­wis­mus“ ist zwar als ent­dif­fe­ren­zie­ren­de All­ge­mein­aus­sa­ge falsch, wie jede Aus­sa­ge die­ser Art falsch ist, aber wenn man sich an die Auf­fas­sun­gen wich­ti­ger jüdi­scher Den­ker hält, besaß sie gleich­wohl in der Rea­li­tät ein Stück des Richtigen.

Die frü­hes­te Aus­sa­ge, in der von „Schuld“ die Rede ist, um den star­ken Anteil von Juden – nicht von „den Juden“ – zu kenn­zeich­nen und zu bekla­gen, stammt von dem bedeu­ten­den His­to­ri­ker Simon Dub­now, und zwar aus dem Jah­re 1918. Nach dem Zwei­ten Welt­krieg schrieb der gro­ße israe­li­sche Geschichts­den­ker Jacob Tal­mon, den unter­drück­ten Juden des Zaren­rei­ches hät­ten „zwei mes­sia­ni­sche Feu­er“ geleuch­tet: die Vor­stel­lung von der Welt­re­vo­lu­ti­on, wel­che all­ge­mei­ne Gerech­tig­keit schaf­fen wer­de, sowie an zwei­ter Stel­le die Hoff­nung auf Rück­kehr in die uralte Hei­mat und die Schaf­fung eines eige­nen Gemein­we­sens oder auch Staa­tes in Paläs­ti­na. Er hat­te kei­ne Beden­ken zu sagen, in der Revo­lu­ti­ons­zeit sei­en die Juden in Ost­eu­ro­pa vor allem als Kom­mu­nis­ten und damit als Staats­fein­de betrach­tet wor­den und in jenen frü­hen Tagen sei der Ein­druck herr­schend gewe­sen, der Tri­umph des Bol­sche­wis­mus in Ruß­land sei durch die visio­nä­ren Qua­li­tä­ten, das Enga­ge­ment, das Orga­ni­sa­ti­ons­ta­lent und die tech­ni­sche Erfah­rung der Juden zustan­de gekommen.

Aber der Akzent ist posi­tiv, denn es ist für Tal­mon selbst­ver­ständ­lich, daß es für Juden unmög­lich ist, in einem Leben Sinn zu fin­den, das nur auf das Hier und Jetzt aus­ge­rich­tet sei und von dem mes­sia­ni­schen Bestre­ben nichts wis­se, ein „Licht für die Natio­nen“ zu sein. Und wer die Schrif­ten des ein­fluß­reichs­ten Vor­kämp­fers der zio­nis­ti­schen Sache, Cha­im Weiz­mann, kennt, der weiß, wie evi­dent es für ihn war, daß die Juden die erbit­terts­ten Fein­de Hit­lers gewe­sen sei­en, und zwar längst vor dem „Holo­caust.“

Es ist ein Haupt­merk­mal nicht bloß der deut­schen Geschichts­schrei­bung zum „Drit­ten Reich“, daß sie sich der Fest­stel­lung ver­wei­gert, Hit­ler habe schon in sei­ner frü­hen Zeit mäch­ti­ge Fein­de gehabt, und zwar vor­nehm­lich auf­grund sei­nes Anti­bol­sche­wis­mus und Anti­ju­da­is­mus. Des­halb blen­det man nach Mög­lich­keit alles aus, was den Lesern den ent­spre­chen­den Ein­druck ver­mit­teln könn­te. Man glaubt, auf die­se Wei­se die Juden zu schüt­zen und zu loben, aber in Wahr­heit setzt man sie auf ekla­tan­te Wei­se her­ab, indem man ihnen den Anspruch raubt, Mit­wir­ken­de und nicht aus­schließ­lich Opfer in den poli­tisch-ideo­lo­gi­schen Kämp­fen des zwan­zigs­ten Jahr­hun­derts gewe­sen zu sein. Nur so kann man ja Hit­lers „Anti­se­mi­tis­mus“ von sei­nem Anti­bol­sche­wis­mus tren­nen und den „Juden­mord“ zu einem selb­stän­di­gen The­ma machen. Nicht ganz sel­ten erklärt man das eine wie das ande­re für blo­ße Obses­sio­nen, so daß der Ein­druck auf­kommt, die­se Dar­stel­lun­gen gli­chen jenen „gerei­nig­ten“ Ver­sio­nen der fran­zö­si­schen Geschich­te, die wäh­rend des Anci­en régime für den jun­gen Thron­fol­ger ad usum del­phi­ni geschrie­ben wurden.

Nach einem Jahr­hun­dert, das eben­so blu­tig und schreck­lich wie welt­ge­schicht­lich ent­schei­dend war, soll­ten die Ver­tre­ter aller einst­mals kämp­fen­den Natio­nen und Kul­tu­ren auch zur Selbst­kri­tik und damit zu Aus­sa­gen bereit sein, die in den eige­nen Ohren hart klin­gen. Für deut­sche Natio­na­lis­ten, ja für natio­nal­be­wuß­te Deut­sche, mag die­se schwer zu voll­zie­hen­de Här­te bereits gege­ben sein, wenn fest­ge­stellt wird, daß Hit­ler von Anfang an einen fal­schen, geschichts­wid­ri­gen Weg ein­schlug, als er sich mit hoch­mü­ti­gen oder spöt­ti­schen Wor­ten und auch mit kon­kre­ten Taten gegen die Eman­zi­pa­ti­ons­be­we­gung der Kolo­ni­al­völ­ker, der Frau­en und der Schwar­zen wand­te, die sich heu­te in so über­ra­gen­dem, wenn­gleich von den über­flie­gen­den Hoff­nun­gen der Ver­gan­gen­heit abwei­chen­dem Maße durch­ge­setzt haben und als deren Prot­ago­nis­ten er Kom­mu­nis­ten und Juden eben­falls haß­te – durch Hit­ler voll­zog sich eben der letz­te und nun­mehr ideo­lo­gisch begrün­de­te Selbst­be­haup­tungs­kampf des sou­ve­rä­nen Krie­ger­staa­tes, der jahr­tau­sen­de­lang die zen­tra­le Rea­li­tät der Geschich­te und die Basis der „Kul­tur“ gewe­sen war.

Die Rus­sen müs­sen sich heu­te ein­ge­ste­hen, daß die Über­fül­le von Anstren­gun­gen und Opfern, die sie im Kampf für oder gegen den Kom­mu­nis­mus auf sich genom­men haben, ohne dau­er­haf­ten Ertrag geblie­ben ist und ideell in eine Trüm­mer­land­schaft geführt hat. Die Juden fin­den sich als zio­nis­ti­sche Ein­woh­ner des Staa­tes Isra­el mit den Aus­sa­gen eini­ger ihrer bedeu­tends­ten Den­ker kon­fron­tiert, daß der eins­ti­ge Uni­ver­sa­lis­mus sich in der Enge eines Natio­nal­staa­tes auf­lö­sen könn­te oder bereits auf­ge­löst hat. Nur die Bür­ger des von der Natur und der Geschich­te am meis­ten bevor­zug­ten Staa­tes, die Ame­ri­ka­ner, ste­hen als unbe­strit­te­ne Sie­ger da, aber selbst sie sehen sich in jüngs­ter Zeit von ernst­haf­ten Selbst­zwei­feln gequält.

Wel­che Aus­bli­cke auf die Zukunft einer fort­wäh­ren­den Aus­ein­an­der­set­zung zwi­schen Uni­ver­sa­lis­mus und Par­ti­ku­la­ris­mus, zwi­schen einer pri­mär kom­mer­zi­el­len „Glo­ba­li­sie­rung“ und den Indi­vi­dua­li­tä­ten von Staa­ten und Kul­tu­ren sich erge­ben, ist hier nicht zu erör­tern. Aus dem Rück­blick in die Ver­gan­gen­heit aber resul­tiert hin­sicht­lich der Inter­pre­ta­ti­on des Natio­nal­so­zia­lis­mus und des Zwei­ten Welt­krie­ges ein dop­pel­deu­ti­ger Tat­be­stand: eine star­ke Ten­denz unter den jün­ge­ren His­to­ri­kern geht dahin, die Geschich­te des Natio­nal­so­zia­lis­mus als eine Geschich­te von Ver­bre­chen zu schrei­ben, und zwar unter Aus­spa­rung des über­grei­fen­den Zusam­men­hangs des Kamp­fes der Ideo­lo­gien und jener „Erfol­ge“ sowie „Leis­tun­gen“ Hit­lers, von denen Sebas­ti­an Haff­ner gespro­chen hat, ja ohne die Unter­schei­dung zwi­schen ideo­lo­gisch begrün­de­ten Ver­bre­chen und simp­len Exzeß­ta­ten, die häu­fig vor­ka­men, die aber auch im Drit­ten Reich streng ver­bo­ten waren. Dar­aus kön­nen Fest­re­den zum 8. Mai 1945 her­vor­ge­hen, die gleich­wohl nicht sel­ten ein­drucks­voll und in der Dar­le­gung von Fak­ten rich­tig sind.

Aber es gibt auch die Mög­lich­keit, die Geschich­te des Natio­nal­so­zia­lis­mus als einen beson­ders aus­ge­präg­ten und den­noch sekun­dä­ren Teil der „tra­gi­schen Ver­keh­run­gen“ zu ver­ste­hen, die im zwan­zigs­ten Jahr­hun­dert so stark her­vor­tra­ten und viel­leicht noch immer nicht an ihr defi­ni­ti­ves Ende gelangt sind: die Ver­keh­rung des bol­sche­wis­ti­schen Enthu­si­as­mus für die eine und ega­li­tä­re Men­schen­welt in die enge und grau­sa­me Staat­lich­keit der Sowjet­uni­on und die Ver­keh­rung des ide­al­ty­pi­schen Wider­stan­des gegen eine über­schie­ßen­de und grob ver­ein­fa­chen­de Ideo­lo­gie in eine bloß ent­ge­gen­ge­setz­te und dann bis zu einer schlim­me­ren Ver­si­on von Gleich­ar­tig­keit gelan­gen­den Gegen-Ideo­lo­gie auf der Sei­te des Nationalsozialismus.

Ange­sichts einer Kom­pli­ziert­heit, die von den herr­schen­den Sim­plis­men so wenig erfaßt wird, liegt es nahe zu sagen, der sech­zigs­te Jah­res­tag des Kriegs­en­des müs­se von den­je­ni­gen Deut­schen, die nicht bereit sind, ohne Rest in der kom­mer­zi­el­len „Welt­zi­vi­li­sa­ti­on“ auf­zu­ge­hen, in ers­ter Linie als ein Tag der „natio­na­len Besin­nung“, des furcht­lo­sen und trotz der in der Öffent­lich­keit vor­wal­ten­den Ein­sei­tig­kei­ten auch selbst­kri­ti­schen Nach­den­kens began­gen werden.

Aber gera­de wenn die­ser Tag zugleich als ein Tag der „Befrei­ung“ aner­kannt wer­den muß, näm­lich der Befrei­ung aus dem ersti­cken­den Pan­zer eines Ideo­lo­gie­staa­tes, muß er um so mehr eben­falls als ein „Tag der natio­na­len Trau­er“ auf­ge­faßt wer­den, an dem der vie­len Mil­lio­nen umge­kom­me­ner Lands­leu­te, aber auch der­je­ni­gen Nicht­deut­schen gedacht wird, die von der herr­schen­den Mei­nung einem gro­ßen Ver­ges­sen über­ant­wor­tet wer­den. Der Streit des Den­kens um die­se Fra­gen ist in mei­nen Augen bes­ser und zukunfts­vol­ler als der Kon­sens eines beque­men und häu­fig nur all­zu oppor­tu­nis­ti­schen Dog­ma­tis­mus, der im letz­ten Jahr­zehnt so sehr in den Vor­der­grund getre­ten ist und der die Deut­schen ver­an­las­sen könn­te, sich nach einem bekann­ten Vor­bild zu den „Sie­gern der Geschich­te“ zu zählen.

– – –

pdf der Druck­fas­sung aus Sezes­si­on 10 / Juli 2005

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

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Kommentare (12)

quarz

14. November 2021 13:01

Mag sein, dass ich mir die Sache zu einfach mache, aber ich denke, dass die Sache im Grunde tatsächlich sehr einfach ist: Eine Befreiung kann nur im Einklang mit dem Befreiungswunsch der Betroffenen stattfinden. Eine Befreiung wider Willen ist ein begrifflicher Widerspruch in sich.

An diese Grundtatsache müssen alle Differenzierungen anknüpfen, denen man im erweiterten Kontext außerdem noch Rechnung tragen möchte. Auf wen und auf wie viele Menschen diese Prämisse zutrifft, das mag schwierig einzuschätzen sein, aber eliminieren kann man sie nicht, ohne in sachlich haltlose Korrektfühlrhetorik zu verfallen.

kikl

14. November 2021 15:36

Ich stimme zwar nicht mit allem überein, aber es ist ein großartiger Text, der versucht der Sache gerecht zu werden.

eike

14. November 2021 16:05

Die Logik ist nicht von der Hand zu weisen:
Jedes Volk muß die Konsequenzen tragen, wenn es einen Diktator als Staatschef hat. Lybien Ghaddafi, Syrien (immer noch) Assad und erst recht der 'weapons of mass destruction' hortende Irak, um nur ein paar zu nennen.

Und sie sollten alle den 'Great Generations' dankbar sein, die sie, unter Einsatz ihres Lebens von diesen Diktaturen befreit haben.

 

eike

14. November 2021 17:19

Alle diese Sekundär-Diskussionen sind sinnlos bis kontraproduktiv, solange die unbeschränkte historische Aufarbeitung des NS und beider Weltkriege nicht erlaubt ist.

Eiertänze wie
- Befreiung aus dem erstickenden Panzer eines Ideologiestaates
- eine bloß entgegengesetzte und dann bis zu einer schlimmeren Version von Gleichartigkeit gelangenden Gegen-Ideologie auf der Seite des Nationalsozialismus.

riechen mehr nach Anbiederung als nach historisch fundiertem Urteil.

Solange das Thema nicht offen - und 'offen' schließt die Freigabe von immer noch gesperrten Dokumenten ein - diskutiert werden kann, sollten Historiker sich, darauf hinweisend, weigern, hier aktiv zu werden.

 

Nitschewo

14. November 2021 18:55

“Hier im Osten liegt die Entscheidung, hier muß der russische Gegner, dieses 200-Millionenvolk der Russen, militärisch und menschenmäßig vernichtet und zum Ausbluten gebracht werden“. Schlimmeres, Abstoßenderes ist trotz Ehrenburg und Morgenthau in keinem Kriege je gesagt“. 
 

Steile These, Figuren wie Tamerlan würden Ihnen aus der Hölle widersprechen.  

zeitschnur

14. November 2021 21:08

Befreiung und Katastrophe sind in dem Zusammenhang vor allem anderen als moralische Begriffe konzipiert und daher für eine geschichtswissenschaftliche Betrachtung per se unbrauchbar.

Interessanter sind Fragen nach Ursachen und Folgen, nach komplexen Zusammenhängen. Wer welche Interessen verfolgte, wie sich die Interessen verschränkten, kollidierten und aufheben konnten. Genau letztere Fragen werden in vieler Hinsicht tabuisiert ... weil Verschwörungstheorie und so, und wenn es noch so gut zutage liegt, wir brauchen ein plumpes Geschichtsbild, das machtkompatibel ist für die, die gerade herrschen und die, die man beherrschen will ... Intrigen spinnen ja nur Zimmermädchen, je höher es hinaufgeht dominieren lauter Erzengel ...

Der 8. Mai 1945 ist in jeder Hinsicht ein Tag des Zusammenbruchs.

Mich beschäftigt zunehmend die Frage, was mit diesem lange angebahnten Zusammenbruch alles verloren ging, denn die Befreiung erleichterte uns immerhin langfristig um fast unsere ganze jahrhundertealte Kultur.

Volksdeutscher

14. November 2021 21:51

- "Hier im Osten liegt die Entscheidung, hier muß der russische Gegner, dieses 200-Millionenvolk der Russen, militärisch und menschenmäßig vernichtet und zum Ausbluten gebracht werden“."

Steile These, sagt @Nitschewo. Nach vier meiner unterdrückten Kommentaren stelle ich nur noch die eine einfache Frage, in der Hoffnung, daß Herr Kubitschek intellektuelle Redlichkeit gelten und walten läßt: Wo sind die Beweise für obige Aussage?

RMH

15. November 2021 06:41

Nach 16 Jahren liest sich der Text irgendwie unrund. Debatten der Vergangenheit, bei denen noch mit dem Grundverständnis argumentiert wurde, dass Demokratien westlicher Art in der Tat so etwas wie "Freiheit" mit sich brächten oder gar garantieren würden. Gerade letzteres wurde aktuell klar widerlegt. Natürlich war mit 45 der Terror des NS-Regimes, der sich von Anfang auch gegen die eigene Bevölkerung richtete und gerade unter den Kriegsbedingungen sich nochmals von Jahr zu Jahr quasi exponentiell verschärfte, erst einmal weg. Aber "Befreiung" war selbst unter dem Blickwinkel der Weizsäcker-Zeit von Anfang an ein zu pathetischer Begriff.

Es wechselte der Modus der Herrschaft. In der Zone der Westalliierten erlaubte man den Einwohnern ein bisschen mehr Individualität und Faxen, da dies einer Wirtschaftsentwicklung und der Gewähr der Stellung von Hilfstruppen förderlich war. Die sich an verschiedenen Stellen nach 1990 zeigenden Lackmus-Teste der Freiheit zeigten aber, das Deutschland 

a) als Staat nie wirklich frei war

b) stets gegenüber seinen Bürgern bestrebt war, Freiheit bei Punkten, bei denen es hart auf hart kam, im Zweifel nicht zu gewähren

c) danach strebt, sich in vielfältiger Weise in was auch immer aufzulösen.

Maiordomus

15. November 2021 09:46

@RMH ich schrieb nicht das Gegenteil von Ihnen über den langfädigen obigen Text, wenngleich mehr von einer nichtbundesrepublikanischen Aussensicht, wobei vielleicht mein Text nicht eingetroffen ist oder wegen eher pessimistischem Grundton nicht als adäquat empfunden wurde. Kann mit letzterem leben, in herkömmlichen Blogs werden meine Beiträge ehe sehr häufig unterdrückt, welchen Eindruck ich bei SiN grundsätzlich nie habe, selbst wenn sie mal was nicht gleich bringen. 

t.gygax

15. November 2021 10:17

@Nitschewo " steile These"

Georges Clemenceau ( französischer Politiker ) sagt nach dem 1. Weltkrieg " es gibt 20 Millionen Deutsche zuviel".

Aber er gehörte ja zu den "great generations", die uns von einer Diktatur befreit haben, also durfte er das sagen, und der Jubel der Massen war ihm sicher. Psalmende, Sela, Amen.  ( Denn laut offizieller Sichtweise war  das kaiserliche Deutschland genauso "schuld" an allem Übel in der Welt wie eine spätere Regierung....)

Da wollen wir alle nun fröhlich sein.

Ordo

15. November 2021 10:20

Die Niederlage war total und die Verinnerlichung der Niederlage auch. Ich glaube, dass die Deutschen hier die Erwartungen der Alliierten sogar noch übertroffen haben. Auf die Reeducation folgte die Self-Reeducation. Und was erstere nicht zu schaffen vermochte, vollbrachte letztere umso penibler. Deutsche sind eben gründlich.

Nun ist die historische Zerknirschtheit etwas, was heutzutage nicht nur Deutschland betrifft, sondern jede westliche Nation. Nicht mal die Amerikaner konnten sich allzu lange über ihren Sieg freuen und sind heute historisch-mental genauso am Boden wie wir. Inwieweit hier deutsch-amerikanische Wechselwirkungen vorliegen, wäre mal zu untersuchen. Die amerikanische Obsession der Schuld ist etwas anders gelagert, aber wenn man tief genug gräbt, findet man durchaus gemeinsame Wurzeln. Ich meine natürlich die Religion. Bezeichnend, dass die Japaner dafür bis heute unempfänglich sind. 

Gustav Grambauer

15. November 2021 10:30

@eike

"Solange das Thema nicht offen - und 'offen' schließt die Freigabe von immer noch gesperrten Dokumenten ein - diskutiert werden kann, sollten Historiker sich, darauf hinweisend, weigern, hier aktiv zu werden."

Das ist der Kern, nur: tätig werden sollten sie schon, jedoch würde ich ihnen zur Publikation die Gegenöffentlichkeit empfehlen.

Über die Anmerkung der gesperrten Archive hinaus wird hier auf die verwaltungsrechtliche Mechanik der Durchsetzung der Siegergeschichtsschreibung verwiesen, die aber in mehr oder weniger straffer Transmission auf Basis der Feindstaatenklauseln der UNO-Charta nicht nur in der BRiD sondern weltweit am Werk ist.

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