Denken
Christian Lehnert: Ins Innere hinaus. Von den Engeln und Mächten, Frankfurt am Main, Suhrkamp Verlag 2020, 235 Seiten, 22 Euro.
Christian Lehnert (nicht mit Erik Lehnert verwandt) vereint zwei unvereinbare Berufe in einer Person: er ist Theologieprofessor für Liturgiewissenschaft und er ist Dichter. Die zwei unvereinbaren Berufe ließen sich nur auf eine Weise zusammenbringen, die heutzutage nicht mehr üblich ist. Vorbilder (explizit) sind Angelus Silesius und Theodor Fechner (dessen Vergleichende Anatomie der Engel er in der Originalausgabe von 1825 zitiert – es gibt auch eine von 1980 im Karolinger Verlag) und implizit vom Schreibgestus her Gerd-Klaus Kaltenbrunners späte Bücher über Dionysius und Johannes.
Der Wissenschaftler in ihm lehrt Christian Lehnert die Vorsicht vor wilden Spekulationen, der Dichter in ihm lehrt ihn die klare Bildsprache. So umkreist, umzingelt, umzüngelt er “das Numinose”. Bei ihm kann man lesen: “Das Wesen der vielgescholtenen Esoterik ist die Spekulation am Rande der Wissensbestände und des Gedachten. (…) Als Verrücktheit gehört sie zum notwendigen Grundbestand menschlichen Denkens. Und wenn dieses wach ist und verantwortlich, sollte es mit Unvorhersehbarem rechnen – und so ist es angewiesen auf Abenteuer jenseits des Realen.” Man kann bei ihm auch lesen: “Wie haben einst die Engelslaute geklungen? Ein hohes Zirpen? (…) Könnte man diese Eindrücke transponieren, um Oktaven nach unten in den heute normalen Hörbereich?”
Daß ein Gegenwartsakademiker es schafft, zu einigen meiner Lieblingsdenker aufzuschließen, ist bemerkenswert. Vielleicht ist sein Geheimnis: er will nicht zu viel. Engel und Mächte muß man waltenlassen.
Lehnert: Ins Innere hinaus – hier bestellen.
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Schauen
David Marc Hoffmann et. al.: Rudolf Steiner. Eine Bildbiographie 1861–1925. Basel, Rudolf Steiner Verlag 2021, 495 Seiten, 88 Euro.
Nun bin ich seit einiger Zeit den Sezessionslesern durch unermüdliches Anthroposophieren aufgefallen, den einen freut das, den anderen ärgert’s. Um im wahrsten Sinne des Wortes einen Einblick in diese Gedankenwelt zu bekommen, sind weder Rudolf Steiners Autobiographie Mein Lebensgang noch seine immer wieder für Interessenten empfohlene Philosophie der Freiheit geeignet.
Ich erinnere mich an eine alte Nummer der Zeitschrift ZEIT Geschichte zur Jugendbewegung und Lebensreform in Deutschland um 1900. So linkslastig die damals schon war, so eindrucksvoll waren die Physiognomien, Illustrationen, Artefakte, Handschriften, Orte. Ich beschloß, im falschen Jahrhundert geboren zu sein.
Die fein säuberlich zusammengestellte gebundene Bildbiographie Steiners wirkt genausowenig suggestiv wie (was besonders beliebt ist bei aktuellen Darstellungen dieser Zeitepoche) desavouierend-vorausahnungsraunend. Das liegt nach meinem Eindruck daran, daß sie die Betrachter weder hineingeheimnissen will in eine Weltanschauung, noch von historisch-kritischen Steinerfeinden produziert worden ist. Da waren Leute an der Arbeit, die einen rätselhaften Mann in seiner Rätselhaftigkeit stehenlassen. Und um ihn herum die Bewunderer und Hasser, Nachahmer und Wegdrifter, Spiritualisten und Ökonomen, Sozialisten und Völkischen, Deutschen und Fremden.
“Wo Leben ist, da wirkt der unausgeglichene Gegensatz; und das Leben selbst ist die fortdauernde Überwindung, aber zugleich Neuschöpfung von Gegensätzen”.
Diese Sätze aus Rudolf Steiners Mein Lebensgang zieren den hinteren Buchdeckel – ein treffliches Motto. Den Band kann man hier bestellen.
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Lesen
Vladimir Volkoff: Die Handgranate. Wien, Karolinger Verlag 2021, 126 Seiten, 19 Euro.
Jean Raspails Freund und Weggefährte Vladimir Volkoff: Offizier im Guerillakrieg, gläubiger orthodoxer Christ, kämpferischer Antikommunist, Altsprachler, Philosoph, Bestsellerautor und überzeugter Aristokrat. Ganz neu ist in der Übersetzung von Konrad Markward Weiß seine Erzählung Die Handgranate im Karolinger Verlag in der Werkreihe KONTERGARDE erschienen. KONTERGARDE steht unter anderem für eine vorgeschobene Stellung, die die eigentliche Festung schützt. Nicht nur die altehrwürdige Leserschaft des Verlags darf sich auf weitere Neuübersetzungen und Neuherausgaben in dieser Reihe freuen – es wird weitergehen mit solcherlei prägnanten und unzeitgeistigen Trouvaillen.
Worum geht es? Durch den Algerienkrieg geht eine Granate von Hand zu Hand. Müde Europäer, islamistisch-terroristische Rebellen, „Ortskräfte“, „westliche Werte“: Die vielschichtigen Figuren und aufgeworfenen Fragen führen geradewegs in unsere Tage. “Der Wehrpflichtige, dem du die Gedärme zerfetzen wirst, werde vielleicht ich sein, meine Hübsche. Nun, ich werde mich nicht beklagen. Man muß die Henker töten, aber auch ihre Komplizen, selbst die widerwilligen; und mögen die Splitter deiner Schale mich auch umbringen, mein kleines Todesei: Du wirst einer guten Sache dienen.”
Volkoffs Stil ist brillant, nie kann sich der Leser sicher sein, ob Ironie im Spiel ist oder schonungslos Wirklichkeit geschildert wird. Zartbesaitete wie ich schlagen vielleicht beim ersten Durchgang das knallrot und griffig gebundene Büchlein wie nach einem Tiefschlag zu – Lesen kann brutal sein. Doch der zweite Griff zur Handgranate bleibt nicht aus, vielleicht nennen deshalb Rezensenten manche Bücher “fesselnd”? Dann kommt nämlich erst das eigentliche Leseerlebnis, wenn man die Sprache und die Einzelszenen auf sich wirken lassen kann.
Lesebefehl! Hier bestellen.
(Und die rundum erneuerte Netzpräsenz des Karolinger Verlags finden Sie hier.)
Maiordomus
@ "Und mögen die Splitter deiner Schale mich auch umbringen, mein kleines Todesei: Du wirst einer guten Sache dienen." Und noch das Vorangehende. Der Text entspricht ziemlich genau dem, was Hermann Lübbe am Beispiel von Brechts Stück "Die Massnahme" als den "terroristischen Imperativ" definierte. "Helft mir, Genossen!", fleht der mit seiner eigenen Stimme einstimmig zum Tode Verurteilte Verräter-Dissident bei der Aufforderung, das Todesturteil gegen ihn zu vollziehen. Im Gedanken der allgemeinen terroristischen Weltbefreiungssolidarität ist das Opfer, welches gar nicht persönlich gemeint ist, inbegriffen. Vgl. H. Lübbe: "Freiheit und Terror" - u.a. publiziert im Reclambändchen des Autors, er wird in Monatsfrist 95, "Praxis der Philosophie". Dort ist die hier schon mal in ihrer Authentizität umstrittene Posener Rede v. Himmler zitiert, betr. das Anständigbleiben auch angesichts von tausenden von Toten, die man bei einem angeblich notwendigen Werk "gesehen" hat. Himmler selber, der Hochsensible, soll sich als Zeuge einer solchen Massenhinrichtung mal übergeben haben. Das würde zu einem Tugendterroristen, siehe Robespierre, durchaus passen.