Die kommende Führung steht vor zahlreichen strategischen Herausforderungen.
Vor einigen Tagen habe ich bereits auf dem Feldzug Blog erste Analysen zum anstehenden Bundesparteitag der AfD am 11. Dezember in Wiesbaden vorgenommen.
In diesem Artikel skizzierte ich die wichtigsten strategischen Herausforderungen der nächsten Jahre und spekulierte, wie eine mögliche personelle Zusammensetzung des kommenden Bundesvorstandes aussehen sollte, damit er sich den neuen Aufgaben kompetent widmen könnte.
Die Stimmung in der Partei ist aktuell bedrückend. Jedenfalls ist von Euphorie und Aufbruch wenig zu spüren. Alle Landtagswahlen und auch die Bundestagswahl endeten in diesem Jahr mit teils deutlichen Stimmenverlusten. Die Lagerkämpfe zermürben Mitglieder und Funktionäre. Auch die Feindseligkeit des politmedialen Blocks hat in den letzten Jahren nochmals an Qualität und Intensität zugenommen.
Einzelne Bundestagsabgeordnete berichteten von einem nochmals kälteren Klima der Ablehnung und Ausgrenzung mit dem Beginn der neuen Legislaturperiode. Diese erhärteten Fronten lösen zwei unterschiedliche Reaktionen bei den Mitgliedern aus: Die einen erhoffen sich durch Anpassungskurse und dem Abschwächen allzu „radikaler“ (gemeint ist: grundsätzlicher) Positionen breitere Akzeptanz, während die anderen Gegnerzuschreibungen annehmen und bisweilen genau das Abbild darstellen wollen, was ihnen unterstellt wird.
Vor kurzem löste der Bundesvorstand der AfD die „Arbeitsgruppe Verfassungsschutz“ mit der Begründung auf, daß sich die Partei in der kommenden juristischen Auseinandersetzung mit dem Verfassungsschutz im Frühjahr 2022 gut gerüstet sieht. Die juristischen Schriftsätze sind zwar nicht bekannt, doch die Chancen, eine Beobachtung für die Gesamtpartei abzuwenden, werden von vielen innerparteilich eher als schlecht eingeschätzt.
Die Beobachtungen einzelner Landesverbände, des politischen Vorfelds und der Jugendorganisation bleiben ohnehin bestehen und so mag man zwar zweckoptimistisch auf das kommende Hauptsacheverfahren blicken, aber sollte sich auch nicht allzu viele Illusionen machen, daß ein Gericht den politischen Willen des Verfassungsschutzes doch noch exekutieren wird.
Der Riß zum Establishment wird sich also in den kommenden noch weiter vergrößern – unabhängig von der Selbstpositionierung der AfD. Mit dieser Lagebedingung wird man arbeiten müssen und hat die Möglichkeit, Solidaritätsnetze aufzuspannen und gleichzeitig das oppositionelle Profil gegenüber den zeitgeistigen Entrückungen zu schärfen.
Visionärer Mut
Was es in den vielen Gefechten, die die Partei führt, vor allem braucht, ist eine Repolitisierung des Kampfes. Es mag dem klassischen Konservativen in seinem habituellen Denken schwer fallen zu erkennen, daß die institutionellen Strukturen dieses Staates keineswegs mehr neutrale Räume sind. Sie sind hochpolitisch und durchideologisiert. Es gibt keinen Schiedsrichter mehr im Meinungskampf um die gesellschaftliche Hegemonie.
Diese Erkenntnis sollte sich schließlich auch in der inhaltlich-programmatischen Justierung der AfD niederschlagen, die derweil ihr Wirken und Wollen lediglich in der Ablehnung des Status Quo legitimiert. Zusätzlich bräuchte es jedoch Legitimationsmaßstäbe, die den eigenen ethischen Kompass und das politische Selbstverständnis aus sich selbst heraus rechtfertigen.
Hier benötigt der Bundesvorstand visionäre Köpfe, die mehr inhaltliche Inspiration bringen als nur gegen den Gender-Irrsinn, gegen die EU und gegen Massenmigration zu sein. Es geht dabei nicht um ein intellektuelles Manifest, sondern um die Skizze einer rechten Lebenswelt, die auch ein Signal des Zusammenhalts an die eigene Basis sendet und Orientierung schafft.
Der künftige Bundesvorstand wird nach der ernüchternden Bundestagswahl vor der Herausforderung stehen, Visionen und Perspektiven zu schaffen, die sich nicht nur in kurzfristigen Mobilisierungseffekten erschöpfen. 2015–2018 war dies der Katalysator der AfD. Jetzt muss die Erkenntnis folgen, daß der Weg echter alternativer Politik für Deutschland neue Bindemittel und Stabilisierungskräfte benötigt, die die AfD im Inneren zusammenhalten.
Für manch einen mag der aktuelle Weg der AfD den zwangsläufigen Gesetzen der Parteiensoziologie hin zur Oligarchisierung und Selbstbeschäftigung folgen. Zugleich gibt es jedoch auch eine junge theoriehungrige und motivierte Generation an Jungpolitikern aus der Schmiede der Jungen Alternative.
Es gibt Akteure und Funktionäre, die sich fernab ideologischer Versteifungen und Lagerkämpfe bewegen und verstanden haben, daß die AfD mehr ist als nur der Lückenfüller einer einstigen »konservativeren Union«. Es sind Persönlichkeiten in der Partei, die jetzt noch nicht in der ersten Reihe stehen, aber die politisch-instinktiv die historische Bedeutung dieses Parteiprojekts in der BRD erkannt haben.
Wege zu politischer Gestaltungsmacht
Der Ziehvater der AfD, Alexander Gauland, sprach kürzlich in einem Interview mit dem RND von möglichen Koalitionen mit der CDU. Die Strategie der AfD müsse es sein, die aktuelle Schwäche der Union zu nutzen und Spaltpilze in die CDU zu treiben, wodurch sich auch in der CDU möglicherweise mehr Stimmen erheben, die dafür plädieren die Verweigerungshaltung gegenüber der AfD aufgeben.
Was klar ist und worüber sich auch manche Träumer einer 51%-AfD im Klaren sein sollten: Natürlich hat die AfD nur eine Chance auf politische Gestaltungsmacht im Verbund mit der Union. Es fehlt jedoch an Phantasie, wie eine derartige Konstellation aussehen würde und vor allem welche Bedingungen hierfür gelten müßten.
Welche Positionen wären gegenüber möglichen Koalitionspartnern unverhandelbar? Wo bieten sich Kompromißspielräume? Und welchen personellen als auch inhaltlichen Schwenk müsste die CDU eigentlich vollziehen? Reicht schon ein Friedrich Merz als mit hoher Wahrscheinlichkeit künftiger Parteivorsitzender?
Wir alle wissen, daß derartige Überlegungen in der aktuellen Lage als abstrakte Gedankenspiele gelten müssen, zumindest auf Bundesebene. Im Osten wird die Sache jedoch schon konkreter. Sollte sich 2024 in Sachsen bei der Landtagswahl ein ähnliches Ergebnis wie bei der Bundestagswahl 2021 zeigen, so dürfte es der CDU einiges an Kopfzerbrechen bereiten, wie sie dann noch stabile Regierungsmehrheiten ohne AfD-Einbindung bilden soll. Es mag dann eventuell eine Vierparteienkoalition geben, aber ob dies dann auch noch die CDU-Basis langfristig mittragen wird, bleibt fraglich.
Strukturplan Ost
Die Stärke der AfD im Osten wird in der Partei ambivalent bewertet. Für die einen verhindern die Ostverbände durch ihre Radikalität die größeren Stimmenzuwächse im Westen, die demoskopisch bei Bundestagswahlen die bedeutendere Rolle spielen. Für die anderen stellen die Ostverbände die Blaupause für eine echte alternative Politik im Westen dar.
Man muß den Osten gar nicht aufgrund seines unterschiedlichen Zugangs zu völlig anderen Wählerzielgruppen bewerten. Es geht nicht einmal vordergründig um den Habitus eines anderen Politikertypus, den ein Björn Höcke oder ein Christoph Berndt verkörpern. Vielmehr dürfte der Osten für die AfD bereits ein struktureller Baustein geworden sein, auf dem viele weitere strategische Leit- und Zukunftsfragen für die AfD aufbauen.
Möglicherweise dürfte der Osten auch mittelfristig der Schlüssel zur Eröffnung weiterer politischer Einfluß- und Gestaltungsoptionen der AfD sein. Die Ostverbände sind bereits jetzt politische Labore und Testregionen geworden, in denen die AfD als etablierter Akteur völlig andere Handlungsspielräume als im Westen hat. Das Beispiel Thüringen hat gezeigt, wie man realpolitische Optionen ausreizen und damit die politische Konkurrenz entstellen kann.
Die AfD muß also als kommende Herausforderung einen Strukturplan Ost entwickeln. Dieser baut auf der klaren Zielsetzung auf, den Osten als strategischen Türöffner und Rammbock für die Erweiterung neuer politischer Einflußsphären auf Bundesebene zu sehen. Das bedeutet, daß die Gesamtpartei in den kommenden Jahren ein besonderes Augenmerk auf den infrastrukturellen Ausbau und die Graswurzelarbeit in Ostdeutschland legen sollte und sich finanzielle und personelle Ressourcen auch in entsprechenden Schwerpunktregionen konzentrieren müssen.
In manchen Gebieten Ostdeutschlands kann die AfD schon jetzt um die 30 bis 35% der Stimmen holen, aber dieses enorme Wählerpotential ist bislang kaum in beständige und robuste Strukturen eingebunden. In vielen Peripherie-Regionen existieren zwar flächendeckende Kreisverbandsstrukturen, aber nur selten Regionalgruppen, die auch ortsnahe politische Angebote schaffen könnten. Es fehlt an Kampagnenplattformen, Bürgernetzwerken, Beratungsangeboten, Lokalzeitungen und Anlaufstellen.
Die AfD in Sachsen und anderen Ostverbänden wird innerhalb der nächsten 2–3 Jahre die ersten Landräte und Bürgermeister stellen. Sie wird in Kommunal- als auch Landesparlamenten die stärkste Kraft stellen und kann aus dieser Position heraus die anderen Parteien vor sich hertreiben und echte Akzente setzen.
Hier geht es nicht um zwei, drei Prozente mehr im Westen, sondern darum, die eigenen Stärken auszuspielen und strukturell festzubeißen, um auf Basis dieser langfristigen Geländegewinne schließlich auch im Westen der Republik eine patriotisch-rechtskonservative Normalisierung voranzutreiben. 30 bis 35% in Sachsen mögen aufgerechnet auf ein Bundestagswahlergebnis marginal sein. Die gesamtpolitische Signalwirkung nach einer Landtagswahl wäre jedoch um einiges kraftvoller.
Ob der kommende Bundesvorstand den Mut aufbringt, eine derartige Strategie-Ost zu entwickeln und gleichzeitig in eine mobilisierende Erzählung an die Mitglieder zu verpacken, bleibt abzuwarten. Vor dem Hintergrund von vier anstehenden Landtagswahlen im Westen 2022 mögen kurzfristig andere Prioritäten in den Fokus der Partei rücken. Doch die Strategie-Ost soll keineswegs die Westverbände marginalisieren, sondern in eine systemische Langzeitstrategie eingebettet sein, die am Ende der Gesamtpartei dienen soll.
Die Strategie Ost muß in fünf Einheiten gegliedert sein:
1. Kommunalpolitische Kompetenzprofilierung
Ausbau und Verstärkung kommunalpolitischer Schulungsinstitutionen und Denkfabriken, die Funktionäre zu konkreter politisch-administrativer Verwaltung befähigen.
2. Graswurzelarbeit vor Ort
Strukturausbau in der Fläche – spezifische und zielgerichtete Mitgliederkampagnen in Peripherieräumen und Installation eines politischen »Talentscoutings« für die örtliche patriotische Jugendarbeit.
3. Spezifisch geographische Zielgruppenanalyse
Datenbasierte Analysen und qualitative Umfrageforschung in den Schwerpunktregionen der AfD. Wählerpotentiale evaluieren und einordnen.
4. Lokale Kampagnenplattformen
Niederschwellige Partizipationsstrukturen aufbauen und einen Organisationsschirm für Proteste und Bürgerinitiativen aufspannen.
5. Regionale eigene Gegenöffentlichkeit
Was auf Bundesebene aufgrund der beschränkten Ressourcen für einen rechten TV-Sender oder eine patriotische Tageszeitung kaum umsetzbar ist, könnte als experimentelle Versuchsanordnung jedoch in bestimmten starken Regionen der AfD aufgebaut werden.
Landtagswahlen 2022
In einer Umfrage zur Landtagswahl 2022 in Nordrhein-Westfalen kommt die AfD gerade einmal auf knappe 5%. In Schleswig-Holstein würde die Partei sogar den Wiedereinzug verpassen. In Niedersachsen ist sie auf 7% festgenagelt. Keine Aussichten, die besonders viel Zuversicht und Optimismus bei den Wahlkämpfern verbreiten könnten.
Zugleich zeigen die Zahlen wie auch schon bei der Bundestagswahl, daß die Partei auf eine feste Wählerbasis zurückgreifen kann und demnach kein reines Image- sondern ein Mobilisierungsproblem hat. Ihr fehlen Themen, ein Agenda-Setting und eine Parteiführung, die auf den Rückhalt aller Lager vertrauen kann. Der aktuell mangelnde Instinkt, ein politisches Momentum zu nutzen, zeigte sich jetzt in der Migrationskrise an der weißrussisch-polnischen Grenze oder auch in der Ortskräftedebatte im August dieses Jahres.
Der Landesverband Brandenburg bspw. bemühte sich redlich, im Grenzgebiet Präsenz zu zeigen. Mecklenburg-Vorpommern hingegen als zweiter Landesverband mit direktem Zugang zur polnischen Grenze blieb jedoch recht stumm und inaktiv. Weshalb?
Ansonsten waren Abgeordnete und Funktionäre auf sich allein gestellt und jeder betrat das politische Kampffeld mit seinen eigenen Social-Media-Grafiken und Pressemitteilungen, obwohl der Bundesvorstand hier die Möglichkeit gehabt hätte, einen heißen Spätherbst auszurufen und Demonstrationen und Kundgebungen zu organisieren, Infomaterial zur Verfügung zu stellen, Bürgerproteste zu unterstützen und die Geschehnisse medial professionell zu dokumentieren.
Für die Wahlkämpfe 2022 gilt es hier, politische Gelegenheiten zu erkennen und flexibel an die Kampagnen anzupassen.
Fazit:
Der Zusammenhalt der AfD wird für den kommenden Bundesvorstand ein Balanceakt werden. Nicht nur in Bezug auf den Ausgleich der unterschiedlichen Lager, sondern auch im Hinblick auf die Kommunikation einer mutigen und offensiven Vision davon, welche Rolle die AfD im kommenden Jahrzehnt spielen soll.
Die Partei ist sich einig, wo sie hin will. Ihre Kernthemen manifestieren sich immer wieder in konkreten politischen Ereignissen und Zeitperioden. Alice Weidel sagte am Wahlabend des 26. Septembers sinngemäß: „Die AfD ist gekommen, um zu bleiben“.
Die nächste transformative Herausforderung liegt nun darin, aus dem „bleiben“ ein „werden“ zu machen. Und zwar: „Die AfD ist gekommen, um Volkspartei zu werden“. Jetzt gilt es, dafür das Fundament zu legen und die Protesterzählung um einen echten Gestaltungswillen zu ergänzen.
Kriemhild
Dies ist seit Jahren der erste Artikel auf SiN, den ich ganz bewusst nicht lesen werde. Für mich aus meiner ganz persönlichen Empfindung heraus kann ich nur feststellen, dass ich jegliche Hoffnung und Erwartung verloren habe, dass innerhalb des Parteienstaates und des Parlamentarismus in seiner aktuellen Form eine Wende zum Besseren erreicht werden kann. Was wir m.E. brauchen, ist ein gänzlich neues Wahlsystem, in dem nicht mehr Parteien, Funktionäre und Listen, sondern Personen und Persönlichkeiten zur Wahl stehen. Gleichwohl ich bin sicher, dass der Artikel von Herrn Fuß wie immer sehr klug und wohlbedacht sein wird.