Lesen
Wenedikt Jerofejew: Die Reise nach Petuschki. Ein Poem, aus dem Russischen von Natascha Spitz, München: Piper 2021, 176 Seiten, 11 Euro
Das Buch ist ein Klassiker, auf den ich leider erst im letzten Jahr hingewiesen wurde. Es bereichert die Reihe der russischen Typen, die Oblomows, Onegins und Raskolnikows, um Wenja, den philosophierenden Alkoholiker, der sich nicht, wie die antiken Peripatetiker, selbst bewegt, sondern eine Zugfahrt nutzt, um seinen Assoziationen freien Lauf zu lassen.
Wenja will seine Geliebte in Petuschki besuchen und begibt sich dafür, verkatert und auf der Suche nach Schnaps, der den Kater erträglicher macht, zum Kursker Bahnhof in Moskau. Auf der Fahrt in das etwa 120 Kilometer entfernte Petuschki betrinkt er sich mit wechselnden Mitreisenden und gibt dabei einen Abriß der Absurditäten des sowjetischen Alltags und zahlreiche Alkoholweisheiten von sich: „Alle wertvollen Menschen Rußlands, alle Menschen, die für Rußland wichtig waren, haben gesoffen wie die Löcher. Nur die Überflüssigen, die Beschränkten haben nicht gesoffen.“
Klar, daß die Gespräche im Laufe der Reise immer absurder werden und Wenja irgendwann die Orientierung verliert und schließlich wieder in Moskau landet. Klar ist auch, daß das 1969 geschriebene Buch in der Sowjetunion nicht erscheinen konnte, sondern als Samisdat weitergegeben wurde. 1973 veröffentlichte es eine israelische Literaturzeitschrift auf Russisch, 1978 folgte die deutsche Übersetzung, die bis heute lieferbar ist.
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Denken
Hans Ostwald: Berlin. Anfänge einer Großstadt, Szenen und Reportagen 1904–1908, hrsg. von Thomas Böhm, Köln: Galiani Berlin 2020, 405 Seiten, 28 Euro
Berlin wuchs seit Ende des 19. Jahrhunderts zur Weltstadt. Die Repräsentationsbauten zeugen bis heute davon. Berlin wurde das Zentrum des Deutschen Reiches, wurde reich und griff rasch über die Stadtgrenzen hinaus. Dieses Wachstum geschah schlagartig, zwischen 1877 und 1905 verdoppelte sich die Einwohnerzahl auf zwei Millionen. Dabei konnte es nicht ausbleiben, daß sich in der Weltstadt die elende Seite des Wachstums zeigte, die in einem grellen Gegensatz zum offiziellen Berlin stand.
Diesen Gegensätzen widmete sich Hans Ostwald, der sich vom Arbeitersohn zum angesagten Journalisten emporgearbeitet hatte, in seiner Schriftenreihe „Großstadt-Dokumente“, die zwischen 1904 und 1920 in 50 Bändchen erschien. Einige davon verfaßte Ostwald selbst, so den Auftaktband Dunkle Winkel in Berlin, dem er ein programmatisches Vorwort voranstellte. Darin bekannte er sich zu einem Journalismus, der die Feldforschung der Soziologen vorwegnahm: „das Leben selbst soll sich mitteilen“.
Der vorliegende Band bietet neben einer Einleitung eine umfangreiche Auswahl aus der Reihe, die vor allem dafür berüchtigt war, auch vor heiklen Themen wie Prostitution und Homosexualität nicht halt machte, aber auch die Situation der Beamten in Berlin schilderte. Wie liberal das Kaiserreich war, zeigt sich darin, daß lediglich ein Band der Reihe verboten wurde; einer, der sich den Lesbierinnen widmete.
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Schauen
Ophélie Chavaroche / Jean-Michel Billioud: Atlas der utopischen Welten. 82 Visionen der Menschheit, Stuttgart: Kosmos 2021, 256 Seiten, 38 Euro
Die Wortschöpfung „Utopie“ geht auf Thomas Morus zurück, der damit einen Ort bezeichnet wissen wollte, der nur in unserer Vorstellung existiert. Dieser „Nichtort“ war daher nicht zu lokalisieren, was es auf den ersten Blick etwas befremdlich erscheinen läßt, den Nichtorten einen Atlas zu widmen. Natürlich folgt das Buch damit in erster Linie einer Mode, die jeder Sammlung grafischer Darstellungen den Namen Atlas gibt. Das Buch ist in dieser Hinsicht auch nicht besonders ambitioniert, der Wert der Sammlung liegt in der Zusammenschau ganz verschiedener Utopien. Nun sind Utopien etwas, was der Konservative instinktiv ablehnt, weil er damit ein ungebührliches Fortstreben vom Ursprung verbindet. Allerdings vergißt er dabei zweierlei. Erstens gibt es auch konservative Utopien, die den Fortschritt in die falsche Richtung beenden und eine Situation erzeugen wollen, die sich zu konservieren lohnt. Zweitens sind Utopien als Ideen geeignet, die Konsequenzen der eigenen Weltanschauungen zu bedenken, so daß sie als Regulativ wirken. Der vorliegende Band bietet einen guten, kurzweiligen Überblick über die verschiedensten Utopien von der Antike bis zur Gegenwart und macht dabei keinen Unterschied, ob sie nur auf dem Papier existierten oder ob versucht wurde, diese in die Wirklichkeit zu überführen – was immer scheiterte.
Volksdeutscher
"Dieser „Nichtort“ war daher nicht zu lokalisieren, was es auf den ersten Blick etwas befremdlich erscheinen läßt, den Nichtorten einen Atlas zu widmen."
Ein Ort also, der nicht zu orten wäre, wäre ein Nichtort oder ein Unort. So ein Unort ist das, was wir die Welt nennen.