Weihnachtsempfehlungen (6): utopische Welten

Nach Kositza und Kubitschek, Kaiser, Sommerfeld und Wirzinger zuletzt nun meine Weihnachtsempfehlungen: Lesen, Denken und Schauen!

Erik Lehnert

Erik Lehnert ist promovierter Philosoph.

Lesen

Wene­dikt Jero­fe­jew: Die Rei­se nach Petusch­ki. Ein Poem, aus dem Rus­si­schen von Nata­scha Spitz, Mün­chen: Piper 2021, 176 Sei­ten, 11 Euro

Das Buch ist ein Klas­si­ker, auf den ich lei­der erst im letz­ten Jahr hin­ge­wie­sen wur­de. Es berei­chert die Rei­he der rus­si­schen Typen, die Oblo­mows, One­g­ins und Ras­kol­ni­kows, um Wen­ja, den phi­lo­so­phie­ren­den Alko­ho­li­ker, der sich nicht, wie die anti­ken Peri­pa­teti­ker, selbst bewegt, son­dern eine Zug­fahrt nutzt, um sei­nen Asso­zia­tio­nen frei­en Lauf zu lassen.

Wen­ja will sei­ne Gelieb­te in Petusch­ki besu­chen und begibt sich dafür, ver­ka­tert und auf der Suche nach Schnaps, der den Kater erträg­li­cher macht, zum Kurs­ker Bahn­hof in Mos­kau. Auf der Fahrt in das etwa 120 Kilo­me­ter ent­fern­te Petusch­ki betrinkt er sich mit wech­seln­den Mit­rei­sen­den und gibt dabei einen Abriß der Absur­di­tä­ten des sowje­ti­schen All­tags und zahl­rei­che Alko­hol­weis­hei­ten von sich: „Alle wert­vol­len Men­schen Ruß­lands, alle Men­schen, die für Ruß­land wich­tig waren, haben gesof­fen wie die Löcher. Nur die Über­flüs­si­gen, die Beschränk­ten haben nicht gesoffen.“

Klar, daß die Gesprä­che im Lau­fe der Rei­se immer absur­der wer­den und Wen­ja irgend­wann die Ori­en­tie­rung ver­liert und schließ­lich wie­der in Mos­kau lan­det. Klar ist auch, daß das 1969 geschrie­be­ne Buch in der Sowjet­uni­on nicht erschei­nen konn­te, son­dern als Sami­s­dat wei­ter­ge­ge­ben wur­de. 1973 ver­öf­fent­lich­te es eine israe­li­sche Lite­ra­tur­zeit­schrift auf Rus­sisch, 1978 folg­te die deut­sche Über­set­zung, die bis heu­te lie­fer­bar ist.

– – –

Den­ken

Hans Ost­wald: Ber­lin. Anfän­ge einer Groß­stadt, Sze­nen und Repor­ta­gen 1904–1908, hrsg. von Tho­mas Böhm, Köln: Galia­ni Ber­lin 2020, 405 Sei­ten, 28 Euro

Ber­lin wuchs seit Ende des 19. Jahr­hun­derts zur Welt­stadt. Die Reprä­sen­ta­ti­ons­bau­ten zeu­gen bis heu­te davon. Ber­lin wur­de das Zen­trum des Deut­schen Rei­ches, wur­de reich und griff rasch über die Stadt­gren­zen hin­aus. Die­ses Wachs­tum geschah schlag­ar­tig, zwi­schen 1877 und 1905 ver­dop­pel­te sich die Ein­woh­ner­zahl auf zwei Mil­lio­nen. Dabei konn­te es nicht aus­blei­ben, daß sich in der Welt­stadt die elen­de Sei­te des Wachs­tums zeig­te, die in einem grel­len Gegen­satz zum offi­zi­el­len Ber­lin stand.

Die­sen Gegen­sät­zen wid­me­te sich Hans Ost­wald, der sich vom Arbei­ter­sohn zum ange­sag­ten Jour­na­lis­ten empor­ge­ar­bei­tet hat­te, in sei­ner Schrif­ten­rei­he „Groß­stadt-Doku­men­te“, die zwi­schen 1904 und 1920 in 50 Bänd­chen erschien. Eini­ge davon ver­faß­te Ost­wald selbst, so den Auf­takt­band Dunk­le Win­kel in Ber­lin, dem er ein pro­gram­ma­ti­sches Vor­wort vor­an­stell­te. Dar­in bekann­te er sich zu einem Jour­na­lis­mus, der die Feld­for­schung der Sozio­lo­gen vor­weg­nahm: „das Leben selbst soll sich mitteilen“.

Der vor­lie­gen­de Band bie­tet neben einer Ein­lei­tung eine umfang­rei­che Aus­wahl aus der Rei­he, die vor allem dafür berüch­tigt war, auch vor heik­len The­men wie Pro­sti­tu­ti­on und Homo­se­xua­li­tät nicht halt mach­te, aber auch die Situa­ti­on der Beam­ten in Ber­lin schil­der­te. Wie libe­ral das Kai­ser­reich war, zeigt sich dar­in, daß ledig­lich ein Band der Rei­he ver­bo­ten wur­de; einer, der sich den Les­bie­rin­nen widmete.

– – –

Schau­en

Ophé­lie Cha­va­ro­che / Jean-Michel Bil­lioud: Atlas der uto­pi­schen Wel­ten. 82 Visio­nen der Mensch­heit, Stutt­gart: Kos­mos 2021, 256 Sei­ten, 38 Euro

Die Wort­schöp­fung „Uto­pie“ geht auf Tho­mas Morus zurück, der damit einen Ort bezeich­net wis­sen woll­te, der nur in unse­rer Vor­stel­lung exis­tiert. Die­ser „Nicht­ort“ war daher nicht zu loka­li­sie­ren, was es auf den ers­ten Blick etwas befremd­lich erschei­nen läßt, den Nich­tor­ten einen Atlas zu wid­men. Natür­lich folgt das Buch damit in ers­ter Linie einer Mode, die jeder Samm­lung gra­fi­scher Dar­stel­lun­gen den Namen Atlas gibt. Das Buch ist in die­ser Hin­sicht auch nicht beson­ders ambi­tio­niert, der Wert der Samm­lung liegt in der Zusam­men­schau ganz ver­schie­de­ner Uto­pien. Nun sind Uto­pien etwas, was der Kon­ser­va­ti­ve instink­tiv ablehnt, weil er damit ein unge­bühr­li­ches Fort­stre­ben vom Ursprung ver­bin­det. Aller­dings ver­gißt er dabei zwei­er­lei. Ers­tens gibt es auch kon­ser­va­ti­ve Uto­pien, die den Fort­schritt in die fal­sche Rich­tung been­den und eine Situa­ti­on erzeu­gen wol­len, die sich zu kon­ser­vie­ren lohnt. Zwei­tens sind Uto­pien als Ideen geeig­net, die Kon­se­quen­zen der eige­nen Welt­an­schau­un­gen zu beden­ken, so daß sie als Regu­la­tiv wir­ken. Der vor­lie­gen­de Band bie­tet einen guten, kurz­wei­li­gen Über­blick über die ver­schie­dens­ten Uto­pien von der Anti­ke bis zur Gegen­wart und macht dabei kei­nen Unter­schied, ob sie nur auf dem Papier exis­tier­ten oder ob ver­sucht wur­de, die­se in die Wirk­lich­keit zu über­füh­ren – was immer scheiterte.

Erik Lehnert

Erik Lehnert ist promovierter Philosoph.

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Kommentare (21)

Volksdeutscher

2. Dezember 2021 07:43

"Dieser „Nichtort“ war daher nicht zu lokalisieren, was es auf den ersten Blick etwas befremdlich erscheinen läßt, den Nichtorten einen Atlas zu widmen."

Ein Ort also, der nicht zu orten wäre, wäre ein Nichtort oder ein Unort. So ein Unort ist das, was wir die Welt nennen.

Maiordomus

2. Dezember 2021 12:45

Die unübertrefflichen Porträtisten der Anfänge Berlins als Grossstadt waren und bleiben für mich einerseits Theodor Fontane, dessen Buch "Irriungen Wirrungen" für Ernst Jünger im Schützengraben des 1. Weltkrieges nach späterem Bekenntnis fast mehr Eindruck machte als das Kriegsgeschehen und die nicht nur von Magnus Hirschfeld z.B. in seinem Standardwerk über Homosexualität einmalig beschriebene Frühgeschichte einer Epoche, wo "schwul" noch echt anrüchig war und deshalb spannend, ein Grossporträt deutscher Sittengeschichte. Gemäss Angaben von Lehnert sind diese Gesichtspunkte auch in das unter mithin dieser Bedingung wohl hoffentlich sehr lesenswerte Buch von Hans Ostwald eingegangen. Fontane bleibt indes der einzige deutsche Autor, der sich vor den grossen Franzosen des 19. Jahrhunderts nicht verstecken musste. Er hat auch im Abstand eines Jahrhunderts weniger Patina angesetzt.

Maiordomus

2. Dezember 2021 13:55

...zum Beispiel weniger Patina als Thomas Mann, der im Vergleich zu Fontane bei aller sprachlichen Meisterschaft allenfalls schneller zu langweilen beginnt....

Skeptiker

2. Dezember 2021 15:05

Vielen Dank für die wieder sehr interessanten Buchempfehlungen. Auch ich habe beim Band über Berlin gleich an Fontane denken müssen. Noch heute ist dessen Sprache einfach nur "schön". In "Irrungen, Wirrungen" lese ich immer wieder. Obwohl es eine für mich noch viel traurigere Geschichte ist als "Effi Briest". Käthe und der Baron haben sich aufrichtig geliebt. Fontane zeigt, wie eine Beziehung über die Standesgrenzen hinweg gelingen könnte.

KlausD.

2. Dezember 2021 17:25

"Berlin. Anfänge einer Großstadt"

Ergänzend kann man hier Paul Schlenther zitieren, der am 1. April 1888 in der Vossischen Zeitung schrieb: ,,Man wird fragen, wie lebten, sprachen und dachten die Berliner gegen Ende des 19. Jahrhunderts? Und dann wird ein glücklicher Finder ... das Büchelchen "Irrungen, Wirrungen" hervorziehen, eine beliebige Seite aufschlagen und rufen: Hier leset, und dann wißt ihr, wie sich ‘s damals lebte  ..."

@ Skeptiker  2. Dezember 2021 15:05

"Käthe und der Baron haben sich aufrichtig geliebt. Fontane zeigt, wie eine Beziehung über die Standesgrenzen hinweg gelingen könnte."

Wenn Sie immer wieder in "Irrungen, Wirrungen" lesen würden, hätten Sie dies nicht geschrieben ...

 

Skeptiker

2. Dezember 2021 18:32

@Klaus D.

Doch! Ich habe bewusst den Konjunktiv genutzt. Dass der Roman diese Entwicklung noch nicht zeigt, ist mir wohl bewusst. Ich verstehe ihre Anmerkung nicht!

Skeptiker

2. Dezember 2021 19:02

Ich habe mich nur im Eifer mit den Namen vertan. Ich meinte natürlich Lene Nimpsch, die ihren Baron Bruno aufrichtig liebt. Beide werden in der zweiten Hälfte des Romans in ihren durch die sozialen Umstände erzwungenen Partnerschaften unglücklich. Nun verstehe ich die kritische Anmerkung! Entschuldigung für mein Namens-Durcheinander!

Franz Bettinger

2. Dezember 2021 20:36

@Utopia: "Die Hölle ist leer, alle Teufel sind hier.“ Der Satz stammt von Shakespeare. Es ist nur eine Frage der Zeit um zu erkennen, dass die Teufel in massiver Front auf uns einstürmen. Als ich jung war, konnte ich mir einen Krieg mit Russland vorstellen, sogar einen Atomkrieg; aber nie das, was uns heute widerfährt. Diese Utopie war unvorstellbar. 

In NZ lief die Gnadenfrist aus für viele, die sich der Impferei verweigern: Ärzte, Krankenschwestern, Feuerwehrleute, Lehrer, Hebammen. Die Zahl der Wenigen, die noch aushalten, schmilzt dahin. Die Erpressung funktioniert. Viele entscheiden sich gegen ihre eigene Überzeugung für das Impfen. Die Grundrechte, die vor Willkür & Diktatur hätten schützen müssen, die Menschenrechte, all diese hochtrabenden, edlen Gesetze gelten nicht mehr. In NZ wurden Klagen von den Richtern abgeschmettert. Die Luft zum Atmen in Freiheit wird dünner. ff

 

Franz Bettinger

2. Dezember 2021 20:39

Nun begreifen wir, was unsere Eltern im 3. Reich durchlitten. Die Frage geht jetzt an uns: “Wo warst du Adam?” Adam: “Ich hatte mich impfen lassen und dann die Feinde bekämpft, die sich nicht impfen lassen wollten. Es war Krieg. Was sollte ich tun?”

Quo vadis, domine? fragt Petrus seinen Herrn. Jesus: "Wo ich hingehe, kannst du mir diesmal nicht folgen." Es geht auf's Ende zu, auf das Ende einer Zeit. - Wir sind nicht Jesus, aber jeder von uns ist jetzt aufgefordert, diese eine Frage für sich zu beantworten: Wohin? Sind wir bereit, für unsere Freiheit einzustehen und den Preis zu zahlen?  

 

Franz Bettinger

2. Dezember 2021 20:41

In seinem Buch "Leb nicht durch Lügen" hat Rod Dreher das Leben der unterdrückten Christen im Osten geschildert. Obwohl Zeiten des Martyriums haben viele später gesagt, dass es die beste Zeit ihres Lebens war. Warum? - Weil sie in jenen Jahren wahre Gemeinschaft empfanden. Intensives Leben ist vielleicht nur in Augenblicken höchster Gefahr möglich. Der Mensch entdeckt in der Bewährung das Wahre. Mehr von Hans Geese (NZ), der uns am Ende sogar Hoffnung macht, dass wir diesen Krieg gewinnen werden: "Wir alle haben in den letzten Jahren aus polit. Gründen Freunde verloren, aber was für großartige neue Freunde haben wir gefunden, die alle das Kreuz auf sich nehmen. Und wir werden mehr." Hans ist zuversichtlich, dass es ausreichen wird, sich am Ende dem Wahnsinn zu widersetzen.
https://www.anderweltonline.com/kultur/kultur-2021/die-holle-ist-leer-alle-teufel-sind-hier/ 

RMH

3. Dezember 2021 07:03

"Nun begreifen wir, was unsere Eltern im 3. Reich durchlitten."

Oder einfach auch durch Wegschauen, Abtauchen - "ich bin ja nicht betroffen, das Leben geht weiter" - stillschweigend geduldet haben oder teilweise auch durch sich Einreihen in die Reihen der Hetzer aktiv mitgetragen haben.

Die Masse der Deutschen kann sich aktuell offenbar nur noch darüber empören, wenn nach 4 Stunden Warteschlange an der Impfstation der heilige Booster aus ist oder gar nur noch solcher von Moderna da ist. Die ungeimpften Kollegen, die schikaniert werden oder gar den Job verlieren? Der entferntere Nachbar aus dem Haus 2 Ecken weiter, der auf einmal, obwohl erst Mitte 50, mit einem Rollator durch die Gegend schiebt? Die Todesanzeigen, die mit "plötzlich und unerwartet" beginnen? Egal, jeder muss schauen, wie er selber überlebt. Kopf einziehen, die Ärmel hoch, die Reihen fest geschlossen - und dann klappt das auch mit der Reise- und Feriensaison 2022.

Die notorischen 3. Reich Vergleiche, die man ja grundsätzlich und eigentlich völlig zu recht meiden sollte, drängen sich leider aber immer mehr auf.

Dietrichs Bern

3. Dezember 2021 07:58

Berlin? Warum? Großmannsssucht und Großmäuligkeit, arbeitsscheue und den Deckel immer andere bezahlen lassen. Die Verehrung von Primitivität und Gosse.

Berlin? Das liegt nicht in Deutschland!

 

Maiordomus

3. Dezember 2021 08:17

Dies ist übrigens, Herr Bettinger, eine Buchseite mit Auseinandersetzungen um Neuerscheinungen. Habe mit Gewinn das bestellte, soeben eingetroffene, von Frau Kositza besprochene Buch von Frau Bahner über das Impfen gelesen, kritisch, immerhin kein Dokument des Fundamentalismus. Auf die Lektüre der Benn-Briefe freue ich mich, schönes Buch, zu weiteren Bestellungen empfohlen. War gestern noch an einem ansprechenden, zum Teil auch medizinzhist. unterfütterten Arzt-Vortrag mit Schwerpunkt, man solle Veterinärmedizin u, Humanmedizin im Dienste der e i n e n  Gesundheit würdigen, wozu ein gesundes Verhältnis zur Natur beitrage. Die eher nebenbei gesprochenen Ausführungen betr. Impfen bzw. Impfgegner zeigten eine Karikatur aus dem 19. Jahrhundert mit Befürchtung, die Geimpften würden sich in Kühe verwandeln und auch von heutigen Impf-Gegnern kamen nur Vollidioten-Zitate zur Zitierung. Das ist freilich selbst bei sonst qualifizierten und gutemeinenden Professoren das Niveau der Auseinandersetzung. Dass man beim Gegner sich immer die stärksten wählen sollte und dass man auf medizinischem Gebiet ja nie genug weiss, bleibt das Fatale. Es kommt auch davon, dass nicht breit genug gelesen wird und man sich in die immer gleichen Vorstellungen verbohrt. Ev. Benn lesen.  

KlausD.

3. Dezember 2021 10:17

@Skeptiker 2. Dezember 2021 15:05

„Fontane zeigt, wie eine Beziehung über die Standesgrenzen hinweg gelingen könnte.“

Wenn Sie mit „Beziehung“ eine Ehe meinen, dann möchte ich Ihnen widersprechen, dies war Ende des 19. Jh. zwischen dem Adel und dem 4. Stand nicht denkbar. Was es allerdings sehr wohl gab, waren Liebesbeziehungen wie hier zwischen der Plättmamsell Lene Nimptsch und dem adligen Offizier Botho von Rienäcker, die jedoch in der Gesellschaft tabuisiert wurden. Neben der realistischen Darstellung des Lebens übte Fontane in seinen damals modernen Gesellschaftsromanen gleichzeitig Kritik, hier an Heuchelei und Doppelmoral.

Zu diesem Roman hier noch eine bemerkenswerte Einschätzung von Hans Heinrich Reuter: „Zum ersten Male war die Lebenslüge der herrschenden Gesellschaft bis ins Mark getroffen und durchschaut, entlarvt mit einer politischen Eindringlichkeit und Überzeugungskraft, wie sie der deutsche Roman zuvor nicht gekannt hatte. Es war der Atem Stendhals und Flauberts, Thackerays und Turgenjews, der den Lesern aus der scheinbar anspruchslosen Liebesgeschichte von Lene und Botho entgegenschlug.“

Skeptiker

3. Dezember 2021 11:36

@Klaus D.

Danke für Ihre Ausführungen! Sie haben es wesentlich besser, weil klarer ausgedrückt als ich. Genau diese Einschätzung zu dem Roman, die auch aus der von Ihnen angeführten Besprechung deutlich wird, meinte ich. Es gelingt Fontane sehr berührend die Doppelmoral der damaligen Zeit und ihre Auswirkungen auf den einzelnen darzustellen!

Maiordomus

3. Dezember 2021 12:51

@Klaus. D. Besser als der von Ihnen zitierte Reuter hätte es  betr. Fontane keiner sagen können. Wobei die bei Fontane artikulierte Kritik nie "engagiert" explizit gemacht wurde, man musste mit ein bisschen denken selber darauf kommen.  Notwendig wären heute Romane über die gegenwärtigen Lebenslügen, gewiss bei den politisch Korrekten u. Linken; selbst aber und erst recht waren und sind Konservative vor Lebenslügen nicht gefeit. Auch für mich und andere ähnlich Gesinnte war es stets leichter, konservativ zu denken als wirklich so zu leben, wobei letzteres in keiner Weise weder übertrieben asketisch noch gar hypermoralisch erfolgen sollte. Ein bisschen glaubwürdig würde genügen. 

PS. Heinrich Böll beschrieb wiederholt konservative Lebenslügen von damaligen CDU-Wählern. Weil er etwas links tönte, wollte man es ihm oft ungern abnehmen. Aber wie recht hatte er! Heute wäre vielleicht an Merz u. Kurz zu denken. Der Rückzug des einen war freilich eher schlau als vornehm-konservativer Stil. 

Maiordomus

3. Dezember 2021 13:14

Was ich noch vergessen habe anzumerken: Lehnert ist überdurchschnittlich. Damit meine ich nicht seine Stellung im Kollegenkreis, wo nicht Leute gegeneinander auszuspielen wären, sondern allgemein und grundsätzlich; lese nicht gerade wenige Buchbesprechungen!

anatol broder

4. Dezember 2021 14:45

ich schliesse mich der empfehlung für die reise nach petuschki an.

Laurenz

5. Dezember 2021 09:18

"Die Reise nach Petuschki"

Es gibt auch Hörbücher, Vorlesungen & sogar Aufführungen.

Hier: https://youtu.be/AGxnDp-7o7Y

Hier: https://youtu.be/3yB7JnAGCPs

oder hier: https://youtu.be/Rjhn4cUpyZg

links ist wo der daumen rechts ist

6. Dezember 2021 23:17

Kurzer Nachtrag zu den Utopien.

Giovanni Papini, dessen Werk „Guckloch zur Welt“ ich in einem Nachbarstrang erwähnt habe, meint, daß der Hang zur Flucht in ein besseres Gestern oder ein großes Morgen aus dem puren Ungenügen, in unserer Gegenwart leben zu müssen, resultiert.

„Die Gesellschaft der Lebenden beurteilt sich selbst immer als ein Zwischenstück der Dunkelheit zwischen dem Licht von gestern und dem von morgen. Wir sind also entartete Nachkommen oder unwürdige Vorfahren.“

Natürlich haben beide Varianten ihre Berechtigung, in Musils Möglichkeitssinn fließen sie sogar zusammen.

Aber die wahre konservative Einsicht ist doch, den allgegenwärtigen Verfall nicht aufhalten zu können (der Altlinke in mir möchte – ohne Menschheitsexperimente - immer noch die Welt nach mir ein klein wenig besser sehen), sich keinen retardierenden Eskapismus zu gestatten und dem Verfall durch Haltung, Stil und Charakter ins Auge zu sehen.

Papini:

„Sehr viele werden meinen Namen noch niemals gehört haben, viele werden mich innerlich nicht haben verstehen können, viele bewundern mich nur wegen weniger wesentlicher Vorzüge, und schließlich wird es auf der ganzen Welt nur vier oder fünf Menschen geben, denen es gelingt, meine verzweifelte Anstrengung, die vergebliche Qual, die fast immerwährende Traurigkeit zu durchschauen und, in manchen Augenblicken, mich deshalb zu lieben.“

Kein geringer Grund zu schreiben und zu leben.

Flaneur

7. Dezember 2021 18:38

Vielen Dank für den Hinweis auf Jerofejews Reise nach Petuschki. Begleitet von einer Flasche  Stolichnaya habe ich dieses grandiose Buch in einem Rutsch durchgelesen, bevor ich mit einem breiten Grinsen auf dem Sofa eingeschlafen bin. 

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