Die politischen Entscheidungsträger haben wirklich geglaubt, sie könnten den Coronavirus durch eine Impfquote von 60–70% ausrotten, oder zumindest die Reproduktionsrate dauerhaft unter 1 drücken. Danach wäre Covid-19 besiegt, politische Auseinandersetzungen um Auffrischungsimpfungen wegen der langjährigen Schutzwirkung überflüssig gewesen. Als politischen Bonus hätte man den Triumph gegenüber der rechten Opposition einkassiert, welche durch die politische Dynamik von alleine ins Lager der Maßnahmenkritiker gedrängt worden war.
Es ist wichtig, diese Annahme des Gegners zu verstehen, um zu erkennen, wo wir jetzt stehen. Die Covid-19 Krise unterscheidet sich von den beiden vorangegangenen Krisen, der Euro- und der Flüchtlingskrise, dadurch, daß ihre Sachfrage von den politischen Akteuren zu dem Zeitpunkt kaum beurteilt werden konnten, als die wesentlichen Richtungsentscheidungen fielen, an welche die Akteure nun gebunden sind.
Eugyppius hat wohl am ausführlichsten über die gruppendynamischen Mechanismen und Informationskreisläufe geschrieben, welche die Coronamaßnahmen ins Rollen brachten. Kurz: Sehr früh, zu Beginn des Jahres 2020, hat sich in dem Komplex aus Presse, Politik und Gesundheitsbürokratie die kollektive Direktive verfestigt, man müsse um jeden Preis ‚den Virus besiegen‘, zuerst mit Lockdowns, dann, diese Lösung kristallisierte sich früh heraus, durch die Entwicklung eines Impfstoffes. Die überwältigende Mehrheit der Akteure in diesem System, eigentlich sollte man sie Knotenpunkte statt Akteure nennen, war in keinster Weise in der Lage zu beurteilen, ob das überhaupt realistisch war.
Nur, auf der Gegenseite war die Lage spiegelbildlich. In allen westlichen Ländern traf der Coronaausbruch auf eine anhand älterer Konfliktlinien bereits gespaltene Gesellschaft. Und die Fundamentalopposition sah sich von ganz alleine in das neue Lager der Maßnahmenkritiker gedrängt. Trotz des mulmigen Gefühls, aus dem zu Beginn viele ihrer Köpfe gar keinen Hehl machten. Mulmig angesichts der esoterischen Natur einiger neuer Verbündeter, vor allem aber aufgrund der Unsicherheit, ob Corona nicht doch gefährlich und die Maßnahmen am Ende notwendig sein würden.
Die Systemmedien begannen freilich bereits damit, die Coronatoten bei der Rechten abzuladen, als das treibende Zentrum der Maßnahmengegner noch aus einer Mischung aus finanziell Betroffenen und antiautoritären Sonderlingen aller Couleur bestand. Und eines wurde schnell unabweislich: Die Auseinandersetzung um das Coronavirus wird die schiere Möglichkeit einer Fundamentalopposition auf Jahre hinweg bestimmen.
Anders als der Euro‑, anders als der Flüchtlingsherbst 2015 hat die Coronapolitik erstens massiv, zweitens unmittelbar und für jedermann sichtbar in das Leben jedes einzelnen Menschen eingegriffen. Für beide Seiten stellte eine Niederlage einen nicht wiedergutzumachenden Legitimitätsverlust dar.
Das System wie seine Gegner sahen sich gezwungen, eine Wette mit höchstem Einsatz auf etwas abzuschließen, das man nicht einschätzen konnte. Und diese Schicksalsentscheidung wurde auf keiner Seite von einer verantwortlichen Person getroffen. Sie blieb den Wogen der Gruppenpsychologie und überlassen.
Doch was bedeutet hier Niederlage? Da gibt es den politischen Machtkampf um die Maßnahmen. Der ist im Grunde einfach: Entweder die Regierung setzt sich mit ihren Maßnahmen durch, oder sie wird zu einem Rückzieher gezwungen. Dann gibt es das Rechthaben. Die Frage, welche Seite das richtigere Bild sowohl der Krankheit als auch der Wirkungen und Nebenwirkungen der verschiedenen Maßnahmen gezeichnet hat.
Schließlich gibt es dieses merkwürdige Mittelding zwischen beiden. Nennen wir es das Rechtbehalten. Das ist schwieriger zu fassen. Ich versuche es so: Wer kann im Zeitverlauf die dynamische Struktur aus Narrativ und Handlung bestimmen? Vom bloßen sich Durchsetzen unterscheidet es sich dadurch, daß es nicht bloß durch ein gewaltsames Erzwingen erreicht werden kann. Vom Rechthaben dadurch, daß es nicht darum geht, wer wann etwas falsches gesagt hat, sondern wem es schließlich gelingt, sein Narrativ zu verankern.
Da dies eine politische Lagebeschreibung ist, soll möglichst wenig an der Richtigkeit einzelner Zahlen und medizinischer Studien hängen. Im Gegensatz zu offenbar 95% der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland bin ich nicht ausgebildet, diese auf ihre Validität zu überprüfen. (Meine persönliche Entscheidung gegen die Impfung hat nichts mit meiner sehr beschränkten medizinischen Fachkenntnis zu tun zu tun, sondern damit, daß ich mir durchaus zutraue zu erkennen, ob das Entscheidungssystem, welches mir diese Impfung aufoktroyieren will, noch Anreizstrukturen aufweist, die es zu kollektiv rationalem Verhalten befähigen).
In eine politische Risikoanalyse läßt sich die Wahrheit als ein Faktor unter anderen einbeziehen, da es nicht um die Wahrheit selbst, sondern um ihre Auswirkungen geht.
Der Einfluß der Wahrheit auf die politischen Tatsachen ist an sich weder groß noch klein, es hängt davon ab, wie einfach oder schwierig es für die Menschen ist, die Wahrheit auszublenden, wie sehr sie in ihr Leben schneidet. Entscheidend ist, ob die meisten Menschen sie unmittelbar in ihrem Leben wahrnehmen oder fast ausschließlich durch mediale Vermittlung. Für die Einwanderung und den Euro galt immer das letztere, wo es doch jeden trifft, etwa in Fragen des Geldwertes oder der Stabilität der Sozialsysteme, hat niemand einen erlebten Vergleichswert.
Bei Corona liegt der Fall komplizierter. Jeder ist durch die Maßnahmen betroffen und die alte Normalität liegt noch nicht so lange zurück, daß irgendjemand, auch nicht die rabiatesten Befürworteter der Regierungsmaßnahmen, die sogenannte neue Normalität für normal hielte.
Für die Folgen der Krankheit und die Nebenwirkungen der Impfung gilt das nicht. Der ein oder andere, bei weitem aber nicht jeder, kennt einen schweren Verlauf, oder gar einen Todesfall. Weder von Corona, noch von der Impfung stapeln sich die Särge in den Straßen. Was von beidem nun das geringere Übel ist, ist ausschließlich medial vermittelt und entspringt nicht der direkten Erfahrung der Menschen. Dadurch ist sie auch in einem viel höheren Maße medial formbar, wenn auch bei weitem nicht beliebig.
Eine Grenze dieser Formbarkeit entspringt der Eigenlogik einmal verfestigter Narrative. In dem Sinne, wie sie ursprünglich gedacht und oben dargestellt wurde, ist die Impfstrategie der Regierung gescheitert. Angesichts der im Winter steigenden Zahlen ist es ihr aber auch nicht einfach möglich, das Ziel für erreicht zu erklären und die Maßnahmen aufzuheben. Die Inzidenzwerte sind narrativ zum Erfolgsmesser der Coronapolitik geworden und als Ziel ist, wider besseren Wissens vieler Einzelakteure, die Ausrottung der Krankheit festgelegt. Darum kommt auch kein einzelner Politiker des Establishments mehr herum. Deshalb ist es auch problematisch, hier vom Handeln der Regierung zu sprechen. In den inneren Kommunikationslogiken des politisch-medialen Systems gefangen gleicht die Regierung immer weniger einem einheitlichen Akteur, weil ihr kollektives Handeln kaum noch hierarchisch steuerbar ist.
Das bedeutet aber nicht, daß dem System keine weiche Landung mehr gelingen könnte. Gerade weil jetzt angesichts des offenkundigen Scheiterns neue Erklärungen nötig werden. Eine sehr attraktive Option des Systems hat kürzlich eine Forschergruppe der Humboldt Universität Berlin aufgezeigt.
Die Gruppe hat eine Modellrechnung erstellt, die es erlaubt, bei verschiedenen Infektionswahrscheinlichkeiten und Zeitspannen, in denen ein Infizierter selbst ansteckend ist, auszurechnen, wie groß der Anteil einzelner Gruppen am Infektionsgeschehen ist. Bei einer Impfeffektivität von nur 72% und einer Ansteckungszeit von zwei Dritteln der eines Ungeimpften kommt das Modell darauf, daß 76,9% aller Infektionen von den 35% der Ungeimpften in der Bevölkerung ausgehen. Zählt man die Fälle hinzu, an denen ein Ungeimpfter durch einen Geimpften infiziert wird, dann sind Ungeimpfte laut dieser Rechnung an 91,1% des Infektionsgeschehens beteiligt. Die letztere Zahl schaffte es aus dem Forschungspapier in die Schlagzeilen. Gemäß diesem Modell müsste die Impfeffektivität unter 22% fallen, damit die 65% der Geimpften den gleichen Anteil am Infektionsgeschehen haben, wie die 35% der Ungeimpften.
Solange die Impfstoffe einen auch nur halbwegs relevanten Schutz gegenüber dem Coronavirus gewähren, und davon ist auszugehen, ist es dem System also möglich, sich auf eine weniger unhaltbare Faktenlage zurückzuziehen, dabei jedoch den Druck auf Ungeimpfte zu verstärken. Das Szenario wäre eines, in dem ohne regelmäßiger Boosterimpfungen zumindest keine Teilnahme am gewöhnlichen Leben mehr möglich sein wird. Die Normalisierung der neuen Verhältnisse würde die noch vorhandenen Gegner weitestgehend isolieren, während die Mehrheit schon deshalb an ihre Berechtigung glauben müsste, um das Eingeständnis zu vermeiden, in dieser persönlichen Frage falsch gelegen zu haben.
Jede grundsätzliche Opposition wäre auf Jahre hinweg schwer belastet.
Daß dieser Zustand durch das Versprechen einer einmaligen, fast vollständig schützenden Impfung erreicht wurde und die Frage der Verhältnismäßigkeit der Impfung angesichts ihres Risikos dabei unter den Tisch fiele, steht auf einem anderen Blatt. Ebenso wenig fiele die tatsächliche Gefährlichkeit des Virus noch ins Gewicht oder die Frage langfristiger Auswirkungen der Impfung auf das Wechselspiel aus menschlichem Immunsystem und Virenevolution.
Angesichts dessen stellen sich zwei Fragen:
1. Ist dem chaotischen Komplex aus Medien, Politik, Pharmaindustrie, Behörden und anderen Parteien ein solch geordneter Rückzug möglich?
2. Kann der Druck von unten, der momentan auf die Straße geht, eine ausreichende Eigendynamik gewinnen, bevor eine offizielle oder inoffizielle Impfpflicht ihm dadurch das Rückgrat bricht, daß die überwältigende Mehrheit der Teilnehmer sich aus beruflichen und/oder familiären Gründen impfen lassen muß?
Aus der Distanz betrachtet ist es merkwürdig, fast schon drollig, daß wir, nachdem wir Jahre an den großen Fragen der Zeit laboriert haben, jetzt in diesem Chaos aus amoklaufenden Sozialmechanismen stecken und selbst durch diese Mechanismen zum Einsatz gezwungen sind.
Es hilft nichts.
MARCEL
Exakt!
Ein Wettrennen gegen die Zeit und ein Kampf um die Gesichtswahrung.
Verschwindet die natürliche Kontrollgruppe schneller als Folgeschäden für jeden offenkundig werden?
Ausweglos wie eine griechische Tragödie
Und doch: Unser Widerstand muss eingelöst werden, er ist nicht mehr intellektuell sondern fortan existenziell.
Wie sagte doch einst ein bekannter Generalmajor in einer ähnlichen Lage (nein, nicht Carsten Breuer): "coûte que coûte"