Thema dieser Dokumentarliteratur, authentifiziert durch Oral-History, ist zunächst die Beschreibung eines untergegangenen, eher verlorengegangen Landes. Exemplarisch kann Hoyerswerda als die Stadt des DDR-Sozialismus gelten. Ost-Berlin war es nie, Eisenhüttenstadt und Schwedt wurden es nicht, Hoyerswerda jedoch wuchs mit seinen durchnummerierten Plattenbaubezirken ganz zwangsläufig dazu heran.
Diese Stadt war echt, echt sozialistisch, in dem Sinne, was am „realexistierenden“ Sozialismus überhaupt je Chance gewesen sein mochte, aber vor allem in der Entwicklungstragik, die für jene, die tiefer fühlten und dachten, erst in eine expressionistische und dadaistische Phase der Vorwendezeit und dann passenderweise in den Untergang des ganzen Landes führte. Etwa so, wie aus dem letzten bzw. jüngsten Plattenbauviertel in „Hoy“ schon nichts mehr wurde. Die Stadt war hypertroph über sich hinausgewachsen, und der deswegen zu Unterquerung einer Fernverkehrsstraße eigens notwendige Tunnel soff ab. Ein Menetekel.
Zunächst aber schien dem Aufbruch keine Grenze gesetzt. „Kohle-Energie-Gas“, so leuchtete es in Riesenbuchstaben vom Dach des Hochhauses in „Hoy“. Das sah wie Werbung aus, aber Werbung brauchte ja keiner. Vielmehr brauchte das kleine ehrgeizige Land Energie – gewonnen aus dem, was man hatte: Braunkohle, unter den fossilen Brennstoffen der jüngste und übelste, etwas älter nur als Torf, abbaubar in riesigen, Landschaften und Dörfer verschlingenden Tagebauen. Notgedrungen. Für die Greta-Kids wäre es der schlimmste Alptraum, damals war es die einzige Möglichkeit. „Kohle-Energie-Gas“ als Leuchtschrift über Hoyerswerda stand für Selbstbewußtsein und Propaganda im „Energiebezirk“ Cottbus.
Das Schwarze Loch, um das alles kreiste, hieß Schwarze Pumpe, ein monströses Riesenkombinat, das „Kohle-Energie-Gas“ erzeugte. Fünfzehntausend Leute arbeiteten dort, die von Schichtbussen, „erste, zweete, dritte Welle“ (Grit Lemke ahmt den Niederlausitzer Proletendialekt nach.), zur Arbeit angeliefert wurden. „Off Arbeet in Pumpe“, das schien die unausweichlich deprimierende Zukunft der in den Plattenbauten heranwachsenden Kinder zu sein – Tausende Kinder, so zahlreich, daß die eilig gebauten Schulen nicht ausreichten und die nächste sich bereits im Bau befand, wenn eine neue gerade geöffnet hatte. Lichte Zukunft, vom aus „Schwarze Pumpe“ herüberwehenden Ruß grau überstäubt.
Typische DDR-Ambivalenz als Symptomatik: Das, was man an sich haßte, „off Arbeet in Pumpe“ der maroden Maschinerie und dem giftigen Gestank ausgeliefert zu sein, konstituierte andererseits die Gemeinschaft. Multipliziert man die fünfzehntausend Brikett‑, Energie- und Gasarbeiter mit ihren Familienangehörigen, dann kommt man auf die Einwohnerzahl einer sozialistischen Großstadt, die in die sorbische Lausitzer Kiefernheide geklotzt wurde.
Die Schichtarbeit war das eine, das andere das Leben in den „Wohnkomplexen“, die ab den Fünfzigern, Sechzigern vergleichsweise Komfort boten: Bad, Anbauwand, Farbfernseher „Raduga“, Glasteil mit dem aus dem Grubenschnaps bereiteten Eierlikör. Dazu kamen die sozialistische Laubenpieperei in den Gartenvereinen, die Männertreffs beim Bier an den Garagen, die Naherholung am Knappensee bei Oppach und die Sommerferien-Kinderlager. Das war die Welt – von der Schule bis zur lebenslangen Schichtarbeit. So übel die Basis aussehen mochte, bedingte sie doch eine Lebenskultur, in der man sich nicht nur den Alltag einrichtete, sondern aus der heraus sich Kunst, Literatur und Musik entwickelten.
Das Berufsleben war dreckig, anstrengend und frustrierend. Aber war’s unglücklich? Wo sich vor, neben und hinter einem alle so eng in den Schichtbus gestapelt fanden, daß man sich Bauch an Rücken stellen mußte und Gespräche quasi mit dem Hinterkopf führte, wie Grit Lemke es beschreibt, dort relativierte sich das eigene Unglück, weil gleich einem selbst noch alle anderen darin steckten. Und das war dann kein Unglück, nicht mal nur geteiltes Leid, sondern das Leben selbst, das in sich so vital und selbstverständlich schien, daß der Tod in der Hoyerswerdaer Neustadt zunächst keine Rolle spielte, zumal alle hier so jung waren wie die Republik – und immer Jüngere dazukamen. Alles, was man erlebte, war Neubeginn, Neubau und kinderreiche Verjüngung.
Es wurde vergleichsweise gut verdient, mit dem DDR-typischen Nachteil, daß man das Geld nicht ausgeben konnte, weil das Warenspektrum eng war. Was man wirklich zum Leben brauchte, war spottbillig; wonach man sich sehnte, fehlte hingegen total. Sinn und Antrieb konnten nicht von Konsumbedürfnissen geleitet sein; sie mußten sich anders herleiten. Eine totalitäre Ideologie zwingt zum Bekenntnis – für oder gegen sie, ansonsten bleibt nur das Ausweichen, in die Nischengesellschaft. Aber die ist nicht öde; sie konnte kunterbunt sein – und durchaus subversiv. Und wer Individualismus wollte, mußte wirklich sehr individuell, also einzigartig leben.
Kunst, Musik und Literatur genossen in der DDR so enorme Bedeutung, weil allein sie die gewissermaßen eine andere Lesart zur Parteipropaganda boten. Deswegen „Leseland DDR“, deswegen eine markante Ost-Musik, deswegen der Wunsch nach Kunstgenuß und ‑gestaltung.
Bevor wir DDRler aber mit einsetzendem Nachdenken alle entweder zu Bekennern oder zu Subversiven wurden oder dazwischen changierten, schien uns Hineingeborenen die sozialistische Welt in Ordnung, wenn wir nicht aus Pfarrer- oder Dissidentenhaushalten stammten.
Nicht nur das. Sie erschien in sich sogar sinnhaft. In dem, was man uns von der Welt und ihrer bevorstehenden großen Selbstbefreiung kindgerecht erläuterte, sowieso, standen wir, zu unserem vermeintlich schicksalhaften Glück, doch sogar auf der richtigen Seite. Auch in Hoyerswerda, gerade dort, denn die Turbinen von Schwarze Pumpe sorgten für den Strom, der alles am Laufen hielt, die Briketts für Wärme, das Gas brannte Küchenherd. Man konnte Bergbau, Energie, Chemie dreckig finden, aber man durfte stolz darauf sein. Gewissermaßen war Schwarze Pumpe das finstere Herz, das die DDR am Leben hielt.
Phänomenal, zu welch eigenwilligem künstlerischen und intellektuellem Erwachen sich der später gemeinhin als grau bezeichnete Sozialismus bei seinen Kindern auswuchs: Der Liedermacher Gundermann ist dafür nur ein Beispiel. Eine Junge mit strähnigen Haaren und schlimmer Brille, der über die richtige Musiklehrerin am richtigen Ort erst in die FDJ-Singegruppe und dann zu seiner eigenen Band kam: „Brigade Feuerstein“.
In Hoyerswerda mauserten sich die die würfelförmigen „Jugendklubs der FDJ“ zu Orten echter, nicht inszenierter Kreativität. Was organisiert begann, das wucherte sich im Wildwuchs frei, brach also gewissermaßen aus den Fugen des Betons: Musik, Lyrik, künstlerische Experimente, eine veritable Avantgarde, die sich zu artikulieren verstand, dann das unfreiwillig Absurde am Sozialismus bemerkte, sich darauf eher einen Witz als einen Reim machte und zu einer Variante warmherzigen Zynismus dem eigenen Unzulänglichkeiten gegenüber fand, unverstanden von den SED-Funktionären und den Alten, aber schulterzuckend doch mindestens geduldet, nicht ernstgenommen, aber gerade deswegen Freiheiten erhaschend.
Aus angepaßten Singeklubs wurden freche Bands, aus Musikschülern improvisierende Jazzer, aus den FDJlern der „Kollektive“ Revolutionäre in ganz eigener quasi existentialistischer Sache, also Nachdenker, in denen trotz oder wegen aller zwangsverordneten „Hoffnung auf ein besseres Morgen“ die Desillusionierung zu nagen begann. Dem begegneten sie mit der Etablierung ihrer ganz speziellen Jugendkultur, die immer jung bleiben konnte, ja mußte, weil sie mit der Wiedervereinigung jung starb – so wie die ganze Stadt, die plötzlich niemand mehr brauchte, als das ganze Land in oder an den Westen ging.
Als das geschah, als die große Geschichte das dann doch wieder klein erscheinende Hoyerswerda eingeholt hatte, brachen Risse auf, die man vorher übersah. Die neue Post-DDR-Jugendkultur mußte bzw. konnte sich nicht mehr an den Gravitationslinien eines vormundschaftlichen Staates auszurichten, entweder bekennend dafür oder widerstrebend dagegen, wenngleich selbst dies gutwillig. Nein, nun, da eben dieses Gravitationssystem insgesamt abgeschaltet war, hatte jeder zwangsläufig seine Position selbst zu finden, also eigene Ortung zu betreiben. Ohne daß es Orientierungspunkte gab, die Halt oder Geborgenheit versprachen.
Desorientiert zog die einstigen Jungpioniere und FDJler die Springerstiefel an, irgendwie ja auch Ausdruck einer proletarischen Kultur, rote Schnürsenkel und weiße, vermeintlicher Linker, vermeintlicher Nazi. So fochten die einstigen „Jungendfreunde“ in der Weise eines großen Rollenspiels ihre innerlich zwar verzagten, deswegen aber laut artikulierten und neuerdings sich entgegenstehenden Selbstverständnisse aus.
Aus früher verordneter Solidarität wird bei manchen leibhaftiger rüder Haß. Projektionsfläche dafür boten die Wohnheime der DDR-Vertragsarbeiter, also die Blöcke der Mosambikaner und Vietnamesen: „Neger“ und „Fidschis“. Indem man zu ihnen stand oder plötzlich gegen sie auftrat, war klar, wer zu welcher Abteilung Jugend gehörte. Und so konnte es gegeneinander zur Sache gehen, auf fatale Weise, die Hoyerswerda, dieser einst DDR-sozialistischen Stadt, sogleich den Ruf des Nazikaffs einbrachte. Bereitschaftspolizei rollt an, Hubschrauber kreisen über der Stadt.
Die Mosambikaner werden evakuiert. Kurz tritt Ruhe ein, dann wenden sich „Faschisten“ und „rote Zecken“ gegeneinander. Provinzieller Bürgerkrieg. Wer für sein bißchen Identitätsrest ein Bekenntnis braucht, ist jetzt Linker oder Rechter, mit dem Bedürfnis, die eigene Armseligkeit gegen den anderen auszufechten. Wobei die Linken sich intellektueller wähnen als die Rechten, die Rechten nationaler als die Linken. Gefühligkeiten – brutal, ängstlich, unklar.
Man will irgendwohin gehören, möglichst in verlorener Eindeutigkeit, also nach links oder nach rechts. Die Autorin nach links; das ist dichter an der DDR, dicht an der einstigen Kultur, dicht an Gundermann, dich an der erhofften „Menschlichkeit“. Aber was nützen diese Verortungen, wenn die Plattenbau-Stadt in den Strom nicht nur der deutsch-deutschen, sondern gleich noch der Weltgeschichte hineintreibt. Wo Blöcke untergehen, bilden sich Strudel. In einen geriet Hoyerswerda und verschwand darin – so, als hätte es all das, was den Ort ausmachte, Kohle-Energie-Gas, „Arbeet in Pumpe“, Schichtbusse, singende Jungpioniere und Sommerferienlager, einfach nie gegeben. Viele verließen die Stadt ihrer Herkunft und Prägung. Es bleiben Ödnis und Verunsicherung. Tagebaurestlöcher. Und ein paar Enthusiasten, die, wie der gegenwärtige Bürgermeister der Stadt, dennoch an der Heimat festhalten. Oder an dem, was mal Heimat war.
Lotta Vorbeck
Chapeau, Heino Bosselmann!