100 Jahre Joseph Beuys

von Leon Wilhelm Plöcks

PDF der Druckfassung aus Sezession 101/ April 2021

Joseph Beuys war einer der ein­fluß­reichs­ten Künst­ler des 20. Jahr­hun­derts. Am 12. Mai die­ses Jah­res wäre er hun­dert Jah­re alt gewor­den. Gestor­ben ist Beuys 64jährig im Janu­ar 1986. Sei­ne Asche wur­de sym­bol­träch­tig vor Hel­go­land in die Nord­see gestreut.

Bis heu­te gehört Beuys, unge­ach­tet sei­ner unbe­streit­ba­ren kunst- und kul­tur­ge­schicht­li­chen Bedeu­tung, zu den gro­ßen Umstrit­te­nen. Den einen gilt er als Jahr­hun­dert­künst­ler oder Weg­be­rei­ter eines neu­en post­ma­te­ria­lis­ti­schen Zeit­al­ters, ande­ren als Schar­la­tan. Scha­ma­ne, Wan­der­pre­di­ger, Magi­er, Künst­ler-Pro­phet, Anar­chist, Revo­lu­tio­när, Agi­ta­tor, teu­to­ni­scher Buh­mann (so in einer ame­ri­ka­ni­schen Kunst­kri­tik), Spin­ner, poli­ti­scher Dilet­tant – die dem Mann mit Hut ange­hef­te­ten Eti­ket­tie­run­gen gäben Stoff für ein gan­zes Lexikon.

Beuys dürf­te nichts dage­gen gehabt haben, daß er die Gemü­ter erreg­te und die Mei­nun­gen spal­te­te, denn er betrach­te­te die auf sei­ne Per­son gerich­te­ten Pro­jek­tio­nen eher als dien­lich für sei­ne Anlie­gen. Sein Stre­ben war dar­auf aus, Bewe­gung zu erzeu­gen, wo Erstar­rung vor­herrsch­te. Das gilt für die Kunst, im enge­ren Sin­ne ver­stan­den, eben­so wie für das mensch­li­che Den­ken und die Gesell­schaft. Beuys woll­te (wört­lich ver­stan­den) pro­vo­zie­ren, sei­ne Mit­men­schen also her­aus­for­dern, zumin­dest zeit­wei­se ihr Inne­res nach außen zu keh­ren, und ein über das Ratio­na­le hin­aus­ge­hen­des Den­ken und eine dem Wesen des Men­schen ent­spre­chen­de Lebens­form her­vor­ru­fen. Das war, wie könn­te es anders sein, nicht jedem recht und vie­len eben­so ver­däch­tig wie Beuys’ Evo­ka­tio­nen einer unter­ge­gan­ge­nen Welt vol­ler Rät­sel, Mythen, Ritua­le. Als unheim­lich wur­de auch sei­ne Bezug­nah­me auf nach 1945 hoch­gra­dig angst­be­setz­te Area­le des ger­ma­nisch-deut­schen Erbes und des kol­lek­ti­ven Unbe­wuß­ten empfunden.

Beschäf­tigt man sich mit Beuys, begeg­net einem auch immer wie­der der Topos des maß­los von sich über­zeug­ten Selbst­dar­stel­lers. Wer ihn (wie ich) per­sön­lich näher kann­te, weiß indes, daß es Beuys sehr viel mehr um Dar­stel­lung sei­ner Ideen als sei­ner Per­son ging und daß er eine außer­ge­wöhn­li­che Mischung aus Scheu, Herz­lich­keit, Offen­heit und Humor ver­kör­per­te, die weder ein­schüch­ternd noch gar über­heb­lich wirk­te. Er hat­te aller­dings das, was man Sen­dungs­be­wußt­sein nennt, und trat mit krie­ge­ri­scher Ener­gie als geis­ti­ger Weg­wei­ser auf, voll­kom­men über­zeugt von sei­nen Ideen – im Nach­kriegs­deutsch­land eine heik­le Mischung.

Beuys betrach­te­te sein Leben als aus dem Geis­ti­gen ver­kör­per­tes Kunst­werk. Für ihn gab es kei­ne Tren­nung zwi­schen Werk- und Lebens­lauf oder mate­ri­el­ler und geis­ti­ger Rea­li­tät. Folg­lich ver­leg­te er spi­ri­tu­el­le Erfah­run­gen in die mate­ri­el­le Rea­li­tät oder sprach Ereig­nis­sen, die in die­ser statt­fan­den, eine über sie hin­aus­wei­sen­de meta­phy­si­sche Dimen­si­on zu. Nicht nur in die­ser Hin­sicht war Beuys ein deut­scher Roman­ti­ker, der ganz beson­ders von Nova­lis beein­flußt war, bei dem es heißt: »Indem ich dem Gemei­nen einen hohen Sinn« und »dem End­li­chen einen unend­li­chen Schein gebe, so roman­ti­si­re ich es.« Nur hier­aus ent­ste­he »voll­ende­tes Selbstverständnis«.

Beuys’ in die­sem Sin­ne roman­ti­scher Umgang mit sei­nem Lebens­lauf hat vor allem seit sei­nem Tod immer wie­der für Kri­tik und Auf­re­gung gesorgt. Ist er denn nun nach sei­nem Absturz als Bord­fun­ker einer Stu­ka von Tata­ren mit Fett und Filz gepflegt wor­den oder hat er die­se zur Legen­de gewor­de­ne Geschich­te nur erfun­den? Die wahr­schein­lichs­te Ant­wort lau­tet: Beuys hat die Geschich­te nicht in der soge­nann­ten All­tags­rea­li­tät, son­dern in jener geis­ti­gen Wirk­lich­keit, die von Scha­ma­nen und ande­ren Ein­ge­weih­ten »bereist« wird, erlebt und spä­ter in die mate­ri­el­le Dimen­si­on ver­legt. Auf dem Kran­ken­la­ger im Laza­rett trat er, so darf man ver­mu­ten, in einen Bewußt­seins­zu­stand ein, der sol­che Erfah­run­gen ermög­lich­te. Wer zwi­schen Erfin­dung (oder gar Lüge) und Mythos nicht unter­schei­den kann, wird Beuys’ Umgang mit sei­ner Bio­gra­phie, der sich hier exem­pla­risch zeigt, kaum ange­mes­sen erfas­sen kön­nen. In Mythen wer­den tie­fe­re Wahr­hei­ten jen­seits des rein Fak­ti­schen ausgesprochen.

Für Beuys waren der Absturz und das aus ihm resul­tie­ren­de Zer­bers­ten der Form die Vor­aus­set­zun­gen für Trans­for­ma­ti­on und Auf­er­ste­hung – indi­vi­du­ell wie kol­lek­tiv. Was die­se Trans­for­ma­ti­on ermög­licht, ist in sei­ner Begriffs­welt die Wär­me­sub­stanz, womit letzt­lich nichts ande­res als die über­per­sön­li­che kos­mi­sche Lie­be des Chris­tus-Impul­ses gemeint ist. Hier­mit befin­den wir uns schon mit­ten im Beuys­schen Mate­ri­al­kos­mos und sei­ner plas­ti­schen Theo­rie, in der die Pola­ri­tät von Cha­os und Form zen­tral ist. Das von ihm in die Kunst ein­ge­führ­te Fett, das bei Wär­me zer­fließt und bei Käl­te erstarrt, ist ein gera­de­zu idea­les Mate­ri­al, um Bewe­gun­gen zwi­schen die­sen Polen zur Anschau­ung zu brin­gen. Auch der eura­si­sche Hase, dem Beuys einst die Bil­der erklär­te, Beglei­ter der ger­ma­ni­schen Frucht­bar­keits­göt­tin Ost­ara, ist auf­grund sei­ner beson­de­ren Beweg­lich­keit nach Beuys ein »Zei­chen für die Trans­for­ma­ti­on«, um die es in plas­ti­schen Pro­zes­sen geht.

Hase und Fett haben wie vie­les bei Beuys auch bio­gra­phi­sche Bezü­ge. In Kre­feld als ein­zi­ges Kind streng katho­li­scher Eltern – eines Hand­lungs­ge­hil­fen und spä­te­ren Kauf­manns und sei­ner Frau – gebo­ren und in Rin­teln bei Kle­ve länd­lich auf­ge­wach­sen, hat­te Beuys als natur­in­ter­es­sier­ter Jun­ge viel Gele­gen­heit, die für das nie­der­rhei­ni­sche Tief­land typi­schen Feld­ha­sen zu beob­ach­ten. Eine Zeit­lang wohn­te er unweit einer Mar­ga­ri­ne­fa­brik, wo er nach Wunsch sei­ner Eltern arbei­ten soll­te. Als Grund­nah­rungs­mit­tel deut­scher Sol­da­ten und in den Hun­ger­jah­ren nach dem Krieg war Fett Man­gel­wa­re, im kon­kre­ten wie im sym­bo­li­schen Sin­ne. Fett hat bei Beuys inso­fern auch eine his­to­ri­sche Dimen­si­on – Wand­lung und Trans­for­ma­ti­on also auch und beson­ders in einem natio­nal­kol­lek­ti­ven Sinne.

Wenn wir als Volk hei­len wol­len, so könn­te man sei­ne Bot­schaft in die­sem Zusam­men­hang ver­sprach­li­chen, müs­sen wir das durch den tota­len Unter­gang des NS-Regimes und den Krieg her­vor­ge­ru­fe­ne Cha­os als Auf­ruf anneh­men, eine neue Form des Zusam­men­le­bens und der sozia­len Ord­nung zu erschaf­fen. Hier­in sah Beuys in der Tat die beson­de­re Auf­ga­be des deut­schen Vol­kes. »Wenn wir heu­te in Mit­tel­eu­ro­pa anfin­gen, einen den Zeit­for­de­run­gen gemä­ßen Weg des Zusam­men­le­bens […] ein­zu­schla­gen, hät­te dies eine star­ke Aus­strah­lung auf jeden ande­ren Ort der Welt«, heißt es in sei­nem berühmt gewor­de­nen »Auf­ruf zur Alter­na­ti­ve«. Zunächst in der Frank­fur­ter Rund­schau und dann in der natio­nal­re­vo­lu­tio­nä­ren wir selbst erschie­nen, wand­te sich Beuys mit sei­nem Auf­ruf »an alle Men­schen des euro­päi­schen Kul­tur- und Zivi­li­sa­ti­ons­krei­ses«, vor allem aber an die Deut­schen. Die Grund­la­ge für einen Aus­weg aus der in die­sem Text skiz­zier­ten Ökologie‑, Wirt­schafts- sowie Bewußt­seins- und Sinn­kri­se ist nach Beuys, unter aus­drück­li­cher Bezug­nah­me auf den anthro­po­so­phi­schen Sozi­al­for­scher Wil­helm Schmundt, eine Revo­lu­ti­on der Begrif­fe. Schmundt, von Beuys einst als »unser gro­ßer Leh­rer« bezeich­net, war wie die­ser der Über­zeu­gung, daß es die beson­de­re Auf­ga­be des deut­schen Vol­kes »im Chor der Völ­ker« sei, »einen sozia­len Orga­nis­mus in sei­ner Frei­heits­ge­stalt zum Erschei­nen zu bringen«.

Joseph Beuys sah in sei­ner (gesellschafts-)politischen Arbeit, auf deren Grund­la­gen von ihm gepräg­te Begrif­fe ver­wei­sen (frei­er demo­kra­ti­scher Sozia­lis­mus, Erwei­ter­ter Kunst­be­griff und Sozia­le Plas­tik), eine Ant­wort auf die »deut­sche Wun­de«. Die­se war in ihm, der als Jun­ge und jun­ger Mann begeis­tert vom Natio­nal­so­zia­lis­mus gewe­sen war und sich im Zwei­ten Welt­krieg frei­wil­lig zur Luft­waf­fe gemel­det hat­te, gera­de­zu bei­spiel­haft ver­kör­pert. Nach dem Krieg führ­te die Aus­ein­an­der­set­zung mit den »schreck­li­chen Sün­den« des NS-Ras­sis­mus, wie er bei sei­ner »Rede über das eige­ne Land« 1985 in Mün­chen for­mu­lier­te, Beuys in eine tie­fe exis­ten­ti­el­le Kri­se. In die­ser Zeit begann er, die geis­ti­gen Vor­aus­set­zun­gen nicht nur für sei­ne per­sön­li­che, son­dern auch für die kol­lek­ti­ve Hei­lung zu unter­su­chen. Der Weg, aus dem tota­len Zusam­men­bruch auf­zu­er­ste­hen und einen »Hei­lungs­pro­zeß an dem Boden« zu voll­zie­hen, »auf dem wir alle gebo­ren sind«, sag­te er in Mün­chen, füh­re in den »Born des­sen, was wir die deut­sche Spra­che nen­nen«. Aus der Beschrei­bung der Welt »mit wesens­ge­mä­ßen Begrif­fen« wer­de sich, so krank die­se auch sein mag, der Impuls zur Hei­lung erge­ben. In die­sem geis­tig-evo­lu­tio­nä­ren Wir­ken sah Beuys »die Fra­ge nach der Auf­ga­be der Deut­schen in der Welt« auf Grund­la­ge »des deut­schen Geni­us« beantwortet.

Beuys faß­te sei­nen Volks­be­griff nur sel­ten kon­kret in Wor­te. Wenn er Deutsch­land und die Deut­schen mein­te, sprach er meist von Mit­tel­eu­ro­pa, was anthro­po­so­phi­schem Sprach­ge­brauch ent­spricht. Bei einem als Buch publi­zier­ten Gespräch sag­te Beuys, »daß es zwi­schen den Völ­kern auch ver­schie­de­ne Fähig­kei­ten gibt. Jedes Volk hat sei­nen eige­nen Geist«. Die unter­schied­li­chen Fähig­kei­ten der Völ­ker erge­ben sich dem­nach aus dem Geist des Vol­kes, dem Volks­geist. Auf der »Docu­men­ta 5« hielt er im Gespräch mit einem Besu­cher fest, daß es ver­schie­de­ne Völ­ker gebe, weil sich deren Fähig­kei­ten unter­schie­den. »Das ist eine ganz ande­re Volks­see­le.« Die unter­schied­li­chen Fähig­kei­ten der Völ­ker, so Beuys, müß­ten »ganz zur Ent­fal­tung« gebracht wer­den, »damit die Völ­ker mit­ein­an­der arbei­ten kön­nen« und »sich gegen­sei­tig ergän­zen in der Bega­bung«. Man kön­ne am Ver­schwin­den der Völ­ker daher kein Inter­es­se haben. Die in den bei­den Gesprä­chen von Beuys ver­wen­de­ten oder umschrie­be­nen Begrif­fe »Volks­geist« und »Volks­see­le« ver­wei­sen auf den anthro­po­so­phi­schen Volks­be­griff und las­sen an den unter ande­rem durch Hegel vor­be­rei­te­ten uni­ver­sa­lis­tisch gestimm­ten Eth­no­plu­ra­lis­mus den­ken. Über den Volks­be­griff hin­aus war das Werk Rudolf Stei­ners der wich­tigs­te Ein­fluß auf Beuys’ Den­ken. Das gilt eben­so für die wesent­li­chen Inspi­ra­ti­ons­quel­len des­sel­ben, beson­ders ­Goe­the und Nova­lis, das ger­ma­nisch-kel­ti­sche Erbe der Deut­schen, den deut­schen Idea­lis­mus und ein rosen­kreu­ze­ri­sches Christentum.

Beuys wur­de einer brei­ten Öffent­lich­keit nicht allein durch sein weit­ge­spann­tes Œuvre bekannt, das Zeich­nun­gen, Akti­ons­kunst, Objek­te, Raum­in­stal­la­tio­nen und Mul­ti­ples umfaßt und Mate­ria­li­tät, Spra­che und Wahr­neh­mung von Kunst grund­le­gend ver­än­der­te. Beträcht­li­che Auf­merk­sam­keit erreg­te auch sein poli­ti­sches Enga­ge­ment. Des­sen Anfän­ge lie­gen in sei­ner Zeit als Pro­fes­sor für Bild­haue­rei an der Kunst­aka­de­mie Düs­sel­dorf, an der er nach sei­ner Rück­kehr aus bri­ti­scher Kriegs­ge­fan­gen­schaft selbst stu­diert hat­te. Als Aka­de­mie­pro­fes­sor präg­te Beuys mit unkon­ven­tio­nel­len Lehr­me­tho­den nicht nur eine gan­ze Gene­ra­ti­on von Künst­lern, son­dern ging im Ver­ständ­nis sei­ner Leh­rer­rol­le schon bald und im Lau­fe der Jah­re immer ent­schie­de­ner über ästhe­ti­sche Fra­ge­stel­lun­gen hin­aus. Das brach­te ihn zuneh­mend in Kon­flikt mit einem Teil sei­ner Kol­le­gen eben­so wie mit sei­nem Arbeit­ge­ber, dem NRW-Wis­sen­schafts­mi­nis­te­ri­um, und führ­te schließ­lich zu sei­ner frist­lo­sen Ent­las­sung. Deren kon­kre­ter Grund war die fort­ge­setz­te Auf­nah­me einer grö­ße­ren Anzahl von abge­lehn­ten Stu­di­en­be­wer­bern in sei­ne Klas­se und die zwei­ma­li­ge Beset­zung des Sekretariats.

Ein wesent­li­cher Schritt in der Geschich­te von Beuys’ poli­ti­schem Enga­ge­ment war 1967 die Grün­dung der Deut­schen Stu­den­ten­par­tei (DSP), die sich kon­se­quent vom über­hol­ten Rechts-links-Sche­ma abgrenz­te und als Anti- oder Meta­par­tei ver­stand. Die DSP nann­te sich auch »Flu­xus Zone West«. In einer »Flu­xus­zo­ne« (lat. fluo = flie­ßen oder ver­ge­hen) wür­den ver­här­te­te Struk­tu­ren – in die­sem Fall die Domi­nanz der posi­ti­vis­ti­schen Wis­sen­schaft und des Mate­ria­lis­mus – ver­flüs­sigt, um etwas Neu­em Platz zu machen. Die Hin­zu­fü­gung »West« hieß: Die Über­win­dung des west­li­chen Mate­ria­lis­mus soll­te aus die­sem selbst her­vor­ge­hen. Hier­für bedür­fe es nach Beuys’ Anschau­ung einer Erwei­te­rung (nicht einer Auf­lö­sung) des natur­wis­sen­schaft­lich-mate­ria­lis­ti­schen Den­kens. Der geis­ti­ge Impuls hier­für sol­le, so Beuys, vom deut­schen Kul­tur­raum aus­ge­hen. Denn die­sem kom­me eine Brü­cken­funk­ti­on zwi­schen abend­län­di­scher Ratio­na­li­tät und öst­li­cher Spi­ri­tua­li­tät zu.

Zur Zeit der DSP nann­te Beuys die von ihm ange­streb­te Gesell­schafts­form »frei­er demo­kra­ti­scher Sozia­lis­mus«, im wesent­li­chen ein ande­rer Begriff für die von Stei­ner unter dem Ein­druck des Ers­ten Welt­kriegs ent­wor­fe­ne »sozia­le Drei­glie­de­rung«. Sozia­lis­mus ist dabei als Syn­onym für ein Wirt­schafts­le­ben zu ver­ste­hen, in dem das Prin­zip der Brü­der­lich­keit lei­tend ist; das Adjek­tiv »frei« ver­weist auf das dem Geis­tes­le­ben wesens­ge­mä­ße Frei­heits­prin­zip, »demo­kra­tisch« auf die Gleich­be­rech­ti­gung der Staats­bür­ger im Rechts- und Staats­le­ben. Daß Beuys von Sozia­lis­mus sprach, ohne (im geläu­fi­gen Sin­ne) Sozia­lis­mus zu mei­nen, hat sicher­lich zu sei­ner über lan­ge Zeit gän­gi­gen Ver­or­tung im lin­ken poli­ti­schen Spek­trum bei­getra­gen – mehr ein Miß­ver­ständ­nis als eine zutref­fen­de Ein­ord­nung, jedoch von Beuys in Kauf genom­men oder teil­wei­se sogar bewußt erzeugt.

Da Beuys der Auf­fas­sung war, daß eine wie auch immer geform­te mate­ria­lis­ti­sche Welt­an­schau­ung unge­eig­net sei, die gro­ßen Pro­ble­me der Mensch­heit zu lösen und eine dem Wesen des Men­schen gemä­ße Sozi­al- und Gesell­schafts­ord­nung zu begrün­den, trat er für eine Alter­na­ti­ve zum öst­li­chen Staats- und zum west­li­chen Pri­vat­ka­pi­ta­lis­mus ein: für einen Drit­ten Weg. Bei die­sem han­del­te es sich nicht um eine Uto­pie, die auf die Rea­li­tät pro­ji­ziert wer­den soll­te, son­dern um die Beschrei­bung von wesens­mä­ßi­gen Zusam­men­hän­gen mit dafür geeig­ne­ten Begrif­fen. Schon Stei­ner gelang­te (wie nach ihm Beuys) zu der Anschau­ung, daß allein die »inne­re Ein­heit von Reli­gi­on, Kunst und Wis­sen­schaft« geeig­net sei, das geis­ti­ge Fun­da­ment für einen sol­chen Drit­ten Weg zu stif­ten. Krea­ti­vi­tät, so Beuys’ Über­zeu­gung, sei die Kraft, die die­se Ein­heit her­vor­brin­ge und die geis­ti­ge Evo­lu­ti­on des Men­schen tra­ge. »Die Zukunfts­ge­stal­tung am sozia­len Gan­zen« galt ihm daher als »der aller­höchs­te Kunst­be­griff«. Hier­zu sei­en als schöp­fe­ri­sche Wesen alle Men­schen befä­higt und auf­ge­ru­fen. Beuys’ berühm­ter Satz »Jeder Mensch ist ein Künst­ler« bedeu­tet also nicht, daß alle Men­schen Maler oder Dich­ter seien.

Beuys’ poli­ti­sche Akti­vi­tä­ten nah­men in den 1970er Jah­ren rich­tig Fahrt auf. Aus der DSP ging die Orga­ni­sa­ti­on für direk­te Demo­kra­tie her­vor. Einer ihrer Leit­sprü­che lau­te­te: »Wählt nie wie­der poli­ti­sche Par­tei­en; denn die­se ver­tre­ten nicht die Inter­es­sen des Vol­kes, son­dern nur die ihrer Geld­ge­ber!« Das Par­tei­en­sys­tem der soge­nann­ten par­la­men­ta­ri­schen Demo­kra­tie wur­de als Par­tei­en­dik­ta­tur abge­lehnt, weil sie das Volk ent­mün­di­ge. Der Auf­ruf und die Anlei­tung zur Ent­wick­lung geis­ti­ger Mün­dig­keit waren daher ein wesent­li­cher Grund­zug des gesam­ten poli­ti­schen Wir­kens von Beuys. Zu den bri­san­ten For­de­run­gen gehör­te außer­dem: »Ein frei­es Volk gibt sich die Ver­fas­sung selbst!« Hier­mit wur­de dar­auf hin­ge­wie­sen, daß die Bun­des­deut­schen sich ihre Nach­kriegs­ver­fas­sung nicht selbst gege­ben hat­ten und daher als unfrei­es Volk zu betrach­ten sei­en, das sich folg­lich befrei­en müs­se. Für Beuys gehör­te zu die­sem Befrei­ungs­pro­zeß ele­men­tar die »freie, demo­kra­ti­sche, sozia­le Volks­ab­stim­mung«, mit der »das sou­ve­rä­ne Volk« über die zen­tra­len Fra­gen des Gemein­we­sens ent­schei­den solle.

Trotz der ableh­nen­den Hal­tung, die Beuys dem Par­tei­en­sys­tem gegen­über ein­nahm, kan­di­dier­te er, um sei­ne Ideen an die Men­schen zu brin­gen, bei den Bun­des­tags­wah­len 1976 auf einem Lis­ten­platz der volks­kon­ser­va­tiv, anti­ka­pi­ta­lis­tisch und natio­nal­neu­tra­lis­tisch aus­ge­rich­te­ten Akti­ons­ge­mein­schaft Unab­hän­gi­ger Deut­scher (AUD). Eini­ge von deren maß­geb­li­chen Prot­ago­nis­ten spiel­ten wie Beuys eine wich­ti­ge Rol­le in der Grün­dungs­pha­se der Grü­nen. Nach­dem Beuys gemein­sam mit Petra Kel­ly NRW-Lan­des­wahl­kampf­ver­an­stal­tun­gen für die Grü­nen absol­viert hat­te, aber 1983 für die Bun­des­tags­wahl nicht auf einem vor­de­ren Lis­ten­platz auf­ge­stellt wor­den war, zog er sich zurück. Beuys’ enger Mit­ar­bei­ter Johan­nes Stütt­gen stell­te in einem Bei­trag für wir selbst fest, die Bun­des­deut­schen sei­en wie die Grü­nen und umge­kehrt, das sei das Schlimms­te, was man über bei­de sagen kön­ne. Ihre Gemein­sam­keit: »Statt sich in ihr Eige­nes zu bege­ben, suchen sie« – unfä­hig, sich zu sich selbst und ihrer Iden­ti­tät zu beken­nen – »Bequem­lich­keit im Fremden.«

Beuys’ ver­blei­ben­de Jah­re bis zu sei­nem Tod waren von einer zuneh­men­den Distan­zie­rung von der Poli­tik geprägt. »Mir wird der Begriff des Poli­ti­schen immer unmög­li­cher«, gab er in einem Inter­view kund.

Als Beuys, geschwächt von einer im Mai 1985 dia­gnos­ti­zier­ten Lun­gen­er­kran­kung, starb, ende­te sein Leben, wie er es sich eige­nen Aus­sa­gen zufol­ge gewünscht hat­te: Er hat­te sich völ­lig ver­braucht und sei­ne Lebens­kraft bis zum aller­letz­ten Rest im Dienst einer über die Per­son hin­aus­ge­hen­den Sache erschöpft. Die Fra­gen, die er stell­te, und sei­ne Weg­wei­sun­gen hin zu einer frei­en, schöp­fe­ri­schen und nicht­ma­te­ria­lis­ti­schen mensch­li­chen Lebens­form sind heu­te aktu­el­ler denn je. Sie sind eben­so wie unse­re Auf­ga­be als Deut­sche alles ande­re als erle­digt. Es ist daher an der Zeit, die sozia­le Fra­ge auch und gera­de von rechts (wie­der) in ihrer gan­zen Dring­lich­keit zu stel­len. Die von Beuys ent­wi­ckel­ten Ideen­zu­sam­men­hän­ge bie­ten hier­zu (nach wie vor zu wenig oder zu ober­fläch­lich beach­te­te) Ansät­ze, die es neu zu erfor­schen und zu bele­ben gilt.

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