Lob der akademischen Unwissenheit

PDF der Druckfassung aus Sezession 101/ April 2021

Ein Gespräch mit David Good­hart, Matthew Craw­ford und Richard Sennett.

Die­ses Gespräch führ­te Tho­mas Hen­ne­tier im Auf­trag der Zeit­schrift élé­ments für deren 187. Aus­ga­be (Dezem­ber 2020/Januar 2021). Die Über­set­zung besorg­te Chris­ta Nit­sch. Wir dan­ken der Pari­ser Redak­ti­on für die Abdruckerlaubnis.

Soll­te uns der Coro­na-Lock­down die Augen geöff­net haben über die abstru­se Hier­ar­chie der Beru­fe? Denn wir erle­ben gera­de jetzt, wie die unqua­li­fi­zier­tes­ten und am schlech­tes­ten bezahl­ten Arbei­ter dafür sor­gen, daß die Gesell­schaft nicht zusam­men­bricht, wäh­rend die an renom­mier­ten Uni­ver­si­tä­ten aus­ge­bil­de­ten Kader zu Hau­se blei­ben kön­nen. Gemein­sam mit drei ange­se­he­nen Intel­lek­tu­el­len wol­len wir die­se Fra­ge zu beant­wor­ten versuchen.

In sei­nem Essay The Road to Some­whe­re, wie auch in einem Gespräch (»Irgend­wo inmit­ten von Nir­gend­wo«, ver­öf­fent­licht in Sezes­si­on 95), beschreibt David Good­hart die Spal­tung, die das demo­kra­ti­sche Gleich­ge­wicht in der Welt bedroht: die Any­whe­res (Über­all-Men­schen) füh­ren die Ver­än­de­run­gen her­bei, die sie den Some­wheres (Ort-Men­schen) auf­hal­sen. Der Grün­der des bri­ti­schen Maga­zins Pro­s­pect ver­folgt die­se Spur wei­ter und kommt auch in sei­nem jüngst erschie­ne­nen Buch, Head Hand Heart: The Strugg­le for Digni­ty and Sta­tus in the 21st Cen­tu­ry (Allen Lane 2020, zu deutsch etwa: Haupt Hand Herz: Der Kampf um die Wür­de und den sozia­len Sta­tus im 21. Jahr­hun­dert), dar­auf zurück. Nach Good­harts Auf­fas­sung wird in unse­rer Gesell­schaft die kogni­ti­ve Intel­li­genz der Eli­te, begrün­det durch IQ und schu­li­schen Erfolg in (geis­tes) wis­sen­schaft­li­chen Fächern, über­be­wer­tet, wäh­rend Hand­werks- oder Pfle­ge­be­ru­fe (»Hand« und »Herz«) – deren Wich­tig­keit in der jet­zi­gen Gesund­heits­kri­se augen­fäl­lig wur­de – zu kurz kommen.

Um mit ihm zu debat­tie­ren, haben wir zwei ame­ri­ka­ni­sche Intel­lek­tu­el­le ein­ge­la­den, den Phi­lo­so­phen Matthew Craw­ford und den Sozio­lo­gen Richard Sen­nett, einen ehe­ma­li­gen Schü­ler von Han­nah Are­ndt, den Craw­ford (lie­be­voll) als einen »Alt­lin­ken« bezeich­net. Ihre jewei­li­gen Bücher, Ich schrau­be, also bin ich und Hand­werk, zei­gen, daß die hand­werk­li­che Arbeit uns erlaubt, wie­der mit der Wirk­lich­keit in Kon­takt zu tre­ten in einer Zeit, in der uns alles von ihr zu ent­fer­nen ver­sucht. Ein Ein­tau­chen also ins angel­säch­si­sche intel­lek­tu­el­le Uni­ver­sum, in dem der Geist der kol­le­gia­len Kame­rad­schaft, gefes­tigt sogar durch Fami­li­en­ban­de (Sen­nett und Good­hart sind Cou­sins), weder Wider­spruch noch spöt­ti­schen Humor ausschließt!

 

Tho­mas Hen­ne­tier: »Errich­ten wir kei­ne neu­en Uni­ver­si­tä­ten!« sagt David Good­hart, wenn er die Über­qua­li­fi­ka­ti­on und die wirt­schaft­li­che wie poli­ti­sche Inef­fi­zi­enz beklagt, die in den Uni­ver­si­tä­ten erzeugt wird. Glau­ben Sie, daß solch ein Aus­spruch für die Bevöl­ke­rung, vor allem für die jun­gen Leu­te, annehm­bar ist und von den Zustän­di­gen in der Poli­tik über­nom­men wer­den könnte?

 Matthew Craw­ford: Ein sol­cher Vor­schlag ist natür­lich radi­kal ange­sichts der zen­tra­len Stel­lung, die die Uni­ver­si­tät inner­halb eines Sys­tems ein­nimmt, in dem die tech­no­kra­ti­sche Exper­ti­se mit dem Anspruch mora­li­scher Über­le­gen­heit ein­her­geht. Diplo­me sol­len Intel­li­genz attes­tie­ren, und Intel­li­genz ist Sinn­bild für Domi­nanz wie für kul­tu­rel­le Iden­ti­tät, und zwar die meri­to­kra­ti­sche Iden­ti­tät. In die­sem Welt­bild ist Vor­bild­lich­keit nicht Ergeb­nis unse­rer Hand­lun­gen, son­dern folgt aus dem »rich­ti­gen Den­ken«, aus den »kor­rek­ten« Mei­nun­gen, die wir haben. Die­se Vor­stel­lung erlaubt denen, die sie pre­di­gen, poli­ti­sche Aus­sa­gen zu täti­gen, ohne dabei die eige­ne Haut zu Mark­te zu tra­gen oder, wie man in den USA sagen wür­de, »skin in the game« zu haben. Man tätigt soge­nann­te mora­lisch abge­si­cher­te, poli­ti­sche Aus­sa­gen, ist aber für das Cha­os und die Funk­ti­ons­stö­run­gen, die aus ihnen fol­gen, nicht zustän­dig … Man ver­wan­delt die staat­li­chen Schu­len in Brut­stät­ten des Ras­sen­has­ses, schickt aber die eige­nen Kin­der auf Pri­vat­schu­len … Man dele­gi­ti­miert die Poli­zei, wäh­rend die töd­li­chen Aus­schrei­tun­gen auf Stadt­vier­tel beschränkt blei­ben, in die man nie einen Fuß set­zen wür­de … So han­deln nun mal Ästhe­ten. Ohne Uni­ver­si­tä­ten, die die­se angeb­li­che Vor­bild­lich­keit unter­stüt­zen und näh­ren – gäbe es denn das alles über­haupt? Was David hier also sagt, ist zutiefst sub­ver­siv. David, Sie sind ein Anarchist!

Richard Sen­nett: Ich stim­me mit David in zwei Punk­ten über­ein. Leu­te, die einen kör­per­li­chen Beruf aus­üben oder das, was man land­läu­fig »Drecks­ar­beit« nennt, füh­len sich her­ab­ge­setzt, wenn sie hören müs­sen, daß ihre Arbeit kei­ne höhe­re Aus­bil­dung erfor­dert. Sol­che Arbeit erfor­dert eben eine anders­ge­ar­te­te Aus­bil­dung. In Groß­bri­tan­ni­en gab es frü­her tech­ni­sche Hoch­schu­len, die sich bei ihrer Jagd nach Pres­ti­ge und För­der­mit­teln in her­kömm­li­che Uni­ver­si­tä­ten ver­wan­delt haben. David und ich sähen es nun lie­bend gern, wenn die soge­nann­ten poly­tech­ni­schen, einst berühm­ten Hoch­schu­len zu neu­em Leben erweckt wür­den. Man ver­mit­tel­te dort eine Hoch­schul­bil­dung, die dem in Uni­ver­si­tä­ten ver­mit­tel­ten Wis­sen hin­sicht­lich des Anse­hens in nichts nach­stand. Kon­kre­te Pra­xis­be­zo­gen­heit gilt aber heu­te als weni­ger wert­voll als nicht­kör­per­li­che Arbeit wie etwa die Aus­bil­dung zum Unter­neh­mens­be­ra­ter, Medi­en­mit­ar­bei­ter etc. Ich tei­le übri­gens mit David die Fest­stel­lung, daß die Uni­ver­si­tät Leu­te mit nutz­lo­sen Beru­fen her­an­züch­tet – das aber ist ein ande­res Thema.

Ande­rer­seits erscheint mir der Gedan­ke, daß den Leu­ten eine Hoch­schul­bil­dung vor­ent­hal­ten wer­den soll­te, abgrund­tief ver­kehrt. Der Gegen­satz, den David zwi­schen den Eli­ten und den Hand­wer­kern auf­macht, ist eine unzu­läs­si­ge Ver­ein­fa­chung, ja tota­ler Non­sens. Es ist ein Feh­ler, die Fra­ge so zu stel­len. Wir sind nicht dazu ver­ur­teilt, zwi­schen der Anstel­lung bei McK­in­sey und dem Klemp­ner­da­sein zu wäh­len, das ist absurd. Die wirt­schaft­li­che Ent­wick­lung wird die Zahl der nicht­ma­nu­el­len Beschäf­ti­gun­gen immer wei­ter zurück­drän­gen, und der Blick, mit dem die Gesell­schaft die Hand-Arbei­ter betrach­tet, wird sich ändern. Die Künst­li­che Intel­li­genz (KI) wird vor allem die Büro­an­ge­stell­ten aus­boo­ten. Jemand, der hin­ge­gen Kran­ken­schwes­ter, Mau­rer oder Gla­ser ist, befin­det sich in grö­ße­rer Sicher­heit. Der sprin­gen­de Punkt ist also: Was rich­tet der fle­xi­ble Kapi­ta­lis­mus mit der akti­ven Bevöl­ke­rung an? Die Tren­nung ver­läuft nicht line­ar zwi­schen den Eli­ten und den Leu­ten »von unten«.

David Good­hart: Ich will mei­nen Stand­punkt ver­deut­li­chen: Die Umfra­gen – zumin­dest jene in den USA und in Groß­bri­tan­ni­en – zei­gen, daß ein Groß­teil der Bevöl­ke­rung die Mas­sen­hoch­schul­bil­dung nicht schätzt. Aber dir muß klar sein, Richard: Ich schla­ge kei­nes­wegs vor, daß wir mit der För­de­rung der Hoch­schul­bil­dung auf­hö­ren sol­len. Ich behaup­te nur, daß zu vie­le Gel­der in einen ein­zi­gen Typus von nach­schu­li­scher Aus­bil­dung geflos­sen sind, näm­lich in die klas­si­sche Uni­ver­si­tät samt ihrer Voll­zeit­be­schäf­ti­gung, ihrem min­des­tens für drei bis vier Jah­re vor­ge­se­he­nen Lehr­plan, ihrer Bevor­zu­gung von For­men aka­de­mi­schen Ler­nens. Die Leu­te, die wei­ter­hin die­sen Typus der Wis­sens­ver­mitt­lung för­dern, tun dies in Erin­ne­rung an ihre eige­nen Erfah­run­gen von vor drei­ßig oder vier­zig Jah­ren, als die Uni­ver­si­tät tat­säch­lich noch ein eli­tä­res Pro­jekt war. Heu­te muß man jedoch fest­stel­len, daß das Sys­tem kon­tra­pro­duk­tiv ist. Die Ein­künf­te der Absol­ven­ten, und damit das zusätz­li­che Geld, das ein Uni­ver­si­täts­ab­schluß ein­brin­gen soll, ver­rin­gern sich zuse­hends, immer mehr Uni­ver­si­täts­ab­gän­ger neh­men Jobs an, für die kein Uni­di­plom nötig ist. Wir haben bei den Hoch­schul­ab­sol­ven­ten fal­sche Hoff­nun­gen genährt, wäh­rend uns gleich­zei­tig qua­li­fi­zier­te Ange­stell­te im Tech­nik- und Pfle­ge­sek­tor emp­find­lich abgehen.

 

Hen­ne­tier: David Good­hart, inwie­fern über­lap­pen sich ein Ihrer Fest­stel­lung nach zu gro­ßes Ungleich­ge­wicht zuguns­ten des »Haup­tes« und die Auf­spal­tung in Some­whe­res und Any­whe­res, die Sie in Ihrem vor­an­ge­gan­ge­nen Buch beschrie­ben haben?

Good­hart: Die zwei The­men sind mit­ein­an­der ver­quickt. Die Auf­wer­tung des »Haup­tes« kommt dem Welt­bild der Any­whe­res zugu­te, denn sie ent­spricht dem frei­en Ver­kehr von Ideen und Men­schen und paßt auf natür­li­che Wei­se zur geo­gra­phi­schen Mobi­li­tät, zur sozia­len Fluk­tua­ti­on im all­ge­mei­nen. Die abs­trak­ten, ana­ly­ti­schen Kom­pe­ten­zen sind an und für sich mobi­ler als die eher boden­stän­di­gen und kon­kre­ten Kom­pe­ten­zen von »Hand« und »Herz«.

 

Hen­ne­tier: Matthew Craw­ford, Richard Sen­nett, tei­len Sie die Ansicht, daß »Haupt« und »Hand« sowohl intel­lek­tu­ell als auch sozi­al von­ein­an­der geschie­den sind und daß die­se Spal­tung zum poli­ti­schen Bruch führt und die sozia­le Distanz vergrößert?

Craw­ford: Ja, inso­fern die, wie ich vor­hin sag­te, meri­to­kra­ti­sche und tech­no­kra­ti­sche Kas­te ihre kul­tu­rel­le und mora­li­sche Iden­ti­tät der übri­gen Bevöl­ke­rung aufnötigt.

Sen­nett: David hat sich in sei­nem Kopf einen Feind zusam­men­ge­bas­telt, der jenem von Donald Trump nicht unähn­lich ist, ich mei­ne damit das »Estab­lish­ment«, die »Eli­ten«, die das Volk ver­ach­ten, die Inter­na­tio­na­lis­ten sind, die nir­gends wirk­lich zu Hau­se sind. Denn, wie Sie wis­sen, ist David auch ein gro­ßer Kri­ti­ker der Ein­wan­de­rung. Aber ich wie­der­ho­le es gern: Der sprin­gen­de Punkt liegt woan­ders, auf jeden Fall ist er nicht in solch reduk­tio­nis­ti­scher und linea­rer Wei­se zu fas­sen. Was mich betrifft – ich sag­te es bereits – so zie­he ich es vor, im Hand­werk etwas zu sehen, das zwi­schen kör­per­li­cher und nicht­kör­per­li­cher Arbeit eine Brü­cke zu schla­gen imstan­de ist.

 

Hen­ne­tier: Der ver­stor­be­ne David Grae­ber beklag­te in sei­ner Ana­ly­se der Bull­shit Jobs das Gesetz, dem zufol­ge ein Beruf, je nütz­li­cher er sich für die Gesell­schaft erweist, um so schlech­ter bezahlt ist. Die Coro­na-Kri­se hat die­ses Gesetz nur bestä­tigt. Glau­ben Sie, daß die gegen­wär­ti­ge Gesund­heits­kri­se eine nach­hal­ti­ge Wie­der­auf­wer­tung der »Herz«- und der »Hand«-Berufe zur Fol­ge haben wird?

Sen­nett: Ja, ich glau­be, daß jetzt die Gele­gen­heit einer Wie­der­auf­wer­tung die­ser Beru­fe da ist.

Craw­ford: Unglück­li­cher­wei­se, Richard, haben wir eine schier gren­zen­lo­se Bega­bung, Din­ge schnell wie­der zu ver­ler­nen, die wir wäh­rend einer Kri­se erlernt haben.

Good­hart: Wenn ihr mich fragt, hat die Coro­na-Kri­se die­ses amü­san­te, wenn auch nach mei­nem Dafür­hal­ten eher stu­pi­de »Gesetz« von David Grae­ber nicht bestä­tigt. Vie­le For­scher, die ein neu­es Wis­sen her­vor­brin­gen, das wir als Gat­tung nötig haben – die Her­stel­lung des Impf­stoffs zuvör­derst! –, wer­den sehr gut bezahlt und ver­die­nen es auch. Ärz­te und Kran­ken­schwes­tern, denen wir ganz zu Anfang der Pan­de­mie offen Bei­fall zoll­ten, sind sehr nütz­lich und eher gut bezahlt. Der Erfin­der eines neu­en Mala­ria­ge­gen­mit­tels oder der Archi­tekt, der ein neu­es Gebäu­de ent­wirft, wer­den auch bes­ser bezahlt als eine Büro­rei­ni­gungs­kraft – und das ist nur selbst­ver­ständ­lich! Es stimmt zwar, daß Schlüs­sel­ar­beits­kräf­te, die kei­ne Uni­ver­si­täts­ab­gän­ger sind, wäh­rend der Kri­se eben­falls beklatscht wur­den, und damit an die Wich­tig­keit gewis­ser »Basis«-Berufe erin­nert wur­de. Wir sind uns unse­rer Abhän­gig­keit von Super­markt­an­ge­stell­ten, Zulie­fe­rern und Müll­män­nern bewußt gewor­den. Die­se Jobs waren nie all­zu gut bezahlt, waren auch nie in beson­de­rer Wei­se sinn­stif­tend; wenn sie aber kor­rekt ent­gol­ten wer­den und die­se Leu­te gerech­te und fai­re Vor­ge­setz­te haben, man ihnen Auf­stiegs­mög­lich­kei­ten in Aus­sicht stellt, kön­nen sol­che Jobs durch­aus eini­ger­ma­ßen attrak­tiv sein, und schließ­lich fin­den vie­le Leu­te ja ihren Lebens­sinn außer­halb der Arbeit. Am wich­tigs­ten ist doch, die Leu­te emp­fin­den zu las­sen, daß sie mit dem, was sie tun, einen nütz­li­chen Bei­trag leis­ten und daß die ande­ren sie aner­ken­nen. In die­ser Hin­sicht hat die Pan­de­mie erheb­lich zur Aner­ken­nung von »Herz« und »Hand« beigetragen.

 

Hen­ne­tier: In der Schu­le ist die tra­di­tio­nel­le Wis­sens­ver­mitt­lung – egal, ob es sich dabei um intel­lek­tu­el­les oder tech­ni­sches Wis­sen han­delt – den neu­en »schü­ler­zen­trier­ten« päd­ago­gi­schen Metho­den gewi­chen, die der Fähig­keit zum »Ler­nen, wie man lernt« und ähn­li­chen Kom­pe­ten­zen den Vor­zug geben. Gerei­chen die­se Metho­den, mit denen man angeb­lich dem Eli­tis­mus den Kampf ansag­te, nicht gera­de den begab­tes­ten Schü­lern zum Vorteil? 

 Craw­ford: Man lernt nicht den­ken ohne einen Stoff, über den man nach­denkt! Die Ver­wer­fung des Aus­wen­dig­ler­nens war ein Feh­ler. Erst wenn dein Gehirn über einen kon­kre­ten Wis­sens­be­stand ver­fügt, kannst du damit anfan­gen, Ideen mit­ein­an­der zu ver­knüp­fen und Zusam­men­hän­ge her­zu­stel­len; erst dadurch wird die Krea­ti­vi­tät geweckt. Lei­der gab man der Mode des »expres­si­ven Indi­vi­dua­lis­mus« nach und der dar­aus abge­lei­te­ten Idee, daß Krea­ti­vi­tät das Her­vor­bre­chen einer mys­te­riö­sen Kraft sei, die ein jeder von uns bereits seit der Geburt mit sich tra­ge. Die­se Mode woll­te zudem die offen­sicht­lich unglei­che Lern­be­fä­hi­gung der Schü­ler ver­schlei­ern. Sie haben recht: Sobald man die tra­di­tio­nel­le Wis­sens­ver­mitt­lung zurück­stutzt, sind Schü­ler, die von zu Hau­se weni­ger Wis­sen mit­brin­gen, benach­tei­ligt. So ent­schei­det eben ein Schul­sys­tem, das mit mora­li­schem und demo­kra­ti­schem Hal­tung-Zei­gen beschäf­tigt ist – und all jene, denen es eigent­lich die­nen soll­te, haben dabei das Nachsehen.

Die »Schü­ler­zen­triert­heit« ist das Gegen­teil von Erzie­hung, latei­nisch edu­ca­tio, wobei letz­te­re ja gera­de bedeu­tet, daß ein Her­aus­ge­hen bewirkt wird, ein Her­aus­füh­ren aus dem Ich. Die­se neue Idee aber stammt sicher­lich aus den Ver­ei­nig­ten Staa­ten. Begin­nend mit John Dew­eys Epo­che (Päd­ago­ge der »demo­kra­ti­schen Erziehungs«-Theorie – A. d. Ü.) vor gut einem Jahr­hun­dert, wur­den ame­ri­ka­ni­sche Schu­len zu Labo­ra­to­ri­en, aus denen die pro­gres­sis­ti­schen Ideen über den Men­schen her­vor­gin­gen. Ich aber den­ke, daß ein Kind aus­neh­mend intel­li­gent sein kann, ohne gleich ein »Schul­tem­pe­ra­ment« haben zu müs­sen, eine Intel­li­genz also, die auf die Beherr­schung einer in einem Buch auf­be­rei­te­ten Infor­ma­ti­on aus­ge­rich­tet ist. Aus his­to­ri­scher Per­spek­ti­ve ist der Stu­dent, der Intel­lek­tu­el­le eine aty­pi­sche Spe­zi­es, die erst recht spät in Erschei­nung trat. Aber über die Jah­re hat sie sich als uni­ver­sel­les Modell der Wis­sens­an­eig­nung eta­bliert: Man setzt sich an den Schreib­tisch. Vie­le Schü­ler lang­wei­len sich in der Schu­le zu Tode, weil ihnen ihr Sinn nicht ein­gän­gig ist. Aber gibt man ihnen die Chan­ce, einen Renn­wa­gen zusam­men­zu­bau­en, wird so man­cher Jun­ge sofort wie­der quicklebendig.

Good­hart: Rich­tig. Ein Unter­richts­pro­gramm, das auf kon­kre­ter Wis­sens­ver­mitt­lung fußt, ist für mit­tel­mä­ßi­ge und schwa­che Schü­ler, die durch den »schü­ler­zen­trier­ten« Unter­richt oft nur ver­wirrt wer­den, weit frucht­ba­rer. Der »schü­ler­zen­trier­te« Unter­richt begüns­tigt jene Schü­ler, die eine leb­haf­te Auf­fas­sungs­ga­be besit­zen und bereits in den intel­lek­tu­el­len Kom­pe­ten­zen, die die­se Metho­den erfor­dern, ver­siert sind.

Sen­nett: Erlau­ben Sie mir, ein wei­te­res Mal eine abwei­chen­de Mei­nung zu äußern. David sug­ge­riert uns in sei­nem Buch, daß sich das Eli­ten­wis­sen auf den Lern­pro­zeß (ler­nen, wie man lernt) kon­zen­trie­re im Gegen­satz zu jenen Leu­ten, die sich in Jobs ein­ar­bei­ten oder sach­be­zo­ge­ne Fer­tig­kei­ten erwer­ben. David, du müß­test eini­ge Tage am MIT (Mas­sa­chu­setts Insti­tu­te of Tech­no­lo­gy, Tech­ni­sche Hoch­schu­le in Cam­bridge, Mas­sa­chu­setts – A. d. Ü.) zubrin­gen oder – was die Geis­tes­wis­sen­schaf­ten betrifft – an mei­ner alten Uni­ver­si­tät in Cam­bridge (gemeint ist Har­vard – A. d. Ü.). Was soll bloß die­se heil­lo­se Ver­men­gung? Eli­ten­wis­sen ist kei­nes­wegs nur hoh­les Gere­de! Du bist mein Cou­sin, und ich hab dich sehr gern, aber da bist du nun wirk­lich auf dem Holzweg!

Was ich hin­ge­gen sehe, ist, daß wir davor zurück­schre­cken, Stu­den­ten kom­pli­zier­ten Lern­stoff zuzu­mu­ten, weil wir uns dar­an gewöhnt haben, sie als Kon­su­men­ten zu betrach­ten. Beden­ken wir ein­mal die wirt­schaft­li­chen Impli­ka­tio­nen die­ses Phä­no­mens: Ein Gut­teil der höhe­ren Lehr­an­stal­ten sind in der Tat abhän­gig von Stu­di­en­ge­büh­ren. Nun, eine der Metho­den, die Attrak­ti­vi­tät sol­cher Ein­rich­tun­gen zu stei­gern, besteht dar­in, nicht all­zu vie­le Mühen ein­zu­for­dern und dem »Publi­kum« mehr Ver­gnü­gungs­mög­lich­kei­ten als Anstren­gun­gen zu bie­ten. Das aber hat nichts mit Eli­tis­mus oder den Eli­ten zu tun. Ich habe Hoch­schul­se­mi­na­re gelei­tet und muß­te schnell fest­stel­len, daß die Stu­den­ten mehr oder weni­ger davon über­zeugt waren, den Auf­ga­ben­stel­lun­gen nicht gewach­sen zu sein, und wohl bes­ser gefah­ren wären, wenn sie die ein­fachs­ten Kur­se belegt hät­ten. Ihnen war ein­ge­trich­tert wor­den, daß sie unfä­hig sind.

 

Hen­ne­tier: Matthew Craw­ford, Richard Sen­nett, vor zehn Jah­ren stimm­ten Sie das Lob­lied der hand­fes­ten Kul­tur an und tra­ten für eine Auf­he­bung der Unter­tei­lung in prak­ti­sche und Eigen­küns­te einer­seits und Freie Küns­te ande­rer­seits ein. Haben Sie den Ein­druck, daß sich die Din­ge in Ihrem Sin­ne ent­wi­ckelt haben? Erfährt die Hand­werks­ar­beit gera­de eine Aufwertung?

Craw­ford: In mei­nem Buch Ich schrau­be, also bin ich rich­te­te ich mein Augen­merk weni­ger auf das, was man land­läu­fig (Kunst)Handwerk nennt, als viel­mehr auf jene Beru­fe qua­li­fi­zier­ter Arbei­ter, die unse­re »phy­si­sche Infra­struk­tur« am Lau­fen hal­ten und die ihrer Arbeit manch­mal eine uner­war­te­te ästhe­ti­sche Dimen­si­on hin­zu­fü­gen. Der (Kunst) Hand­wer­ker und der Berufs­ar­bei­ter befin­den sich kei­nes­wegs in der­sel­ben Lage. Der (Kunst) Hand­wer­ker for­dert Sub­ven­tio­nen von Stif­tun­gen oder dem Kunst­hand­werks­rat in staat­li­cher Trä­ger­schaft, dem die Bewah­rung der tra­di­tio­nel­len Tech­ni­ken obliegt. Er wird oft dazu ange­hal­ten, dar­über zu berich­ten, war­um er das Leben eines Aus­stei­gers gewählt hat, wie es dazu kam, daß er einen gut­be­zahl­ten Job in lei­ten­der Posi­ti­on an den Nagel häng­te, um Bio­kä­se oder ähn­li­ches her­zu­stel­len. Er ist bei­na­he gezwun­gen, über sozia­le Netz­wer­ke zu kom­mu­ni­zie­ren. Sei­ne »per­sön­li­che Geschich­te« wird zum inte­gra­len Bestand­teil des Pro­dukts, das er ver­kauft. Glau­ben Sie nicht, daß ich in irgend­ei­ner Wei­se sei­ne Authen­ti­zi­tät in Fra­ge stel­len woll­te, ich gehe sogar spon­tan immer davon aus, daß er in bes­ter Absicht han­delt. Ich stel­le bloß eine Beob­ach­tung über die Rich­tung an, in die der wirt­schaft­li­che Umgang mit Kunst­hand­werks­pro­duk­ten zu gehen scheint.

Wenn hin­ge­gen Was­ser durch Ihre Zim­mer­de­cke sickert, sche­ren Sie sich einen Teu­fel um die Auto­bio­gra­phie Ihres Klemp­ners, Sie sind viel­mehr bereit, ihm einen fet­ten Scheck aus­zu­fül­len, damit er so schnell wie mög­lich kom­men möge, um den Scha­den zu behe­ben. Ein sol­cher Klemp­ner muß sei­ne Hoff­nung nicht dar­an hän­gen, auf Insta­gram viral zu gehen. Er ist von kei­ner Per­so­nal­ab­tei­lung abhän­gig, die von ihm for­dert, die Spra­che und den Riten­ka­ta­log der poli­ti­schen Kor­rekt­heit zu befol­gen. In wie vie­len Beru­fen erfährt man heut­zu­ta­ge die Freu­de und den Stolz, die die Unab­hän­gig­keit zu gewäh­ren ver­mag? Solch einer Ehre konn­te sich frü­her nur der Aris­to­krat rüh­men. In Ich schrau­be, also bin ich behaup­te ich, daß die »Drecks­ar­beit« aris­to­kra­tisch ist und der Zyni­ker Dio­ge­nes zu ihrem Mas­kott­chen wer­den könnte.

Im Mit­tel­al­ter mach­te man tat­säch­lich einen Unter­schied zwi­schen artes libe­ra­les und artes mecha­ni­cae, den Frei­en Küns­ten und den prak­ti­schen Küns­ten, den Eigen­küns­ten. Ers­te­re kenn­zeich­ne­ten den frei­en Mann, letz­te­re waren dem Unfrei­en vor­be­hal­ten, der zu ihrer Aus­übung gezwun­gen war. Die­se Auf­tei­lung war in der poli­ti­schen Öko­no­mie der mit­tel­al­ter­li­chen Stadt sinn­voll. Die Din­ge haben sich aber geän­dert: Ich habe gezeigt, daß sich der Hand­ar­bei­ter einer gewis­sen Frei­heit erfreu­en kann, wäh­rend für vie­le intel­lek­tu­el­le »Arbei­ter« mit Uni­ver­si­täts­ab­schluß im Gegen­satz dazu das Lakai­en­tum cha­rak­te­ris­tisch wur­de. Die Uni­ver­si­tät spielt die Rol­le des »Sesam, öff­ne dich!«, das den Ein­tritt in die Mit­tel­schicht ermög­licht, und der Unter­richt, der einem dort zuteil wird, ähnelt weni­ger einer Unter­wei­sung in geis­ti­ger Frei­heit als viel­mehr einer ideo­lo­gi­schen Schu­lung, die unab­ding­bar ist, wenn man eine Funk­ti­on in einem der diver­sen Ver­wal­tungs­äm­ter der Gesell­schaft aus­üben will.

Die im klas­si­schen Wort­sinn Frei­en Küns­te behal­ten als Kon­zept wei­ter­hin ihre Gül­tig­keit, man kann wei­ter­hin Shake­speare lesen und dar­über in Ent­zü­cken gera­ten, erschüt­tert wer­den auf­grund eines tie­fe­ren Begrei­fens des mensch­li­chen Daseins, Dank­bar­keit emp­fin­den für die uns von der Welt geschenk­ten schö­nen Din­ge. Lei­der aber ist die Uni­ver­si­tät nicht der Ort, an dem man sol­che Erfah­run­gen machen kann, zumin­dest nicht in der eng­lisch­spra­chi­gen Welt.

Sen­nett: In mei­nem Buch Hand­werk habe ich den ver­meint­li­chen Gegen­satz zwi­schen Frei­en Küns­ten und dem Hand­werk ent­larvt. Auf­grund mei­ner Aus­bil­dung bin ich phi­lo­so­phisch gese­hen ein Ver­tre­ter des Prag­ma­tis­mus, und ich weiß, daß die Bear­bei­tung von Objek­ten engs­tens mit dem intel­lek­tu­el­len Pro­zeß ver­knüpft ist. Die Ver­bin­dung zwi­schen »Haupt« und »Hand« ist so eng, daß jede fein säu­ber­li­che Tren­nung die­ser bei­den Begrif­fe unfrucht­bar und müßig ist. Mein Ein­wand gegen David Good­hart ist also in die­sem Punkt ein grundsätzlicher.

Erfährt die Hand­werks­ar­beit gera­de eine Auf­wer­tung? Ja, ich bin die­ser Mei­nung. Und dies um so mehr, als Hand­werk für mich vor allem eins bedeu­tet: sei­ne Arbeit gut zu tun, im Bereich der manu­el­len Tätig­kei­ten wie in allen ande­ren. Mathe­ma­ti­ker und Natur­wis­sen­schaft­ler kön­nen damit zu den guten Hand­wer­kern gezählt wer­den. Ich woll­te dar­le­gen, daß es ein Kon­ti­nu­um gibt zwi­schen For­men manu­el­ler Arbeit und Arbeits­for­men, die wir zu den sym­bo­li­schen oder imma­te­ri­el­len rech­nen. Der Unter­schied zwi­schen der soge­nann­ten Eli­ten- und der manu­el­len Arbeit, den David hier zu essen­tia­li­sie­ren sucht, ist kei­ne natur­ge­ge­be­ner, er ist nichts als ein Kon­strukt von Kräf­te­ver­hält­nis­sen, die in unse­rer Gesell­schaft am Wer­ke sind.

 

Hen­ne­tier: Matthew Craw­ford, Richard Sen­nett, Sie erhe­ben die manu­el­le Betä­ti­gung oder das Hand­werk zu einer Art nor­ma­ti­vem poli­ti­schen Modell, das eine bes­se­re Gesell­schaft her­vor­brin­gen soll. Inwie­fern wür­de die Tat­sa­che, daß jemand ein guter Hand­wer­ker wird, sei­ne Befä­hi­gung zum sozia­len Leben, sei­ne Ver­bin­dung zu den Mit­men­schen oder sei­ne ethi­sche Urteils­bil­dung verbessern?

Craw­ford: Ich wer­de Richard über die gro­ßen Hand­werks­tra­di­tio­nen spre­chen las­sen. Sie kenn­zeich­nen die höchs­ten Gip­fel der tech­ni­schen Leis­tun­gen des Men­schen, die köst­li­chen Früch­te einer lebens­lan­gen Lei­den­schaft, die Bestän­dig­keit einer Tra­di­ti­on, die in der Aus­bil­dung der Lehr­lin­ge greif­bar wird. Ein an Abla­ge­run­gen rei­cher Boden ent­steht, in dem etwas Kräf­ti­ges Wur­zeln schlägt, das einen schar­fen Kon­trast bil­det zur moder­nen Rast­lo­sig­keit, mit der man glaubt, ein voll­stän­dig auto­no­mes und unde­ter­mi­nier­tes Indi­vi­du­um zusam­men­set­zen zu müssen.

Aber abge­se­hen vom Hand­werk als sol­chem, glau­be ich, daß jeder Beruf, der einen star­ken Rea­li­täts­be­zug hat, in einem ver­blüf­fen­den Kon­trast zu jenen Beru­fen steht, die den Leis­tungs­stan­dards einer unbe­stän­di­gen Ver­wal­tungs­po­li­tik unter­wor­fen sind oder deren Abstra­fung durch die rea­le Welt erst in einer fer­nen Zukunft erfol­gen wird. Wem die Fol­gen des eige­nen Han­delns auf Anhieb ersicht­lich sind, des­sen auf­ge­bläh­tes Ich und des­sen All­machts­phan­ta­sien erhal­ten not­wen­di­ger­wei­se einen Dämp­fer. Hegel hat­te recht hin­sicht­lich des Skla­ven: Durch sei­ne Bezie­hung zu mate­ri­el­len Din­gen gelangt er zu einer gewis­sen Ein­sicht ins Ich, die sei­nem Herrn ver­wehrt ist. Über­dies ver­spricht die Tech­no­lo­gie einen Kom­fort ohne Anstren­gung und hält uns in dem bereits von Freud beschrie­be­nen infan­ti­len Nar­ziß­mus gefan­gen. Einem Kin­de gleich hat der Nar­zißt nicht gelernt, daß die Din­ge sei­nem Wil­len wider­ste­hen, und er dünkt sich all­mäch­tig. Könn­te man nicht viel­leicht von den Leu­ten, die an der Macht sind, ver­lan­gen, daß sie ein oder zwei Jah­re irgend­ei­ne manu­el­le Arbeit ver­rich­ten? Wil­liam James hat­te das vor einem Jahr­hun­dert vor­ge­schla­gen, und Wil­liam James (einer der Grün­dungs­vä­ter des phi­lo­so­phi­schen Prag­ma­tis­mus, Bru­der des Schrift­stel­lers Hen­ry James – A. d. Ü.) hat­te in allem recht …

Sen­nett: In einer Werk­statt geschieht alles in kon­zer­tier­ter Arbeit, dies ist von abso­lu­ter Not­wen­dig­keit. Uns ist die­se, der Werk­statt eigen­tüm­li­che Dimen­si­on in vie­len Beru­fen abhan­den gekom­men. Der fle­xi­ble Kapi­ta­lis­mus hat eine neue Art von Tay­lo­ris­mus her­vor­ge­bracht, der dar­in besteht, den Arbeits­pro­zeß in eine Rei­he von Ein­zel­auf­ga­ben zu zer­glie­dern, die einen vom Kol­lek­tiv abson­dern. Die Idee, daß eine Grup­pe lan­ge Zeit zusam­men­lebt, um etwas her­zu­stel­len, gilt als obso­let. Iso­lier­te Indi­vi­du­en wer­den dazu gebracht, befris­te­te Arbeits­ver­hält­nis­se ein­zu­ge­hen in Arbeits­ein­rich­tun­gen, die ihre Sta­bi­li­tät ver­lo­ren haben. Man muß erneut Rah­men­be­din­gun­gen fin­den, die den Leu­ten das Gefühl ver­mit­teln, mit ande­ren Arbei­tern in Bezie­hung zu ste­hen, selbst wenn man dabei oft von einer Arbeit zur nächs­ten wech­seln kann. Neh­men Sie ein­mal das Bei­spiel der uni­ver­si­tä­ren Hilfs­kräf­te, die von kei­ner spe­zi­el­len Uni­ver­si­tät abhän­gig sind, denn die Lebens­zeit­stel­len gehen zurück. Der Ein­tritt in eine Gewerk­schaft ver­leiht die­sen jun­gen For­schern einen Halt: Da tau­schen sie sich über die sozia­len Aspek­te ihrer Arbeit aus und haben das Gefühl, sich in einem Kol­lek­tiv ein­brin­gen zu kön­nen, das mehr ist als ihre Arbeit, die ursprüng­lich als indi­vi­du­el­le Auf­ga­be kon­zi­piert war.

 

Hen­ne­tier: Die lebens­lan­ge Aus- und Fort­bil­dung scheint gerecht­fer­tigt in einer stän­dig im Wan­del begrif­fe­nen Welt, in der die Aus­sicht auf einen fürs gan­ze Leben gesi­cher­ten Beruf immer sel­te­ner wird. Ist dies nun tat­säch­lich eine gute Sache oder ver­hin­dert es nicht viel­mehr eine soli­de Spe­zia­li­sie­rung, die man ein Leben lang wei­ter aus­bau­en könnte?

Good­hart: Die bei­den Din­ge wider­spre­chen sich nicht unbe­dingt. Ein jun­ger Mann, eine jun­ge Frau mit durch­schnitt­li­chen Schul­leis­tun­gen und ohne eine aus­ge­präg­te Nei­gung zum aka­de­mi­schen Stu­di­um soll­te der Ver­su­chung wider­ste­hen, die Rei­hen der uni­ver­si­tä­ren Men­schen­mas­se der Mit­tel­schicht zu berei­chern. Bei vie­len ist eine kür­ze­re Aus­bil­dung, in Com­pu­ter­pro­gram­mie­rung bei­spiels­wei­se, sinn­vol­ler. Nicht nur wird so ein Mensch mehr ver­die­nen, son­dern er wird sich auch oft bes­ser füh­len als ein diplo­mier­ter Geis­tes­wis­sen­schaft­ler, der in einem beschei­de­nen Ver­wal­tungs­be­ruf lan­det. Wenn ers­te­rer dann noch genug intel­lek­tu­el­le Neu­gier mit­bringt und sein Fach­wis­sen ver­tie­fen will, kann er nach ein paar Jah­ren immer noch an die Uni­ver­si­tät gehen und Infor­ma­tik stu­die­ren mit allem nöti­gen Drum und Dran.

 

Hen­ne­tier: Soll­te das Ver­ei­nig­te König­reich sei­ne Geschich­te ver­ges­sen haben? Immer­hin kam es dort zur indus­tri­el­len Auf­klä­rung, zu Ver­knüp­fun­gen von Wis­sen­schaft und Tech­nik, zur Rol­le, die das Expe­ri­ment vor allem unter dem Ein­fluß eines Fran­cis Bacon spielte!

Good­hart: Das Ver­ei­nig­te König­reich bleibt ein wich­ti­ges Zen­trum der Wis­sens­ver­mitt­lung und der Inno­va­ti­on und ver­fügt noch über eini­ge Uni­ver­si­tä­ten, in denen erfolg­reich und effi­zi­ent For­schung betrie­ben wird. Es ist aber wahr, daß bei uns die Tra­di­ti­on der »Prak­ti­ker«, die aka­de­misch kaum vor­be­las­tet waren und am Anfang der Indus­tri­el­len Revo­lu­ti­on stan­den, weit­ge­hend in Ver­ges­sen­heit gera­ten ist. Man gab der aka­de­mi­schen und eli­tä­ren Tra­di­ti­on, die mit Oxford und Cam­bridge asso­zi­iert wird, den Vor­zug, und dies fand sei­nen Nie­der­schlag, wie Richard bereits sag­te, 1992 in der Umwand­lung der alten poly­tech­ni­schen Hoch­schu­len in Uni­ver­si­tä­ten und in der Tat­sa­che, daß die 1944 im Edu­ca­ti­on Act ver­spro­che­nen tech­ni­schen Fach­schu­len nur sehr sel­ten zustan­de kamen.

 

Hen­ne­tier: Eben erwähn­te Richard Sen­nett, daß die nächs­te Pha­se der Ent­wick­lung Künst­li­cher Intel­li­genz (KI) die Sphä­re der Intel­lek­tu­el­len­be­ru­fe tief­grei­fend erschüt­tern wird. Allein schon die­se Aus­sicht könn­te zu einer Reha­bi­li­tie­rung jener Beru­fe füh­ren, die im Bereich der emo­tio­na­len Intel­li­genz, der Pfle­ge und der Krea­ti­vi­tät ange­sie­delt sind. Darf man sich davon eine Annä­he­rung und eine grö­ße­re Soli­da­ri­tät zwi­schen Volk und Eli­ten versprechen? 

Good­hart: Ja, vie­le Büro­jobs, zumin­dest jene, die sich zuun­terst und in der Mit­te der Hier­ar­chie­lei­ter befin­den, wer­den von der Künst­li­chen Intel­li­genz ersetzt wer­den und das, was ich die Blü­te­zeit des »Haup­tes« nen­ne, wird damit so gut wie been­det sein. Beru­fe, die orts­ge­bun­den sind oder von der KI nicht aus­ge­führt wer­den kön­nen, beschrän­ken sich dann zuneh­mend auf den Gesundheits‑, Pfle­ge- und Erzie­hungs­sek­tor. Beson­ders Leu­ten, die in »Aschenputtel«-Berufen wie der Alten- oder Demenz­pa­ti­en­ten­pfle­ge tätig sind, müß­ten dann Gehäl­ter zuge­stan­den wer­den, die ihrem Ein­stel­lungs­be­darf ent­spre­chen. Das aber könn­te tat­säch­lich dazu bei­tra­gen, den Gra­ben zwi­schen Uni­ver­si­täts­ab­gän­gern und Leu­ten ohne Uni­ver­si­täts­ab­schluß zu schließen.

 

Hen­ne­tier: Richard Sen­nett, Sie for­dern die Reha­bi­li­tie­rung einer gewis­sen Lang­sam­keit in unse­rer Gesell­schaft. Inwie­fern hat die Reha­bi­li­tie­rung der Lang­sam­keit mit der Reha­bi­li­tie­rung der hand­werk­li­chen Arbeit zu tun?

Sen­nett: Man lernt, indem man Din­ge aus­pro­biert. Hand­werk­li­ches Arbei­ten heißt nicht ein­fach, die eige­ne tech­ni­sche Meis­ter­schaft zu ver­voll­komm­nen, son­dern heißt auch ler­nen, mit Rück­schlä­gen umzu­ge­hen, mit Din­gen, die einem wider­ste­hen. Dafür aber ist Zeit nötig. Am MIT sind die Labo­re mit den bes­ten Ergeb­nis­sen jene, die mit die­ser Lang­sam­keit umzu­ge­hen wis­sen, wozu eben auch das gele­gent­li­che Beschrei­ten von Holz­we­gen gehört. Im Bereich der Kunst ist es nicht anders. Wenn ein Maler an einem Gemäl­de arbei­tet und bei einem Feh­ler an der Lein­wand her­um­schabt, kommt er nur lang­sam vor­wärts, dafür aber siche­rer, dringt tie­fer in die Mate­rie ein, hin­ter­fragt in jedem Augen­blick das, was er da macht. Dies ist eine ande­re Her­an­ge­hens­wei­se als die schnel­le und den leich­tes­ten Aus­weg suchen­de Ver­rich­tung. Es steht im Gegen­satz zum »benut­zer­freund­li­chen« Ver­fah­ren – denn ein sol­ches ist das glat­te Gegen­teil jeder Hand­werks­kunst. Hast du ein Pro­blem? Hier ist die Lösung! Das ist schlech­tes Hand­werk. Das gute Hand­werk besteht dar­in, eher nach Pro­ble­men als nach Ant­wor­ten zu suchen. Das alles aber erfor­dert Langsamkeit.

 

Hen­ne­tier: David Good­hart, Sie behaup­ten, daß ein gewis­ser eli­tä­rer Femi­nis­mus von der Über­be­wer­tung des »Haup­tes« pro­fi­tiert und gleich­zei­tig zur Abwer­tung des »Her­zens« bei­getra­gen habe. Könn­ten Sie die­sen Gedan­ken ein­ge­hen­der erläutern?

Good­hart: Wie einst die femi­nis­ti­sche Schrift­stel­le­rin Made­lei­ne Bun­ting schrieb, defi­niert sich der Femi­nis­mus selbst als Wider­spruch zur Haus­ar­beit, da die­se mit gerin­gem Sta­tus und sozia­ler Unsicht­bar­keit kon­no­tiert ist. Die vor­herr­schen­de Ten­denz des moder­nen Femi­nis­mus wur­de von Frau­en geprägt, denen die uni­ver­si­tä­re und beruf­li­che Lauf­bahn geglückt war, wäh­rend sein Haupt­an­lie­gen der mit Män­nern gleich­be­rech­tig­te Wett­be­werb in Berufs­kar­rie­ren war. Die Pri­vat­sphä­re wur­de als drü­cken­de Last emp­fun­den, der man sich zu ent­le­di­gen hat­te, was wie­der­um – wie etli­che Mei­nungs­um­fra­gen ver­deut­li­chen – den Femi­nis­mus in Oppo­si­ti­on zu den Gefüh­len und den Inter­es­sen vie­ler Frau­en brach­te. Die Her­aus­for­de­rung für eine libe­ra­le Gesell­schaft, in der die Gleich­be­rech­ti­gung der Geschlech­ter ein Wert ist, besteht also dar­in, in der Volks­wirt­schaft die »Care«-Arbeit wie­der aufzuwerten.

Craw­ford: Hier möch­te ich abschlie­ßend noch etwas hin­zu­fü­gen. Ich den­ke, daß die Über­qua­li­fi­ka­ti­on der Gesell­schaft mit ihrer Femi­ni­sie­rung Hand in Hand gegan­gen ist. Mäd­chen sind eher für die klas­si­sche Schul- und Uni­ver­si­täts­lauf­bahn geeig­net. Jun­gen, denen die eige­ne Femi­ni­sie­rung miß­lingt, wer­den im Ver­wal­tungs­be­reich der Wirt­schaft kaum als gute Ange­stell­te funk­tio­nie­ren. Eine prak­ti­sche Aus­bil­dung ist für sol­che Jun­gen zwei­fels­oh­ne förderlicher.

 

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