Wien, Virus, wir

PDF der Druckfassung aus Sezession 101/ April 2021

Martin Lichtmesz

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

Wäh­rend ich die­sen Bei­trag schrei­be, sieht die Lage in Öster­reich laut world­ometers.info »in Zah­len« etwa so aus (Stand 9. März 2021): Ver­zeich­net wer­den 23 593 »akti­ve« Fäl­le einer Infek­ti­on mit dem »Coro­na­vi­rus«, also Men­schen, die nicht bloß »posi­tiv getes­tet« wor­den, son­dern sym­pto­ma­tisch und somit tat­säch­lich krank sind. Das sind 0,26 Pro­zent einer Gesamt­be­völ­ke­rung von 8,859 Mil­lio­nen. 99 Pro­zent davon befin­den sich in einer »mild con­di­ti­on«, nur ein Pro­zent wird als »serious or cri­ti­cal« ein­ge­stuft. Die­se schwer bis lebens­ge­fähr­lich Erkrank­ten machen 338 Pati­en­ten aus, also 0,0038 Pro­zent der Bevölkerung.

99,7 Pro­zent der Bevöl­ke­rung Öster­reichs, also fast alle, sind zu die­sem Zeit­punkt gar nicht von »Coro­na« betrof­fen. Die Aus­las­tung der Inten­siv­bet­ten betrug am 9. März laut statista.com 38,5 Pro­zent. Seit Virus­in­fek­tio­nen in Öster­reich fest­ge­stellt wur­den (25. Febru­ar 2020), sind 98 Pro­zent der Erkrank­ten (447 041 Men­schen) gene­sen, zwei Pro­zent sind »an oder mit« oder »im Zusam­men­hang mit« Coro­na gestor­ben (8757).

Laut Gesund­heits­mi­nis­te­ri­um (Stand 27. Febru­ar 2021) waren 97 Pro­zent aller Todes­fäl­le über 60 alt, 45,6 Pro­zent, also fast die Hälf­te, über 85 Jah­re alt (die durch­schnitt­li­che Lebens­er­war­tung in Öster­reich beträgt 81,64 Jah­re). Es gab ins­ge­samt neun Pro­zent mehr Tote als im Jahr 2019, wür­den aller­dings »die gestie­ge­ne Bevöl­ke­rungs­zahl und Ver­än­de­run­gen in der Alters­struk­tur berück­sich­tigt, so wäre im Jahr 2020 auch ohne Pan­de­mie mit einem leich­ten Anstieg der Ster­be­fäl­le zu rech­nen gewe­sen« (oesterreich.orf.at, 26. Febru­ar 2021).

Im Janu­ar und Febru­ar 2021 mach­te die Mel­dung die Run­de, daß die Kin­der- und Jugend­psych­ia­trien in Wien und ande­ren Bun­des­län­dern schwer über­las­tet sei­en. Spe­zi­ell seit Beginn des zwei­ten Lock­downs im Novem­ber 2020 haben Depres­sio­nen, Antriebs­lo­sig­keit, Eßstö­run­gen, Sui­zid­ge­dan­ken erheb­lich zuge­nom­men, ins­be­son­de­re im Bereich der Acht- bis Zwölf­jäh­ri­gen (Klei­ne Zei­tung, 27. Janu­ar 2021). Laut einer Stu­die der Sig­mund-Freud-Pri­vat­uni­ver­si­tät (SFU) hat »rund ein Fünf­tel der Befrag­ten im Zuge der Kri­se den Kon­takt zu Ver­trau­ens­per­so­nen ver­lo­ren oder aktiv abge­bro­chen«, unter ande­rem auf­grund von »Mei­nungs­ver­schie­den­hei­ten zum Umgang mit der Pan­de­mie« (orf.at, 25. Febru­ar 2021).

Am 6. Febru­ar titel­te die Kro­nen-Zei­tung: »30 000 Betrie­be ste­hen vor dem Abgrund«, Unter­ti­tel: »Wie Coro­na Gas­tro, Han­del, Dienst­leis­ter in Kon­kurs treibt.« An die­sem Framing über­rascht die Schuld­zu­schrei­bung gera­de nicht: An einer schick­sal­haf­ten Enti­tät namens »Coro­na« liegt es, nicht etwa an der öster­rei­chi­schen Regie­rung, die die­sen Mas­sen­kon­kurs durch Zwangs­schlie­ßun­gen ver­ur­sacht hat. Die Kro­nen-Zei­tung hin­ge­gen soll allein im ers­ten Quar­tal des Jah­res 2020 eine staat­li­che »Son­der­för­de­rung« von 2,7 Mil­lio­nen Euro erhal­ten haben. Auf Platz zwei folgt das Impe­ri­um »Öster­reich« (oe24) mit 1,7 Mil­lio­nen Euro Zuschuß. Hin­zu kamen Ein­nah­men in Mil­lio­nen­hö­he durch Anzei­gen der Regie­rung, die im letz­ten Jahr 73 Mil­lio­nen Euro in Wer­bung inves­tiert haben soll.

Die Kro­nen-Zei­tung, Heu­te, oe24, Kurier und ande­re Medi­en sind dem­entspre­chend zu Orga­nen einer pau­sen­los nie­der­pras­seln­den Panik­pro­pa­gan­da gewor­den. Sie hal­ten nicht nur die Angst vor dem Virus mit täg­lich neu­en Tata­ren­mel­dun­gen und »Zah­len« am Köcheln, son­dern atta­ckie­ren auch in äußerst gehäs­si­ger und ver­zer­ren­der Wei­se die als »Coro­na-Leug­ner« beti­tel­ten Maß­nah­men­kri­ti­ker, die in Wien seit Mit­te Janu­ar Groß­de­mons­tra­tio­nen mit wach­sen­der Teil­neh­mer­zahl durch­füh­ren. Ganz im Sin­ne des Innen­mi­nis­ters Karl Neham­mer (ÖVP) wer­den die Pro­test­ler als »Rechts­extre­me, Staats­ver­wei­ge­rer, Hoo­li­gans, Alt-Neo­na­zis« dar­ge­stellt, für die das Bun­des­amt für Ver­fas­sungs­schutz und Ter­ro­ris­mus­be­kämp­fung und die Poli­zei zustän­dig sei­en. Kanz­ler Kurz bedank­te sich bei der Kro­nen-Zei­tung zu Weih­nach­ten mit einer ganz­sei­ti­gen Anzei­ge, in der er die staats­tra­gen­de Rol­le der »kri­ti­schen und unab­hän­gi­gen Medi­en« wür­dig­te und ihnen auch gleich die Bot­schaft mit­gab, die er von ihnen ver­brei­tet sehen woll­te: »Ent­schei­dend« dafür, »daß wir nächs­tes Jahr schritt­wei­se zu unse­rer gewohn­ten Frei­heit und Unbe­schwert­heit zurück­zu­keh­ren kön­nen«, sei, »daß so vie­le Men­schen wie mög­lich das Ange­bot der Mas­sen­tests und der bevor­ste­hen­den Imp­fung wahrnehmen.«

Genau in die­ses Horn bla­sen die »kri­ti­schen und unab­hän­gi­gen Medi­en« nun schon seit Mona­ten. Frei­heit von Mas­ken, Lock­downs und Tests wer­de es nur durch die Imp­fung prak­tisch der gesam­ten Bevöl­ke­rung geben. Die von der Regie­rung auto­ri­tär ange­ord­ne­ten Maß­nah­men wer­den prä­sen­tiert, als wären sie streng wis­sen­schaft­lich vom Wesen und Ver­hal­ten des Virus dik­tiert; »Coro­na« und der Lock­down, der Staat und die Regie­rung fal­len gleich­sam in eins. Wer an der Not­wen­dig­keit und der Ver­hält­nis­mä­ßig­keit der Maß­nah­men zwei­felt, gerät ins Visier als »Ver­harm­lo­ser« und »Leug­ner« der Gefähr­lich­keit oder gar der Exis­tenz des Coro­na­vi­rus, als »Ver­schwö­rungs­er­zäh­ler«, der am auf­rich­ti­gen Wohl­wol­len von Poli­ti­kern, Medi­en und Phar­ma­kon­zer­nen zwei­felt, als grund­sätz­li­cher Staats- und Ver­fas­sungs­feind, weil er die aktu­el­le tür­kis-grü­ne Regie­rung auf­for­dert, ihm die Grund­rech­te zurückzugeben.

Der Kampf gegen die »Coro­na­leug­ner« wird mit dem alt­be­kann­ten Kampf »gegen rechts« kurz­ge­schlos­sen, und die Pro­fis die­ser Spar­te stel­len sich bereit­wil­lig zur Ver­fü­gung. Andre­as Peham etwa, Lei­ter der links­extre­men Erklär­bu­de DOEW, sah in den angeb­li­chen »Auf­mär­schen von Alt- und Neo­na­zis bei Anti-Coro­na­vi­rus-Demons­tra­tio­nen« ein »Kri­sen­sym­ptom«: »Es ist banal, aber Kri­sen­zei­ten sind sehr güns­ti­ge Zei­ten für die extre­me Rech­te, weil es Zei­ten der Angst und Ver­un­si­che­rung sind. Men­schen, die Angst haben und ver­un­si­chert sind, rufen nicht nach mehr Frei­heit und Demo­kra­tie, son­dern nach einer star­ken Hand, Schutz und Sicher­heit.« Damit stell­te Peham die Wirk­lich­keit kom­plett auf den Kopf, da sich die besag­ten Demos, die von den rech­ten Milieus in Öster­reich so gut wie geschlos­sen befür­wor­tet wer­den, unter dem Mot­to »Frie­de, Frei­heit, kei­ne Dik­ta­tur« expli­zit für mehr »Frei­heit und Demo­kra­tie« und gegen auto­ri­tä­re Angst­ma­che unter dem Vor­wand von »Schutz und Sicher­heit« aussprechen.

Die Impf­stof­fe gegen den unsicht­ba­ren und all­ge­gen­wär­ti­gen »Feind« Coro­na­vi­rus wer­den als Wun­der­waf­fen ange­prie­sen, an deren Effek­ti­vi­tät, Unge­fähr­lich­keit und Alter­na­tiv­lo­sig­keit kein Zwei­fel erlaubt ist. Ver­pflich­ten­de Impf­päs­se sol­len erstellt wer­den und den Geimpf­ten gegen­über den Unge­impf­ten »Pri­vi­le­gi­en« ver­schaf­fen, womit nichts ande­res als die vol­le Wie­der­her­stel­lung ihrer Grund­rech­te gemeint ist. Die Regie­ren­den trei­ben die­ses Pro­gramm mit robo­ter­haf­ter Ziel­ge­rich­tet­heit vor­an. Beson­ders alar­mie­rend ist in die­ser Hin­sicht die enge Alli­anz, die Kurz mit Isra­els Minis­ter­prä­si­dent Ben­ja­min Netan­ja­hu ein­zu­ge­hen sucht. Isra­el, ein Land mit etwa der­sel­ben Bevöl­ke­rungs­zahl wie Öster­reich, hat bis dato eine Durch­imp­fungs­ra­te von 57 Pro­zent und bereits einen »Grü­nen Paß« ein­ge­führt, der exakt das ver­wirk­licht, was »Ver­schwö­rungs­theo­re­ti­ker« von Anfang befürch­tet haben: eine Zwei­klas­sen­ge­sell­schaft, in der nur Geimpf­te Zugang zu Restau­rants, Cafés, Uni­ver­si­täts­hör­sä­len und ande­ren Orten haben – angeb­lich ein vor­über­ge­hen­der Zustand, bis eines Tages Coro­na-Ent­war­nung gege­ben wird.

In einem Inter­view mit dem ORF benann­te Kurz als Ziel sei­ner Isra­el­rei­se, die »Zusam­men­ar­beit mit Isra­el sowohl im Bereich For­schung und Ent­wick­lung, aber auch der Pro­duk­ti­on zu ver­tie­fen.« Denn, so Kurz, »wir wer­den in den nächs­ten fünf Jah­ren aller Vor­aus­sicht nach bis zu 30 Mil­lio­nen Impf­do­sen allei­ne in Öster­reich brau­chen. Denn das Virus wird mehr und mehr mutie­ren, und die Imp­fung wird immer wie­der ange­paßt wer­den müs­sen.« Auch die­se Aus­sa­ge erfüllt die schlimms­ten Erwar­tun­gen: Kurz stellt, im Ein­klang mit den glo­ba­lis­ti­schen Mei­nungs­füh­rern und ihren inter­na­tio­na­len poli­ti­schen Voll­stre­ckern, eine Welt in Aus­sicht, in der jeder Mensch vom Staat über Jah­re hin­weg, wenn nicht auf Lebens­zeit, dazu ver­pflich­tet wird, sich gleich einem Com­pu­ter regel­mä­ßig mit einem neu­en Impf­pro­gramm »upzu­da­ten«, zum »Schutz von uns allen«. Wer dies ver­wei­gert, wird schwer­wie­gen­de sozia­le, recht­li­che und wirt­schaft­li­che Kon­se­quen­zen in Kauf neh­men müssen.

Betrach­tet man den Lock­down als eine eben­so ver­hee­ren­de wie inef­fek­ti­ve Stra­te­gie und »Coro­na« weit­ge­hend als Insze­nie­rung, die durch mas­sen­me­dia­le Beschal­lung, irre­füh­ren­de Bericht­erstat­tung und magi­sche Ritua­le wie Mas­ken- und Test­zwang auf­recht­erhal­ten wird, dann ergibt sich ein über­aus fins­te­res Gegen­warts- wie Zukunfts­bild. Pro­pa­gan­da und Des­in­for­ma­ti­on haben die Gesell­schaft auch in Öster­reich viel schwe­rer trau­ma­ti­siert und gespal­ten als die Flücht­lings­kri­se des Jah­res 2015, per­vers­er­wei­se unter dem Slo­gan »Wir hal­ten zusam­men«. Bei­de Sei­ten füh­len sich in einem dys­to­pi­schen Film gefan­gen: jedoch fürch­ten die einen eher das Virus, die ande­ren eher die von der Regie­rung ergrif­fe­nen Maß­nah­men. Die­se Sor­ge ließ sogar den isla­mis­ti­schen Ter­ror­an­schlag, der in Wien am 2. Novem­ber 2020 vier Todes­op­fer for­der­te, als blo­ßen Zwi­schen­fall erschei­nen. Dabei zei­gen sich in bei­den Lagern durch­aus kom­ple­men­tä­re psy­cho­lo­gi­sche Phä­no­me­ne. Die Masken‑, Lock­down- und Mas­sen­imp­fung-Ultras beru­fen sich auf Wis­sen­schaft­lich­keit und titu­lie­ren ihre Geg­ner mit der modi­schen Ver­un­glimp­fung »Schwurb­ler«, sind aber häu­fig sehr schlecht infor­miert und legen nicht sel­ten sek­tie­re­ri­sche und aber­gläu­bi­sche Züge an den Tag. Im maß­nah­men­kri­ti­schen Lager, das sich eben­falls – und mit weit­aus grö­ße­rem Recht – auf Wis­sen­schaft­lich­keit beruft, gibt es wie­der­um eine star­ke Ten­denz, sich als Reak­ti­on auf die als über­wäl­ti­gend erleb­te tota­li­tä­re Ver­schär­fung in reli­giö­se und eso­te­ri­sche Deu­tun­gen und Heils­leh­ren zu stür­zen. Auf den Kund­ge­bun­gen in Wien, die den Groß­de­mons­tra­tio­nen vor­an­gin­gen, stan­den sach­li­che Reden neben auf­ge­reg­ten Rezi­ta­tio­nen der Offen­ba­rung des Johan­nes. Der »dia­bo­li­sche« Aspekt des Spek­ta­kels wird indes auch von vie­len Men­schen wahr­ge­nom­men, die mit meta­phy­si­schen Spe­ku­la­tio­nen wenig am Hut haben.

Wech­sel­sei­ti­ges Miß­trau­en, Gereizt­heit und Zorn haben sich zwei­fel­los erheb­lich ver­stärkt. Regel­bre­cher erschei­nen den Gläu­bi­gen und Ängst­li­chen als Aso­zia­le, Quas­i­k­ri­mi­nel­le und »Lebens­ge­fähr­der«, wes­halb die­se auch vor Denun­zi­an­ten- und Block­wart­tum nicht zurück­schre­cken. Den »Ver­wei­ge­rern« ste­hen die »Stre­ber« gegen­über, die ihre Mas­ken auch dort, wo es nicht ver­pflich­tend ist, mit stolz­ge­schwell­ter Brust tra­gen, aus allen Näh­ten plat­zend vor zur Schau getra­ge­nem sozia­len Ver­ant­wor­tungs­be­wußt­sein. Ande­re wie­der­um tra­gen unsin­ni­ger­wei­se Mas­ken auch im Frei­en, weil sie ver­ängs­tigt sind oder es nicht bes­ser wis­sen. Die Dres­sier- und Mani­pu­lier­bar­keit unse­rer Zeit­ge­nos­sen, die immer so stolz auf ihre demo­kra­ti­sche Auf­ge­klärt­heit waren, ist wahr­haft ver­blüf­fend, und zugleich ein unwür­di­ges, manch­mal schmerz­haf­tes Schau­spiel. Wäh­rend der Staat ihre wirt­schaft­li­che Exis­tenz, ihr Sozi­al­le­ben und ihre see­li­sche Gesund­heit rui­niert, unter­wer­fen sich Mil­lio­nen Men­schen sei­nen schi­ka­nö­sen Vor­schrif­ten, deren man­geln­de Sinn­haf­tig­keit man mit Leich­tig­keit durch­schau­en oder recher­chie­ren kann.

Wer hin­ge­gen um die medi­zi­ni­sche Unsin­nig­keit weiß, kann in dem Ritu­al des Mas­ken­tra­gens nur den Gruß des Geß­ler­hu­tes erbli­cken, und er muß nun mit sich selbst und sei­nem Gewis­sen aus­ma­chen, wie hoch der Preis ist, den er für die Ver­wei­ge­rung die­ser belei­di­gend plum­pen Mas­ke­ra­de zah­len möch­te. Zwar füh­len sich vie­le Mas­ken­geg­ner häu­fig auch phy­sisch bedrängt, etwa durch All­er­gie oder Atem­not, aber der Haupt­grund des Unbe­ha­gens ist ein see­li­scher: Man will sich nicht einer Lüge unter­wer­fen. In klei­ne­ren Dör­fern und Vor­or­ten gibt es man­che, die seit Mona­ten gänz­lich ohne Mas­ke mit Charme und Chuz­pe durch­ge­kom­men sind. In der Groß­stadt, ins­be­son­de­re bei Ange­wie­sen­heit auf öffent­li­che Ver­kehrs­mit­tel, ist das jedoch so gut wie unmög­lich. Man muß sich ent­schei­den, wel­cher Streß der gerin­ge­re ist: der­je­ni­ge des Mas­ken­tra­gens und der Unter­wer­fung oder der Streß des opti­schen Her­aus­ste­chens mit der stän­di­gen Gefahr des Zur-Rede-gestellt- oder gar Bestraft-Werdens.

Hin­ter Mas­ken, die das Gesicht des ande­ren nicht erken­nen las­sen, meint man rasch, miß­bil­li­gen­de, ängst­li­che oder gar haßer­füll­te Augen blin­zeln zu sehen. Die »Mund-Nasen-Mas­ke«, schrieb Thors­ten Hinz in der Jun­gen Frei­heit (15. August 2020), mar­kie­re einen Bruch mit der »tra­dier­ten All­tags­kul­tur«, in der wir non­ver­bal über den Gesichts­aus­druck kom­mu­ni­zie­ren: »Die Mas­ken­pflicht – ob sinn­voll oder nicht – ent­hält den Zwang zur kul­tu­rel­len Selbst­ent­frem­dung.« Die Mas­ken ent­per­so­na­li­sie­ren den ande­ren, machen ihn zum anony­men »Non-Play­er-Cha­rac­ter« eines Com­pu­ter­spiels, das unse­re Rea­li­tät gehackt hat. Ein Bekann­ter berich­te­te mir, daß er, als er im Dezem­ber die Nach­richt las, daß die Regie­rung einen ver­pflich­ten­den elek­tro­ni­schen Impfpaß ein­füh­ren wer­de, vor Empö­rung auf die Stra­ße gehen muß­te, um Luft zu schnap­pen und Dampf abzu­las­sen. Das ers­te, was er sah, war ein Mann mit »Mund-Nasen-Schutz«, der auf ihn zukam, um elf Uhr nachts, auf einer regen­nas­sen Stra­ße, auf der weit und breit kein ein­zi­ger Mensch zu sehen war. Auf die­sen zufäl­li­gen, über­kon­for­men Tropf ent­lud sich nun die gan­ze ohn­mäch­ti­ge Wut mei­nes Bekann­ten, die eigent­lich Kurz und sei­nen Kom­pli­zen galt. Er begann den arg­lo­sen »Coro­na-Idio­ten« wüst zu beschimp­fen, wor­auf die­ser natür­lich zurück­bell­te. In der Regel ver­hält es sich aller­dings eher so, daß es die »Mas­ken­ver­wei­ge­rer« sind, die von ihren Mit­men­schen ange­pö­belt oder ermahnt wer­den. Der Mas­ken­trä­ger gibt dem Ver­wei­ge­rer die Schuld, daß die »Inzi­denz­zah­len« nicht wie gewünscht sin­ken, wes­halb wir alle ein­ge­sperrt blei­ben »müs­sen«. Der Ver­wei­ge­rer wie­der­um sieht im Mas­ken­trä­ger das Her­den­tier, das es der Regie­rung erst ermög­licht, unwi­der­spro­chen Lock­downs und ande­re Schi­ka­nen zu ver­hän­gen. Der täg­li­che Anblick der Mas­ken­trä­ger wirkt auf den »Coro­na-Skep­ti­ker« als Sym­bol einer sozia­len Dres­sur und Gleich­schal­tung. Ein Ein­druck, der sich durch die Ein­füh­rung der »FFP2-Mas­ken-Pflicht« enorm ver­schärft hat. Es war unheim­lich, zu sehen, wie rei­bungs­los die Umschal­tung funk­tio­nier­te. Buch­stäb­lich von einem Tag auf den ande­ren trug jeder ein­zel­ne Fahr­gast in den U- und Stra­ßen­bah­nen und jeder Kun­de in den Geschäf­ten und Super­märk­ten die neu vor­ge­schrie­be­ne, ein­heit­li­che Gesichts­be­de­ckung, ein kaf­fee­fil­ter­ar­ti­ger, che­mi­ka­li­en­hal­ti­ger Kunst­stoff­kü­bel »Made in China«.

Nun starrt man in den U‑Bahnen tag­täg­lich in eine Flut von gesichts­lo­sen Augen hin­ter anony­mi­sie­ren­den Maul­kör­ben, die ein visu­el­ler Beweis dafür sind, wie gründ­lich und rei­bungs­los die Mani­pu­la­ti­on und die Angst­ma­che funk­tio­niert haben. Manch­mal möch­te man schier ver­zwei­feln, daß nicht ein ein­zi­ger Mensch zu erbli­cken ist, der es wagt, das beklem­men­de Schau­spiel zu boy­kot­tie­ren, etwa durch eine her­aus­lu­gen­de Nasen­spit­ze oder ein Bau­meln der Mas­ke am Kinn. Dabei wäre das kei­ne all­zu schwie­ri­ge oder ris­kan­te Sache. Im Gegen­satz zu den ers­ten Mona­ten der Kri­se, in denen es vor­kam, daß Secu­ri­ty-Män­ner die »Coro­na-Sün­der« anbrüll­ten, als wären sie auf dem Kaser­nen­hof, wer­den die öffent­li­chen Ver­kehrs­mit­tel kaum über­wacht oder kon­trol­liert. Und wenn doch ein­mal einer die Mas­ke nicht kor­rekt oder (sel­te­ner) gar nicht trägt, so wird er von den aller­meis­ten Men­schen inzwi­schen igno­riert. Den­noch kann es immer wie­der zu unan­ge­neh­men Sze­nen kom­men, die eine ähn­lich abschre­cken­de Wir­kung haben wie plötz­li­che Fahr­schein­kon­trol­len. Hin und wie­der fühlt man sich selbst ver­sucht, wild­frem­den Kon­for­men drein­zu­re­den, was sie zu tun oder zu unter­las­sen haben, aus Ärger oder Mit­leid. Was soll man zu alten, gebrech­li­chen Damen sagen, die sich vor lau­ter Todes‑, Infek­ti­ons- oder Geld­stra­fen­angst schnau­fend eine Trep­pe im Stie­gen­haus oder in der U‑Bahn hin­auf­schlep­pen und dabei die »FFP2«-Maske, die das Ein­at­men erheb­lich erschwert, nicht vom Gesicht neh­men? Was soll man zu Men­schen sagen, die ihren zwei- oder drei­jäh­ri­gen Kin­dern Mas­ken umbin­den, wenn sie eine Bäcke­rei betre­ten? Denn zwei­fels­oh­ne mei­nen sie es nur »gut« und wol­len ihrem Nach­wuchs nicht bewußt scha­den. Vie­le scheint die Mas­ken­tra­ge­pflicht ernst­haft nicht zu stö­ren, weder kör­per­lich noch see­lisch, zumin­dest beteu­ern sie es voll­mun­dig, dar­un­ter häu­fig jun­ge Leu­te im Teen­ager- oder Twen-Alter.

Aber auch im pri­va­ten und zwi­schen­mensch­li­chen Bereich macht sich Ent­frem­dung breit. Was soll man der acht­zig­jäh­ri­gen Tan­te sagen, die sich seit Mona­ten ängst­lich ein­bunkert, zur »Risi­ko­grup­pe« gehört, alle ihre Infor­ma­tio­nen aus der Kro­nen-Zei­tung und dem ORF-Nach­rich­ten­pro­gramm »ZIB 2« bezieht und es kaum erwar­ten kann, geimpft zu wer­den? Wäh­rend man selbst um ihre Gesund­heit fürch­tet, weil sie sich zum Ver­suchs­ka­nin­chen eines gewal­ti­gen Men­schen­ex­pe­ri­ments machen will, das angeb­lich schon etli­che Leben gekos­tet hat? Man weiß genau, daß man sie nur ver­un­si­chern und ver­stö­ren, aber kaum zu ihr durch­drin­gen wird. Was soll man mit der alten treu­en Freun­din machen, die alle Maß­nah­men befür­wor­tet und die Fahr­läs­si­gen ver­ach­tet, weil sie um die Gesund­heit ihres lun­gen­kran­ken Lebens­ge­fähr­ten fürch­tet? Was mit dem dau­er­erkrank­ten Freund, der ver­mu­tet, daß er COVID-19 hat­te und dies an sei­nem »Hirnnebel«-Syndrom schuld ist, und die Lage fast nur noch durch die Lin­se sei­ner per­sön­li­chen Betrof­fen­heit sehen kann? Der­sel­be Freund übri­gens, der mich Ende Febru­ar 2020 aus Deutsch­land anrief und mir als ers­ter die Bot­schaft über­brach­te, daß eine Pan­de­mie auf Euro­pa zurol­le, die womög­lich Mil­lio­nen Tote for­dern und unser Leben über Jah­re hin­weg ver­än­dern wer­de. Bei einem sol­chen Gespräch mit einem teu­ren Freund »auf der ande­ren Sei­te« ver­sag­ten mir ein­mal phy­sisch die Wor­te, ich rang nach Luft und wur­de über­wäl­tigt von der Angst vor einem Bruch oder einer unbot­mä­ßi­gen Über­tre­tung unse­rer per­sön­li­chen Gren­zen, die unwill­kür­lich aus mei­nem Inne­ren aufstieg.

Ich erin­ner­te mich an einen Traum, der mich jah­re­lang in unzäh­li­gen Varia­tio­nen heim­ge­sucht hat­te und der etwa so ablief: Ich sah, wie Mas­sen von Men­schen auf eine Tri­bü­ne blick­ten, auf der eini­ge Red­ner vor Mikro­fo­nen stan­den. Die Men­schen waren weni­ger gebannt als pas­siv und apa­thisch. Sie bemerk­ten nicht, daß die Red­ner ihnen unge­heu­er­li­che Lügen auf­tisch­ten. Allein mir fiel es auf und ich war ent­setzt und empört über die­se Dreis­tig­keit. Kurz ent­schlos­sen stieg ich auf die Büh­ne und riß das Mikro­fon an mich. »Glaubt ihnen nicht, sie füh­ren Böses im Schil­de, sie belü­gen und mani­pu­lie­ren euch!« woll­te ich hero­isch in die Men­ge rufen. In die­sem Moment über­kam mich eine Wel­le der Angst und schnür­te mir die Keh­le zu. Mei­ne Stim­me wur­de hei­ser und blieb mir im Hals ste­cken. Ich bekam kei­ne Luft mehr. Nie­mand hör­te mich, nie­mand ver­stand mich. Ich wur­de von der Büh­ne gezerrt, und der Traum war zu Ende. Ich muß immer wie­der an ihn den­ken, wenn ich heu­te auf die Stra­ße gehe. Das gan­ze Land scheint sich in Trance zu befin­den, und wer auf­ge­hört hat, zu schlaf­wan­deln, mag den Ein­druck haben, sich in einem bösen Wachtraum zu befinden.

Um so befrei­en­der wirk­ten auch auf mich die Groß­de­mons­tra­tio­nen gegen die Regie­rungs­maß­nah­men, an denen ich bis­lang drei­mal teil­nahm. Der über­ra­schend gro­ße Erfolg der ers­ten Demons­tra­ti­on vom 16. Janu­ar führ­te dazu, daß das Innen­mi­nis­te­ri­um zwei Wochen spä­ter ins­ge­samt sieb­zehn für den 31. Janu­ar ange­mel­de­te Kund­ge­bun­gen auf­grund einer angeb­lich dräu­en­den »Gefahr für die Volks­ge­sund­heit« unter­sag­te. In Wahr­heit fürch­te­te Innen­mi­nis­ter Neham­mer eine Poten­zie­rung der vor­an­ge­gan­ge­nen Pro­tes­te, an denen etwa 20 000 Men­schen teil­ge­nom­men hat­ten. Neham­mer offen­bar­te damit, daß der Staat kei­ner­lei Hem­mun­gen kennt, die »Coro­na­re­geln« anzu­wen­den, um das Ver­samm­lungs­recht aus­zu­he­beln. Wie sich her­aus­stell­te, war dies ein erfolg­lo­ses Unter­fan­gen. Zwar ver­such­te die Poli­zei, die Teil­neh­mer ein­zu­kes­seln und die Demons­tra­ti­on auf­zu­lö­sen, muß­te aber schließ­lich vor ihrer schie­ren Zahl kapi­tu­lie­ren. Die Staats­ge­walt war gebro­chen, und nun ström­ten Tau­sen­de eupho­ri­sier­te Demons­tran­ten durch die inne­ren Bezir­ke Wiens, »Kurz muß weg!« skan­die­rend. Das Schau­spiel war fas­zi­nie­rend: Hier waren Men­schen aus allen Schich­ten des Vol­kes und aus allen Alters­klas­sen ver­tre­ten, die sich im Gegen­satz zum bun­ten Hau­fen »dio­ny­si­scher Indi­vi­du­en« bei der Ber­li­ner Quer­den­ker-Demo vor­ran­gig unter dem eini­gen­den Ban­ner der rot­weiß­ro­ten Natio­nal­flag­ge ver­sam­melt hat­ten. Unter ihnen befan­den sich vie­le klei­ne Unter­neh­mer, die schlicht­weg um ihre Exis­tenz fürch­te­ten. Einen Monat spä­ter, am 6. März, war die Zahl der Teil­neh­mer auf 30 000 ange­wach­sen, wäh­rend sich uner­war­te­te Quer­fron­ten gebil­det hat­ten: Nun spra­chen auf einer Büh­ne im Pra­ter Män­ner so unter­schied­li­cher poli­ti­scher Her­kunft wie der FPÖ-Natio­nal­rats­ab­ge­ord­ne­te Her­bert Kickl und der ehe­mals grü­ne Akti­vist der Frie­dens­be­we­gung Alex­an­der Ehr­lich. Die Trans­pa­ren­te und Schil­der hat­ten sich seit Beginn der Demos deut­lich ver­bes­sert: bes­se­re Optik, kla­re Bot­schaf­ten. Die Poli­zei teil­te über 3000 will­kür­li­che Anzei­gen wegen Ver­stoß gegen die »Coro­na­re­geln« wie Mas­ken­tra­gen und Abstands­ge­bot aus. Oe24 beschimpf­te am nächs­ten Tag die Teil­neh­mer als »Demo-Mob« und behaup­te­te, »Hit­ler­grü­ße«, »Neo­na­zis« und »Mes­ser« gesich­tet zu haben. In der Kro­nen-Zei­tung schrieb Micha­el Jean­née, ihm sei »eis­kalt« gewor­den ange­sichts die­ser Hit­ler-Reinkar­na­ti­on namens Kickl, der wie wei­land der Leib­haf­ti­ge »brüll­te, röhr­te, röchel­te und hei­ser flüs­ter­te.« Über den Inhalt der Rede Kick­ls ver­lor Jean­née frei­lich kein Wort. Man kann es nicht anders bezeich­nen, als daß die Regie­rung und die von ihr gekauf­ten Medi­en einen pro­pa­gan­dis­ti­schen Bür­ger­krieg gegen Tei­le des eige­nen Vol­kes füh­ren. Die Tau­sen­den, die Kickl, Ehr­lich oder Mar­tin Rut­ter auf die Demons­tra­tio­nen fol­gen, hof­fen auf einen basis­de­mo­kra­ti­schen Früh­ling, der die »Coro­na-Dik­ta­tur« zu Fall brin­gen wird.

Wien, Hel­den­platz, wir: Auch ich hof­fe, daß die­ser Sand im Getrie­be aus­rei­chen wird, um die Maschi­ne zum Stop­pen zu brin­gen, aber ich fürch­te, daß die Men­schen, die mit bewun­derns­wer­tem Ein­satz auf die Stra­ße gehen, das Mons­trum über­schät­zen, gegen das sie ange­tre­ten sind. Schlimms­ten­falls erle­ben wir gera­de das letz­te ehren­haf­te, aber nai­ve Auf­bäu­men einer Idee namens »Demo­kra­tie«, ehe die glo­ba­lis­ti­schen Eli­ten in Davos und anders­wo den »Reset«-Knopf drü­cken, um in der west­li­chen Welt ein Herr­schafts­mo­dell nach chi­ne­si­schem Vor­bild zu installieren.

 

Martin Lichtmesz

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

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