Vor einem Jahr

PDF der Druckfassung aus Sezession 101/ April 2021

Benedikt Kaiser

Benedikt Kaiser ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Verlagslektor.

Vor über einem Jahr, Ende Janu­ar 2020, wur­de aus Deutsch­land der ers­te Fall von SARS-CoV‑2 gemel­det. Ein Mit­ar­bei­ter eines Auto­bau­zu­lie­fe­rers hat­te sich in Bay­ern im Rah­men einer Schu­lung bei einer chi­ne­si­schen Kol­le­gin ange­steckt. Die­se Infek­ti­on, hun­dert­fach poten­ziert eini­ge Tage spä­ter in Heins­berg, dem ers­ten deut­schen »Hot­spot«, war auch hier­zu­lan­de der Auf­takt zu einer Epo­che der glo­ba­len Trans­for­ma­ti­on von Lebens­ver­hält­nis­sen, poli­ti­schen Struk­tu­ren und öko­no­mi­schen Pro­zes­sen. Einer Trans­for­ma­ti­on, die bis­wei­len »Gre­at Reset«, »Gro­ßer Umbruch« oder »Gro­ße Unter­bre­chung« genannt wird – und an des­sen Anfang wir erst stehen.

 

Vor einem Jahr … 

wuß­te im Grun­de noch nie­mand, was SARS-CoV‑2 bedeu­ten könn­te. Das »schwe­re aku­te Atem­wegs­syn­drom-Coro­na­vi­rus-Typ 2« kann die Infek­ti­ons­krank­heit COVID-19 (Coro­na­vi­rus-Krank­heit 2019) aus­lö­sen. Auch zur Jah­res­wen­de 2002 / 2003 kam es zu einer Virus­krank­heit, die von einem Coro­na­vi­rus ver­ur­sacht wur­de. Ihr wur­den damals rund 800 Todes­fäl­le zuge­rech­net. Grö­ße­re Ver­hee­run­gen konn­ten eben­so ein­ge­dämmt wer­den wie 2012, als MERS-CoV in Sau­di-Ara­bi­en auf­trat. In bei­den Bei­spiel­fäl­len war eine Über­tra­gung durch Fle­der­mäu­se ursäch­lich. Davon geht auch bei SARS-CoV‑2 die Mehr­zahl der Wis­sen­schaft­ler aus. Ein­zel­ne For­scher, dar­un­ter der Nano­wis­sen­schaft­ler Roland Wie­send­an­ger (Uni­ver­si­tät Ham­burg), ver­tre­ten dage­gen die The­se eines »Labor­un­falls« im chi­ne­si­schen Coro­na-Epi­zen­trum Wuhan. Es lie­gen somit diver­gie­ren­de Ana­ly­sen zur Ent­ste­hung von neu­en Coro­na­vi­ren vor, die zoo­no­tisch – von Tie­ren auf Men­schen – über­tra­gen wer­den. Doch das Ent­schei­den­de ist, daß sich neue Krank­heits­er­re­ger in hoch­mo­bi­len Zei­ten welt­weit rasend schnell ver­brei­ten und daß sich so die Wahr­schein­lich­keit einer Pan­de­mie, das heißt einer welt­wei­ten Epi­de­mie, erhöht. Das wuß­te auch die Bun­des­po­li­tik. Man war – theo­re­tisch – vorbereitet.

 

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jähr­te sich die Ver­ab­schie­dung des deut­schen Pan­de­mie­plans zum fünf­zehn­ten­mal. 2005 wur­de er vor­ge­stellt, 2017 aktua­li­siert. Der Titel einer Risi­ko­stu­die lau­te­te Pan­de­mie durch Virus Modi-SARS; Haupt­ak­teur war das bun­des­ei­ge­ne Robert-Koch-Insti­tut (RKI). Die dazu­ge­hö­ri­ge Bun­des­tags­druck­sa­che (17 / 12051, 3. 1. 2013) umfaßt etwa 90 Sei­ten inklu­si­ve Virus-Simu­la­ti­on. Doch der zustän­di­ge Aus­schuß beschloß, daß man »von einer Bericht­erstat­tung zu den nach­ste­hen­den Vor­la­gen absieht«. Die Vor­la­gen lesen sich – mit heu­ti­gem Erkennt­nis­stand – drän­gend: Von Wild­tie­ren, die auf Märk­ten gehan­delt wur­den, auf Men­schen über­ge­gan­gen, ver­brei­tet sich das Virus von Chi­na aus nach Deutsch­land. Als regel­rech­te »Sprea­der« wer­den Kran­ken­häu­ser, Hotels und Flug­zeu­ge ange­führt, ein Lock­down wird für nicht not­wen­dig befun­den. Hygie­ne­emp­feh­lun­gen, Schul­schlie­ßun­gen und die Absa­ge von Groß­ver­an­stal­tun­gen wer­den ange­führt, um die drei Wel­len der Infek­ti­ons­krank­heit über drei Jah­re hin­weg abzu­fe­dern. Die Autoren, dar­un­ter RKI-Ver­ant­wor­tungs­trä­ger, zeich­nen ein dras­ti­sches Bild mög­li­cher Infek­ti­ons­zah­len und Fol­ge­wir­kun­gen. Doch der dama­li­ge Gesund­heits­mi­nis­ter Dani­el Bahr ließ sie nicht zur Debat­te stel­len: Das The­ma ver­schwand bis Ende 2019 aus der Wahrnehmung.

 

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wuß­te man nicht exakt Bescheid über den Zustand des welt­weit hoch­ge­ach­te­ten deut­schen Gesund­heits­sys­tems. Gewiß: In den letz­ten zehn Jah­ren wur­den 120 Kli­ni­ken geschlos­sen und mehr als 10 000 Kran­ken­haus­bet­ten abge­schafft. Den­noch konn­te die Finan­cial Times im April 2020 ver­mel­den, daß es in Deutsch­land ein »Über­an­ge­bot« gebe, denn die BRD lag im Ver­gleich von zehn Län­dern bei der Zahl der Bet­ten je 1000 Ein­woh­ner auf Platz drei. Die Ber­tels­mann-Stif­tung war nun nicht der ein­zi­ge, wohl aber der pro­mi­nen­tes­te Akteur, der aus Grün­den der Pro­fi­ta­bi­li­tät zu einer Art ver­stärk­ten »Kran­ken­haus-Wett­be­werbs­wirt­schaft« dräng­te: Man emp­fahl – unmit­tel­bar vor der Coro­na­wel­le – Schlie­ßun­gen wei­te­rer Kli­ni­ken, deren Betrieb sich nicht »loh­ne«. Die lin­ke Publi­zis­tin Vere­na Krei­lin­ger ver­weist zudem auf einen Aspekt, der unab­hän­gig der Zah­len­an­ga­be von Bet­ten zu beden­ken ist: Pro aus­ge­bil­de­ter Pfle­ge­kraft kom­men in Deutsch­land je Tages­schicht 13 Pati­en­ten. In den Nie­der­lan­den liegt der Wert bei sie­ben, in Nor­we­gen knapp über fünf. Die­ser Umstand, kor­re­lie­rend mit dem Man­gel an cir­ca 150 000 Pfle­ge­kräf­ten in deut­schen Kran­ken­häu­sern und der anhal­ten­den Lohn­de­bat­te, war vor einem Jahr schon eine Her­aus­for­de­rung. Doch erst »Coro­na« lenk­te den Fokus auf die­se Gemenge­la­ge, was im Früh­jahr 2020 zum Dau­er­klat­schen vor Kli­ni­ken führ­te. Man kann sich die Par­al­lel­ent­wick­lung so vor­stel­len: Wäh­rend Phar­ma­kon­zer­ne den Fokus auf die (zu?) rasan­te Ent­wick­lung diver­ser Coro­na-Vak­zi­ne rich­te­ten, den sich öff­nen­den Kri­sen­markt als Mit­tel zur Berei­che­rung auf­faß­ten und jenes gro­ße Geschäft wit­ter­ten, das sie gegen­wär­tig welt­weit ein­fah­ren, beant­wor­te­te man die Män­gel des Gesund­heits­we­sens mit Jubel­ari­en auf sei­ne Beschäf­tig­ten. Es war eine bun­des­weit zu beob­ach­ten­de Far­ce, die in den unan­ge­neh­men Lock­down-Zei­ten zahl­rei­chen You­Tube-Vide­os gefäl­li­ge Inhal­te ver­schaff­te, aber als wohl­feil und wert­los erschei­nen muß.

 

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war der Begriff des »Lock­down«, der Aus­gangs­sper­re oder der Mas­sen­qua­ran­tä­ne, im All­tag unge­bräuch­lich. Das änder­te sich mit den ers­ten Nach­rich­ten über den real exis­tie­ren­den Lock­down in der Elf­mil­lio­nen­stadt Wuhan, und ab Mit­te März 2020 war das Her­un­ter­fah­ren öffent­li­chen und zuneh­mend auch pri­va­ten Lebens in Deutsch­land noto­risch. Die Ein­schrän­kung grund­ge­setz­lich ver­brief­ter Rech­te der Deut­schen müß­te dabei stets neu abge­wo­gen wer­den zwi­schen den Inter­es­sen der All­ge­mein­heit (dem Schutz vor einem schwer­be­herrsch­ba­ren, aber ein­fach zu über­tra­gen­den Virus) und den Grund­rech­ten eines jeden. Doch mit zuneh­men­der Dau­er der Lock­down-Maß­nah­men – mit zum Teil absur­den Son­der­re­ge­lun­gen und osten­ta­ti­ven Logik­sprün­gen – nahm das Vor­schuß­ver­trau­en gegen­über der poli­tisch ver­ant­wort­li­chen Klas­se ab. Vor einem Jahr bezeich­ne­te Ange­la Mer­kel den Vor­rang restrik­ti­ver Ver­ord­nun­gen ver­meint­lich selbst­kri­tisch als »demo­kra­ti­sche Zumu­tung«, und in der Tat ist die Kri­se eine Bewäh­rungs­pro­be für den Ver­fas­sungs­staat. Daß Bund und Län­der auf Grund­la­ge unter­schied­lichs­ter Aus­le­gun­gen des Infek­ti­ons­schutz­ge­set­zes regeln, wer sich mit wem tref­fen darf und wer nicht, wel­che Kin­der betreut wer­den und wel­che nicht, wer sich ver­sam­meln darf und wer nicht, sorgt für Unmut, denn gleich­zei­tig geht die wirt­schaft­li­che Pro­duk­ti­on und Ver­wer­tung wei­ter, als gäl­ten dort ande­re Über­tra­gungs­we­ge. Was für die einen die Wie­der­kehr einer staat­lich erzeug­ten »Ent­wür­di­gung in Samt­hand­schu­hen« (Hel­muth Pless­ner) ist, glich ande­ren schon vor einem Jahr als ein Mer­kel­scher »Prag­ma­tis­mus mit Plan« (Ger­tru­de Lüb­be-Wolff). Wie­der ande­re, vor allem am poli­tisch lin­ken Rand, ver­wer­fen bei­des und for­dern die Stei­ge­rung des Lock­downs: den tota­len Shut­down.

 

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war die­ser Wan­del des Staats­bil­des nicht vor­her­seh­bar. Auto­ri­tä­re Maß­nah­men­ka­ta­lo­ge fin­den in Pan­de­mie­zei­ten Befür­wor­ter an unge­ahn­ter Stel­le, wäh­rend die genui­nen Ver­tre­ter des hand­lungs­star­ken, auto­ri­tä­ren Staa­tes zu Skep­ti­kern die­ser Staats­ma­schi­ne­rie wer­den. Man kann an die­ser Stel­le »Zero Covid«-Extreme eben­so ver­nach­läs­si­gen wie Feuil­le­ton­ra­di­ka­le (»Mehr Dik­ta­tur wagen!« for­der­te Tho­mas Brussig in der Süd­deut­schen Zei­tung vom 9. Febru­ar). Inter­es­san­ter wird es bei jenen Köp­fen, deren Den­ken sich nicht in Rabu­lis­tik erschöpft, son­dern die aus der Lage Über­dau­ern­des ablei­ten wol­len. Der SPD-Poli­ti­ker Mathi­as Brod­korb bei­spiels­wei­se schnei­det in einem viel­be­ach­te­ten Cice­ro-Leit­ar­ti­kel diver­se hei­li­ge Zöp­fe der ver­ei­nig­ten Libe­ra­len und Lin­ken ab. Kri­sen­be­wäl­ti­gung, so defi­niert Brod­korb, »ist die staats­po­li­ti­sche Königs­klas­se«, und es lie­ge »in der Natur der Sache, daß es in kei­ner Situa­ti­on so sehr auf den Staat ankommt wie im ›Ernst­fall‹ (Carl Schmitt)«. Doch eben­je­ner Staat hat einen schlech­ten Leu­mund in der BRD des Jah­res 2021. Das füh­re dazu, daß sowohl »Auto­ri­tät« als auch »Hand­lungs­fä­hig­keit« des Staa­tes suk­zes­si­ve ver­lo­ren­ge­hen. Der Staat sei degra­diert zur »Ver­sor­gungs­an­stalt für jeder­mann«. Brod­korb, der es wohl­weis­lich unter­läßt, die Schuld­fra­ge zu erör­tern, benennt drei For­de­run­gen: Ers­tens das Zurück­stut­zen einer teils »metasta­sie­ren­den Büro­kra­tie«; zwei­tens eine Neu­ord­nung der föde­ra­len Mecha­nis­men; drit­tens mehr Füh­rung und weni­ger »blo­ße Mode­ra­ti­on«. »Der Staat«, ent­fal­tet Brod­korb, »ist kei­ne ›Milch­kuh‹ (Arnold Geh­len), an deren Zit­zen sich aller­lei Par­ti­ku­lar­in­ter­es­sen laben kön­nen, son­dern hat in unser aller Inter­es­se dem Gemein­wohl zu dienen.«

Auto­ri­tät, Staat, Schmitt, Ernst­fall, Geh­len, Gemein­wohl – Brod­korb wil­dert selbst­be­wußt in rech­tem Ter­rain. Auch das war vor einem Jahr unvor­stell­bar. Die Gret­chen­fra­ge wird sein, ob es Brod­korb tat­säch­lich um einen Staat als Staat geht, was eine Absa­ge an die mehr denn je dro­hen­de »Herr­schaft der Betreu­er« impli­zier­te. Es wer­den näm­lich Polit­päd­ago­gen schwar­zer, grü­ner und roter Pro­ve­ni­enz sein, »die ein poli­ti­sches Eigen­in­ter­es­se dar­an haben, die Betreu­ten mate­ri­ell und vor allem in ihrem Selbst­ver­ständ­nis hilf­los und hilfs­be­dürf­tig zu hal­ten« (Hel­mut Schelsky) – und dem­zu­fol­ge wür­de man alle drei Par­tei­far­ben glei­cher­ma­ßen des Fel­des ver­wei­sen müs­sen. Kann Brod­korb auch die­sen schluß­fol­gern­den Sprung des Den­kens wagen?

 

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begann sich eine neue Coro­na-Bevöl­ke­rungs­ge­mein­schaft zu bil­den. Ihr macht­po­li­ti­sches Zen­trum inte­griert unter­schied­li­che Spek­tren: Die Band­brei­te reicht im par­la­ments­po­li­ti­schen Betrieb von Law-and-Order-Neo­cons der CSU über Mul­ti­pli­ka­to­ren wie Karl Lau­ter­bach (SPD) bis zu Bodo Rame­low (Die Lin­ke), ver­voll­komm­net durch die mas­sen­me­dia­le Omni­prä­senz der Mer­kel-Regie­rung sub­or­di­nier­ter Viro­lo­gen und ihnen Gehor­sam leis­ten­den Bür­ger­scha­ren. Die­se im fal­schen Sin­ne auto­ri­tär gepol­te Alli­anz läßt immer stren­ge­re Maß­nah­men gel­ten und warnt im glei­chen Atem­zu­ge vor »Covidio­ten« oder dem »Öff­nungs­rausch« (Mar­kus Söder) mode­ra­ter wie radi­ka­ler Maß­nah­men­kri­ti­ker. Gegen die­se »Drei­ei­nig­keit zwi­schen Poli­tik, Wis­sen­schaft und Volk« (und der Jour­na­list Cordt Schnib­ben sieht die­se ins Nega­ti­ve gespie­gel­te Ver­falls­form einer Volks­ge­mein­schaft durch­aus posi­tiv) erweist sich bis dato kein Kraut gewach­sen, sofern man von juris­ti­schen Teil­erfol­gen wider die Coro­naschutz­maß­nah­men – etwa sei­tens der AfD in Thü­rin­gen – absieht. Obschon das Sank­ti­ons­re­gime der Coro­na­po­li­tik grosso modo funk­tio­niert, kann auch Posi­ti­ves bilan­ziert wer­den: Denn das staat­li­che Trei­ben der (fal­schen) Eli­te zeigt, daß die Hand­lungs­macht des Staa­tes wei­ter­hin gege­ben ist und mehr denn je von der Bereit­schaft der Ver­ant­wor­tungs­trä­ger zur Dezi­si­on abhängt. Unver­hofft ein­deu­tig sind Din­ge, von denen uns gesagt wur­de, sie sei­en auf­grund objek­ti­ver Gege­ben­hei­ten nicht mög­lich und mach­bar, objek­tiv mög­lich und mach­bar. Die ideo­lo­gi­schen Para­me­ter der ver­ant­wort­li­chen Akteu­re sind zu ver­wer­fen, aber auf einer wert­neu­tra­len Ebe­ne wird deut­lich: Die Räu­me von Staat und Poli­tik blei­ben auch im frü­hen 21. Jahr­hun­dert gestalt­bar. »Im Lau­fe einer ein­zi­gen Woche«, liest man bei Ivan Kras­tev, »wur­den wegen Covid-19 mehr euro­päi­sche Gren­zen geschlos­sen als in der Flücht­lings­kri­se 2015.« Die Kri­se, die vor einem Jahr begann, zeigt uns, was ein pla­nungs­fä­hi­ger Staat voll­brin­gen kann, wenn der poli­ti­sche Wil­le vor­han­den und die öffent­li­che (respek­ti­ve ver­öf­fent­lich­te) Stim­mung güns­tig ist.

Wie so oft wer­den auch hier en pas­sant ein Allein­stel­lungs­merk­mal der Kri­tik von rechts und der blin­de Fleck der Lin­ken evi­dent: Denn ein dezi­diert lin­ker Publi­zist wie D. F. Bertz tut zwar gut dar­an, die­ses Virus als Glo­ba­li­sie­rungs­fol­ge zu beschrei­ben und dar­auf hin­zu­wei­sen, daß tem­po­rä­re »Grenz­schlie­ßun­gen, dia­gnos­ti­sche Tests und Qua­ran­tä­ne­maß­nah­men« vor einem Jahr »die unge­hin­der­te Aus­brei­tung des Virus« hät­ten brem­sen kön­nen, und er behält recht, wenn er bemän­gelt, daß just die­se staat­li­chen Maß­nah­men ver­mie­den wur­den, weil sie »als Unter­bre­chun­gen der Schlag­adern des Welt­han­dels tabu« erschie­nen. Doch fällt das Sche­ma auf ihn zurück: Auch die Migra­ti­ons­kri­se 2015 ff. hät­te näm­lich durch »Grenz­schlie­ßun­gen« prä­ven­tiv ein­ge­hegt wer­den kön­nen. Pull-Fak­to­ren wären schwä­cher gewor­den, der damit ver­bun­de­ne Drang von Mil­lio­nen Men­schen, die Hei­mat zu ver­las­sen, wäre nicht durch gene­rö­se Ein­la­dungs­po­li­tik genährt wor­den. Frei­lich waren auch die­se auto­ri­tä­ren Set­zun­gen nicht zuletzt des­halb »tabu«, weil sie eben »als Unter­bre­chun­gen der Schlag­adern des Welt­han­dels« gewirkt hät­ten: Das Kapi­tal bedarf nicht nur des frei­en Finanz- und Waren­ver­kehrs, son­dern auch der frei­en Migrationsströme.

 

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schon waren die Par­tei­en der ver­knüpf­ten Glo­ba­li­sie­rungs- und Migra­ti­ons­kri­tik die AfD in Deutsch­land und der Ras­sem­blem­ent Natio­nal (RN) in Frank­reich. Bei­de haben sich im Zuge der Kri­se ungleich ent­wi­ckelt. Wäh­rend die AfD trotz end­lich wach­sen­den Unmuts in Tei­len des Wahl­volks in kei­nen Umfra­gen mehr an das Bun­des­tags­wahl­er­geb­nis von 2017 her­an­kommt und sich immer wie­der coro­na­po­li­ti­sche Kehrt­wen­dun­gen leis­tet, kann sich die seit Anbe­ginn eini­ger­ma­ßen auf eine Gene­ral­li­nie kapri­zie­ren­de RN-Che­fin Mari­ne Le Pen »im Glanz guter Umfra­ge­wer­te son­nen«. Doch zunächst zur AfD: Ein Vier-Punk­te-The­sen­pa­pier, das Ende Febru­ar 2021 beschlos­sen wur­de, for­dert, daß in allen Ein­rich­tun­gen, in denen Hygie­ne­re­geln umge­setzt wer­den kön­nen, »sofort eine Eröff­nung erfol­gen« müs­se. Vor einem Jahr klang das anders: Man for­der­te als ers­te Bun­des­tags­par­tei den Lock­down, um dem auf­kom­men­den Virus Herr zu wer­den, bevor man zum mar­kigs­ten Geg­ner eben­je­ner (zu spät?) erfolg­ten Maß­nah­men wur­de. Inter­ne Tur­bu­len­zen rund um »Quer­den­ker« und schril­le Töne ein­zel­ner Ver­ant­wor­tungs­trä­ger zeig­ten: Es gab kei­ne ein­heit­li­che Posi­ti­on, son­dern ein Sam­mel­su­ri­um sich zum Teil gegen­sei­tig aus­schlie­ßen­der Posi­tio­nen. Das wird auch am The­ma Impf­stoff deut­lich. Obschon man damals wie heu­te eine »Impf­pflicht« (direkt oder indi­rekt) ablehnt, änder­te sich der Ton: Hat­ten Bun­des­tags­ab­ge­ord­ne­te im Lau­fe des Jah­res 2020 noch vor dem »Expe­ri­ment« Coro­na­imp­fung gewarnt, das »in die Gene« ein­grei­fe, for­dert das AfD-Papier nun, »zeit­nah eine aus­rei­chen­de Men­ge an Impf­do­sen und Medi­ka­men­ten zur Ver­fü­gung zu haben«. Dar­über hin­aus Zugangs­miß­brauch: Der Frak­ti­ons­vor­sit­zen­de im Land­tag zu Düs­sel­dorf ließ nicht nur sich selbst imp­fen, son­dern gleich noch Ehe­frau und Soh­ne­mann. Der­ar­ti­ge Wider­sprü­che wer­den vom poli­ti­schen Geg­ner lust­voll ver­wer­tet. Der RN in Frank­reich hin­ge­gen hat sei­ne Posi­ti­on seit März 2020 kaum ver­än­dert: Er for­dert als Schutz­pa­tron der clas­ses popu­lai­res eine Befrei­ung vom Lock­down für klei­ne Geschäf­te (wäh­rend die Gro­ßen betrof­fen sein sol­len), hebt zen­tral das gesund­heit­li­che Schutz­be­dürf­nis her­vor, posi­tio­niert sich nicht wer­tend zum Imp­fen (obgleich sich Mari­ne Le Pen imp­fen las­sen möch­te) und stellt die sozia­len und wirt­schaft­li­chen Fol­gen der der­zei­ti­gen Not­la­ge ins Zen­trum der Agi­ta­ti­on, weni­ger die Beno­tung aktu­el­ler Maß­nah­men­po­li­ti­ken. Die­se stra­te­gi­sche Weit­sicht könn­te sich aus­zah­len. Auch RN-kri­ti­sche Intel­lek­tu­el­le wie Ivan Kras­tev räu­men lang­fris­tig aus­ge­rich­te­ten Hege­mo­nie­pro­jek­ten wie dem­je­ni­gen Le Pens reel­le Wir­kungs­op­tio­nen ein. Ist die »hei­ßes­te Pha­se der gegen­wär­ti­gen Kri­se« erst ein­mal vor­bei und fürch­ten »die Men­schen nicht mehr um ihr Leben«, dann »wird die Wut zurück­keh­ren« und »Poli­ti­ker wie Mari­ne Le Pen« dürf­ten »Ober­was­ser bekom­men«. Die häu­fig abs­trak­te Angst vor dem Virus, könn­te man schluß­fol­gern, weicht dann der kon­kre­ten Angst vor sozia­len Verwerfungen.

 

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schon besa­ßen Ent­wick­lun­gen »Ober­was­ser«, die in Rich­tung einer stär­ker digi­ta­li­sier­ten Lebens­welt in Wirt­schaft, Poli­tik und Gesell­schaft dräng­ten. Das Coro­na­vi­rus und die glo­ba­len Maß­nah­men zu sei­ner Ein­däm­mung wirk­ten hier­bei ledig­lich als Vehi­kel für Pro­zes­se, die ohne­hin her­an­reif­ten. Man kann, nega­ti­ver gewen­det, von einer Art Brand­be­schleu­ni­ger spre­chen, der Ten­den­zen ver­stärkt und zusam­men­ge­führt hat. Das Zeit­al­ter des neo­li­be­ra­len Kapi­ta­lis­mus – seit Rea­gan und That­cher ein­ge­führt, seit Schrö­der und Blair durch Geset­zes­pa­ke­te in Euro­pa ver­ste­tigt – geht sei­nem Ende ent­ge­gen; wir erle­ben ein »Inter­re­gnum« (Anto­nio Gramsci), in dem das Alte abge­löst wird, das Neue aber noch nicht voll­endet ist. Was sich in die­sen letz­ten drei­ßig Jah­ren ver­än­dert hat, ist die Rol­le des Staa­tes. Vor der neo­li­be­ra­len Wen­de war er ein Hin­der­nis; nach ihr wur­de er als Instru­ment ver­stan­den. Der Staat wur­de zurecht­ge­schnit­ten ein­ge­setzt zur Absi­che­rung der Herr­schaft der Märk­te, wur­de zu einer Beu­te, die sich selbst als hung­rig erwies. Der­art gestärkt, trans­for­miert sich der zeit­ge­nös­si­sche Kapi­ta­lis­mus unter den Bedin­gun­gen anhal­ten­der Kri­sen­ge­le­gen­hei­ten in neue Mischformen.

Blei­ben die Grund­pa­ra­me­ter der Pro­duk­ti­ons- und Pro­fit­wei­se auch erhal­ten: Die neue Ent­wick­lungs­pha­se war­tet mit stär­ker finan­zia­li­sier­ten und digi­ta­li­sier­ten For­men auf. Zu kon­sta­tie­ren ist die monopol­artige Ver­fü­gungs­ge­walt von Big Tech eben­so wie die Rol­le von zu Mikro­staa­ten wer­den­den Hyper­kon­zer­nen. Sie för­dern Ent­wick­lun­gen, die den kon­ti­nen­tal­eu­ro­päi­schen Mit­tel­stand liqui­die­ren, wäh­rend der poli­tisch-ideo­lo­gi­sche Staats­ap­pa­rat nichts zu des­sen Ver­tei­di­gung bei­zu­tra­gen hat. Das heißt auch: Über die neue Mix­tur aus Ele­men­ten von staats­mo­no­po­lis­ti­schem Kapi­ta­lis­mus, Big-Tech-Märk­ten und neo­feu­da­ler Reich­tums­kon­zen­tra­ti­on ver­fes­ti­gen sich Zustän­de, die mit klas­si­scher Markt­wirt­schaft nichts gemein haben, von einer sozi­al aus­staf­fier­ten ganz zu schwei­gen. Die herr­schen­de Klas­se – eine kapi­ta­lis­ti­sche, die einen links­li­be­ra­len, »woken« Über­bau koop­tiert – nutzt die anhal­ten­de Coro­na-Kri­sen­si­tua­ti­on für den wei­te­ren glo­ba­len Umbau. Die Pro­duk­ti­ons- und Lebens­wei­se unter Bedin­gun­gen der digi­ta­len Netz­ge­sell­schaft soll exklu­si­ver denn je »Rei­chen und Ein­fluß­rei­chen« (Paul Schrey­er) bzw. »Wohl­ha­ben­den und Wohl­mei­nen­den« (Bernd Ste­ge­mann) zugu­te kom­men; sie wird auto­ri­tär abge­si­chert, durch mas­sen­wirk­sa­me Angst­pro­pa­gan­da sekun­diert und stößt in Rich­tung »Post-truth«-Gefilde vor, in einen »Zustand jen­seits der Wahr­heit« (Timo­thy Snyder).

Das heißt im Umkehr­schluß nicht, daß die­ser Neu­be­ginn Script­ed Rea­li­ty wäre. Der Gre­at Reset ist real, doch trotz der Ver­laut­ba­run­gen von Klaus Schwab und Co. folgt er eher gesetz­mä­ßi­gen Abläu­fen und poli­ti­schen Rich­tungs­ent­schei­dun­gen als einem fest­ge­zurr­ten Plot. Wirt­schaft­lich und poli­tisch Herr­schen­de nut­zen jede Kri­se – so auch im Fal­le Coro­nas die hege­mo­nia­len Glo­ba­lis­ten. Die spe­zi­fi­schen Inhal­te die­ser Kri­sen­jus­tie­rung und die Fra­ge, wer ihnen wie begeg­net, zie­hen eine Neu­ver­mes­sung des Gelän­des auch für die Out­si­der des Betrie­bes nach sich. Das heißt kon­kret, daß wir spä­tes­tens jetzt über die Gewiß­heit ver­fü­gen, daß sich alte poli­ti­sche Front­li­ni­en neu ord­nen. »Die COVID-19-Pan­de­mie ver­heißt uns ein Ende der Glo­ba­li­sie­rung, wie wir sie ken­nen«, mut­maßt Ivan Kras­tev. Wenn der Pro­gno­se­den­ker recht behält, gilt es ledig­lich zu ergän­zen: Die Pan­de­mie ver­heißt uns auch ein Ende der Front­ver­läu­fe, wie wir sie ken­nen. Der Haupt­wi­der­spruch wird fort­an zwi­schen Glo­ba­lis­ten und Anti­glo­ba­lis­ten (jeweils: aller Cou­leur) verlaufen.

 

Vor einem Jahr …

begann somit die Neu­ord­nung des Poli­ti­schen. Man täte gut dar­an, nicht abseits zu ste­hen, son­dern, not­wen­di­ge Stand­punk­te ver­tie­fend und ver­dich­tend, selbst dar­ob tätig zu wer­den. Gre­at Reset, der gro­ße Neu­start, hie­ße dann, zuge­schnit­ten auf unse­ren Kon­text: Die Kar­ten wer­den neu gemischt und aus­ge­teilt. Viel­leicht zie­hen wir schon bald ein As.

 

Benedikt Kaiser

Benedikt Kaiser ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Verlagslektor.

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