Für Rechte und Konservative, die im Staat eine erhaltenswerte Errungenschaft sehen, war das vergangene Jahr eine besondere Herausforderung. Das Problem ist dabei nicht, daß der Staat Dinge tat (und tut), die aus rechter Sicht kontraproduktiv oder unverhältnismäßig sind, denn daran hat man sich in den letzten hundert Jahren gewöhnt und es sich damit erklärt, daß der Staat Interessengruppen in die Hände gefallen sei. Neu ist vielmehr die plötzliche Omnipräsenz, mit der sich der Staat in der Corona-Krise zeigt und die darauf hinzudeuten scheint, daß eine andere konservative Überzeugung, die vom Rückzug und der Schwäche des Staates, zumindest erklärungs- oder anpassungsbedürftig ist.
Die jetzt von verschiedenen Seiten herangezogene Deutung der Bundesrepublik als »Doppelstaat« weist in diese Richtung, auch wenn sie mit der Differenzierung zwischen Normen- und Maßnahmenstaat den subjektiven Eindruck der Zeitgenossen nicht trifft. Denn wenn wir Peter Sloterdijk glauben dürfen, zieht der Staat in der Corona-Krise seine »Samthandschuhe« aus, mit anderen Worten: Mit seinen Maßnahmen packt er direkt zu und zeigt sich bei den Normen anpassungsfähig. Eine Lücke tut sich kaum auf einmal auf.
Tatsächlich hat der Staat lange nicht so direkt in das Leben jedes einzelnen eingegriffen, auch in das Leben desjenigen, der möglichst alle Berührungspunkte mit dem Staat zu vermeiden sucht. Der heilige Föderalismus wurde weitgehend ausgehebelt, die Selbständigkeit der Länder ist nur noch eine Fassade. Gemacht wird, was in Berlin festgelegt wird. Seit März 2020 schreibt der Staat seinen Bürgern Dinge vor, die als Zumutung begriffen und abgelehnt werden müßten, da ihre Notwendigkeit nicht plausibel ist. Der Staat zwingt uns zum Tragen einer Maske, zum Offenlegen unserer privaten Kontakte. Er bestimmt, wie groß und in welchem Rahmen unsere Familienfeiern stattfinden und wohin wir in den Urlaub fahren dürfen. Er hebelte sogar die Schulpflicht aus, die er sonst mit Zähnen und Klauen gegen diejenigen verteidigt, die ihre Kinder zu Hause unterrichten wollen. Er degradiert seine Bürger zu Laufburschen der Gesundheitsämter, er macht Selbständige, Gastronomen, Unterhalter und Veranstalter zu Abhängigen seiner Almosen. Er verbietet Kontakte zwischen Enkeln und Großeltern. Gegen all dies gibt es kaum Kritik, kaum Widerstand. Ein Grund dafür ist der Gleichheitswahn (siehe Sezession 100: »Gleichheit und Gleichschritt«), der den Menschen als hilflosen einzelnen, der keinen Halt außer dem Staat hat, zurückläßt.
Diese Anpassung wäre dann vorbildlich, wenn es sich bei der Corona-Pandemie um einen wirklichen Ernstfall handeln würde. Denn immerhin kann es auch ein Ausdruck von Vertrauen sein, wenn die Bürger dem Staat so bereitwillig folgen und sogar bereit sind, ihre eigene Existenzgrundlage hintanzustellen. Mittels Umfragen, über deren Qualität man streiten kann, wird zumindest der Eindruck erweckt, daß die Masse der Bürger das alles (wenn auch zähneknirschend) mitträgt und sich den Notwendigkeiten des Ernstfalls unterwirft.
Es muß hier die Frage gestellt werden, ob wir es aktuell überhaupt mit einem Ernstfall zu tun haben. Die Frage stellt sich selbst dann, wenn man all das glaubt, was als Horrorszenario an die Wand gemalt wird. Auch die Spanische Grippe war 1918 / 19 ein Ernstfall, und auch damals wurden Maßnahmen zur Eindämmung ergriffen. Allerdings traf die Grippe ein Land, das im vierten Kriegsjahr stand und einer Hungerblockade ausgesetzt war. Heute gibt es keinen Moment, der auf einen Ernstfall hinweist. Wir haben vielmehr eine völlig neue Definition von Ernstfall vorliegen. Klassischerweise geht es beim Ernstfall um Sein oder Nichtsein, um das Überleben, allerdings nicht um das des einzelnen, sondern um das des Staates als Ganzes. Winfried Martini hat die Bundesrepublik bereits 1960 als »Staat ohne Ernstfall« bezeichnet, und auch wenn sie dafür schon erstaunlich lange besteht, widerspricht ihm die aktuelle Lage nicht. Die klassische Definition des Ernstfalls gilt nicht mehr, wenn der Staat einfach seine Herrschaftsziele ändert und die Gesundheit seiner Bürger (und die der EU-Bürger) als ein solches definiert.
Daß dieser Wechsel so problemlos funktioniert, ist eine Konsequenz des demokratischen Zeitalters, in dem sich Staat und Gesellschaft eng miteinander verbunden haben. Die Folgen dieser Verbindung sind konservatives Allgemeingut, das Arnold Gehlen Ende der 1960er Jahre noch einmal in Erinnerung gerufen hat. Er spricht von dem Moment, an dem der Staat unweigerlich mit der Gesellschaft kollidiert und er zur »Neutralisierungsebene gesellschaftlicher Konflikte« wird, was seit dem 19. Jahrhundert vor allem den Ausgleich von Arm und Reich, die Sozialpolitik betraf.
Dieser erste Wechsel des Herrschaftsziels bleibt langfristig nicht folgenlos. Denn auch wenn dieser Ausgleich zunächst noch mit Mitteln einer aktiven Außenpolitik gestützt werden konnte, steht das klassische Herrschaftsziel in Frage: »Mit der ungemeinen Steigerung der Produktion seit der Mitte des 20. Jahrhunderts und der Gewöhnung an einen dauernd steigenden Lebensstandard wird allerdings der Staat zu einem Vollstreckungsorgan dieser rein gesellschaftlichen Tendenzen, er hat in der Bundesrepublik, kurz gesagt, für die Konjunktur zu sorgen, und dies um so ausschließlicher, als eigentlich politische Zielsetzungen plausibler Art nicht möglich sind.« Diese Entwicklung, und das ist die gegenläufige Tendenz, weicht die Autorität des Staates auf, und die Frage, worauf sich der Staat berufen kann, um Gefolgschaft einzufordern, wird nur noch mit seiner Eigenschaft als »Milchkuh« beantwortet. Die gesellschaftlichen Partikularinteressen dominieren das Ganze und zwingen dem Staat ihren Willen auf. Dies wiederum führt unweigerlich zum Verfall der öffentlichen Moral.
Diese Moral ist der Schatz, auf den ein Staat in Krisenzeiten zurückgreifen muß, wenn er überleben will. Und er muß auch darauf zurückgreifen können, wenn ihm die Mittel fehlen, um die Menschen für ihre Opfer zu entschädigen. Schon Tocqueville hat gezeigt, daß in egalitären Gesellschaften weniger Resilienz vorhanden ist. Ein Nachfolger von ihm, der Philosoph Kenneth Minogue, sieht den Grund dafür ebenfalls im demokratisch verfaßten Staat, in dem die Regierungen, legitimiert durch das Volk, immer mehr Kontrolle über die Gesellschaft und das öffentliche Leben der einzelnen Menschen erlangen. Hinzu kommt, daß auf diese Weise das Moralische und das Politische miteinander kombiniert werden, so daß moralische Autonomie für den einzelnen unmöglich wird und alles den moralischen Geboten unterworfen ist, die politisch determiniert sind. Der unabhängige, der eigenen Urteilskraft, den eigenen Gründen vertrauende Bürger wird zum Sklaven, dessen serviles Denken von Autoritäten abhängt, die es nicht gut mit ihm meinen. Das hat Folgen für die politische Partizipation: »Früher hätten die Wähler mit Spott auf Politiker reagiert, die nach der Macht streben, um unsere Probleme zu lösen. Heute werden sie vom Demos gewählt.« Sie werden gewählt, weil sie zukünftige Sicherheit versprechen, oder einfach aus Bequemlichkeit, die sie in eine Abhängigkeit bringt, die schließlich zu Denkverboten führt: »Wer sind wir denn überhaupt, daß wir glauben, uns gegen die Demokratie stellen zu müssen?« Demokratie untergräbt laut Minogue die moralische Lebensweise, indem sie die Untertanen der eigenen Anstrengung des Urteils enthebt. Auf diese Weise führe »das demokratische Telos« zur »Untergrabung jeder wahren Demokratie«, die nur noch den Staat übriglasse.
Wenn das alles nach klassisch liberaler Kritik am Staat klingt, so hat das seinen guten Grund darin, daß das Arsenal der liberalen Kulturkritik in der aktuellen Situation nicht ganz unpassend zu sein scheint. Von einem Vertreter, José Ortega y Gasset, dem Autor des Klassikers Der Aufstand der Massen, stammt der Satz: »Der Staat wird durch die Herrschaft der Massen zur höchsten Gefahr.« Die Masse ist gegen ihr eigenes Schicksal aufgestanden und erhebt Anspruch auf eigenes Handeln. Das ist etwas, das ihr Ortega per Definition abspricht, wenn er sagt, daß die Masse nicht in der Lage sei, aus eigenen Gründen zu handeln. Damit wird aus dem Staat, der »Ruhmestat der europäischen Kultur«, die größte Gefahr, die ihren Grund in sich selbst hat, denn erst der bürgerliche Staat ermöglicht es den Massen zu handeln.
Der Staat des Absolutismus war, entgegen landläufiger Auffassung, ein schwacher Staat, jedenfalls wenn man seine Möglichkeiten mit denen des aufstrebenden Bürgertums vergleicht. Dessen wachsende Stärke entlädt sich in den bürgerlichen Revolutionen des 19. Jahrhunderts, in denen es sich die öffentliche Gewalt aneignet und diese mit Aufkommen des Industriezeitalters der Masse ausliefert. Der Staat wird zu einer alternativlosen Größe, der sich der Massenmensch unterwirft: »Man stelle sich vor, daß im öffentlichen Leben eines Landes irgendeine Schwierigkeit, ein Konflikt, ein Problem auftaucht; der Massenmensch wird zu der Forderung neigen, daß der Staat sich sofort damit befasse und sie mit seinen riesenhaften und sicher wirkenden Mitteln direkt zu lösen vermag.« Aus dieser direkten Beziehung leitet Ortega die Gefahr ab, daß der Staat jeden »spontanen sozialen Antrieb« absorbiert. Hinzu komme die demokratische Illusion, daß der Staat mit der Masse, dem Volk identisch sei, woraus Ortega die Vermutung ableitet, daß der Massenmensch immer stärker dazu neigen werde, »ihn unter beliebigen Vorwänden in Tätigkeit zu setzen, um so jede schöpferische Minorität zu unterdrücken, die ihn stört«.
Das ist ein Phänomen, das weit über den dualistischen Staat, in dem Monarch und Parlament um die Hoheit ringen, hinausgeht. Hier ist keinerlei Dualismus mehr vorhanden, weil die Instanz, die der Masse etwas entgegenhalten konnte, sei es Bürgertum, Adel oder der König, als Machtfaktor ausgeschaltet wurde. Die Rede vom »Doppelstaat« ist daher etwas irreführend, da er nur dann vorliegt, wenn »die Staatsgewalt strukturell einheitlich organisiert ist, ihre Handhabe jedoch funktionell nach verschiedenartigen Methoden in Erscheinung tritt« (Fraenkel). Im Grunde haben wir es mit einem Phänomen der Massengesellschaft zu tun, die sich in der Formierungsphase befindet. Der Begriff des Doppelstaates, in dem Normen- und Maßnahmenstaat existieren, stammt von Ernst Fraenkel, der damit in den 1940er Jahren den NS-Staat charakterisierte. Das Muster aus einem Nebeneinander tradierter Normen, die insbesondere den Freiheitsraum des Individuums schützen, und situativ erlassener Maßnahmen, die der Durchsetzung übergeordneter Ziele dienen, wurde später auch auf den Stalinismus angewandt, was es zu einem Merkmal totalitärer Staaten machte. Gemeint ist damit ganz offensichtlich nicht, daß die Regierung das Parlament nicht angemessen in die Gesetzgebung einbindet, sondern eher die Tatsache, daß der zivilgesellschaftliche Druck dafür sorgt, daß den Maßnahmen auch dort gefolgt wird, wo es nicht notwendig wäre. Die gegenwärtige Rezeption des Begriffs formuliert damit vor allem ein Unbehagen an der gegenwärtigen Potenz des Staates. Die Sorge geht um, daß dieser Maßnahmenstaat zum Normalfall werden könnte.
In universalhistorischer Perspektive trifft sich dieses Unbehagen mit der erstmals von Oswald Spengler aufgezeigten Möglichkeit, daß Europa auf ein Zeitalter des Cäsarismus zusteuern könnte. Der Staat wird omnipräsent, er wird unduldsamer, als das im Absolutismus jemals der Fall gewesen war. Das ist einer Eigenschaft geschuldet, die der Franzose Bertrand de Jouvenel am Ende des Zweiten Weltkriegs herausgearbeitet hat. Jouvenel, den die Frage umtrieb, wie es den liberalen Demokratien des Westens möglich gewesen war, das Dritte Reich zu besiegen, obwohl ihre Verfassungen doch alles andere als totalitär waren, legt Wert auf den gemeinsamen Zug der Staatsgewalt. Über alle verschiedenen Herrschaftsformen hinweg sei die Expansion, die Ausweitung ihres Bereiches, das hervorstechende Merkmal der Staatsgewalt. Die Verwaltung werde ausgeweitet, die Steuererhebung verfeinert und das allgemeine Wahlrecht etabliert. Die Gefahr des Despotismus steige in der Demokratie, so Jouvenel, da man einer Staatsgewalt, die sich auf das gesamte Volk stützt, kaum begründet und erfolgversprechend entgegentreten könne. Der Cäsarismus mache sich diese Tatsache zunutze.
Mit der Ausweitung des Wahlrechts gehe eine Stärkung der Staatsgewalt einher, die durch die moralische Diskreditierung des Adels kein Gegengewicht mehr habe. Die Zwischeninstanzen zwischen Volk und Staat, in der Regel eine aus Unabhängigen bestehende, aber dem Gemeinwohl verpflichtete Gesellschaftsschicht, sind ausgeschaltet. Als zweite Voraussetzung für die Etablierung des Cäsarismus nennt Jouvenel die Entstehung einer »Klasse von Kapitalisten, die keinerlei moralische Autorität besitzt und durch ihren exzessiven Reichtum vom Rest der Bürger getrennt ist«. Schließlich komme es zur Vereinigung von politischer Kraft und sozialer Schwäche in der ständig wachsenden Masse der Abhängigen, die in ihrer Schwäche immer an die staatliche Omnipotenz appellieren werden. »Auf diese Weise wird das einzige Hindernis beseitigt, das sich cäsaristischer Politik in den Weg stellen könnte: die freiheitlich gesinnte Widerstandsbewegung eines Volkes, das subjektive Rechte zu verteidigen hat, unter der Führung von Notabeln, deren moralischer Kredit sie für diese Rolle prädestiniert, ohne daß schmutziger Reichtum sie unglaubwürdig machte.« Es dürfte klar sein, daß die sich als »Quasi-Aristokratie« (Arnold Gehlen) verstehenden Intellektuellen diesen Anspruch nicht erfüllen.
Es hieße nun, das Kind mit dem Bade auszuschütten, wenn man dieser Argumentation die Ablehnung des Staates folgen ließe. Es gibt zum Staat keine Alternative, die in der Lage wäre, den Menschen im 21. Jahrhundert den Rahmen zu geben, dessen er bedarf, um unter den gegebenen Umständen nicht unter die totale Kontrolle außerstaatlicher Mächte zu kommen. Was es allerdings gibt, sind Alternativen zur gegenwärtigen Verfaßtheit des Staates, die ja nur eine Entsprechung zur gesellschaftlichen Verfaßtheit der Bundesrepublik darstellt. Ein anderer Staat braucht andere Bürger. Bürger, die in der Lage sind, zwischen der Freiheit wovon und der Freiheit wozu zu unterscheiden.
Während erstere nur die »Freiheit des Sklaven am Feiertag« (Gerhard Nebel) darstellt, bedeutet die Freiheit wozu den Anspruch auf Mitgestaltung. Wenn wir den Hinweis von Minogue ernst nehmen, »daß nämlich die über längere Zeiträume stattfindenden moralischen Veränderungen erst im Lichte einer unerwarteten Krise sichtbar werden«, dann ist in der Corona-Krise die demokratische Sklavenmentalität offenbarer geworden als jemals zuvor. Die Verquickung von Staat und Gesellschaft, die zu dieser Moral geführt hat, die nicht nur kein eigenes Urteil mehr fällen will, sondern auch die eigene Existenz nicht mehr wertschätzt, enthält zumindest die theoretische Chance, daß aus ihr Kräfte erwachsen, die diese Einheit in Frage stellen.