Um die Wirklichkeit dessen in Begriffe zu fassen, was derzeit in Deutschland an Wohnquartieren und Bürokomplexen, Fabrikgebäuden und Logistikzentren, Stadtrandsiedlungen und Baulückenbebauung entsteht, hat die (skeptische) Architekturkritik eine Vielzahl von Zuschreibungen verwendet und bemüht. Von sterilen, stereotypen, rasterförmigen, traditionslos entorteten Behausungen ist die Rede, aber auch von den funktionalistischen, industriell genormten, kargen Hervorbringungen einer vereinheitlichend formlosen Investorenarchitektur, die nicht mehr organisch aus der Landschaft wächst und an keine architektonischen Traditionsbestände mehr anschließt. Moniert wird eine Antiästhetik würfel- und quaderförmiger, eintönig uniformer Gebäude mit endlosen Glasfronten und Beton- oder Leichtmetall-Verbundfassaden, deren ingenieursmäßige Beschaffenheit es ermöglicht, sie seriell umzusetzen und hochzuziehen.
Keine andere Zuschreibung aber wird so häufig verwendet und birgt gleichzeitig so erhellendes Potential wie das unspektakuläre Eigenschaftswort glatt. Schon ausgangs der Nullerjahre konstatierte der Schweizer Architekturkritiker Walter Zschokke: »Ein Großteil des heutigen architektonischen Schaffens zeichnet sich durch glatte, harte Oberflächen aus, die sich gegen sinnliche Annäherungen spreizen. […] Die Oberflächen sind glatter, härter und spiegelnder geworden. Glas, Metall und polierter Stein bestimmen außen und innen die neuen Gebäude.« Festzustellen seien die »Verbreitung überglatter Materialien und das Überhandnehmen von Bildern glatter, wesenloser Oberflächen, wie sie nicht zuletzt von der Werbung geliebt werden«.
Im Deutschen Architektenblatt weist Christoph Gunßer auf den Umstand hin, daß gerade das ökologische Bauen zum Impulsgeber der (Ver-)Glättung und zur »Spielwiese der High-Techniker« geworden sei: »Ästhetisch hielt eine kühle Glätte Einzug in die Baugebiete. Rebelliert wurde nun mit billigem Low-Tech-Material wie etwa Polycarbonat-Platten, die eigentlich im Gemüsebau zu Hause sind.« Auch der Naturschutzbund Österreich meldet sich zu Wort und bemängelt (am Beispiel der Bundeshauptstadt Wien) die übermäßige Glätte der neueren Hausfassaden, welche nicht mehr die von nistenden Vögeln geschätzten Luken, Vorsprünge und Erker aufzuweisen hätten: »In Wien brüten etwa 5000 Mauerseglerpaare. Dabei bevorzugen sie ältere Häuser mit stark gegliederter Fassade. Moderne glatte Häuser werden dagegen weitgehend gemieden.«
Über die tieferen Zusammenhänge von Glätte, Macht und Architektur hat Elias Canetti in seiner psychohistorisch-sozialanthropologischen Untersuchung über Masse und Macht ebenso scharfsinnige wie anregende Betrachtungen angestellt. Die gattungsgeschichtliche Urfigur sowohl der Glätte wie der Macht sind Canetti zufolge die tierischen und menschlichen Zähne: »Das auffälligste Instrument der Macht, das der Mensch und auch sehr viele Tiere an sich tragen, sind die Zähne. Die Reihe, in der sie angeordnet sind, ihre leuchtende Glätte, sind mit nichts anderem, was sonst zu einem Körper gehört und an ihm in Aktion gesehen wird, zu vergleichen.« Nichts und niemand sei der kreatürlichen Macht eines Lebewesens vollständiger und unmittelbarer ausgeliefert als ein Mensch, der zwischen die Zähne eines gefährlichen Tieres gerät. »Die Zähne sind die bewaffneten Hüter des Mundes. In diesem Raum ist es wirklich eng […]. Hier ist der letzte aller Schrecken […] und was da hineingerät, ist verloren.« Dem Feind die eigenen Zähne oder dem Freund die erbeuteten Zähne eines tierischen oder menschlichen Feindes (etwa als Kopf- oder Halsschmuck) vorzuzeigen, ist insofern eine unmittelbare Zurschaustellung von Macht.
Dementsprechend sind auch die Verbände und Formationen der Macht bis hin zu den militärischen Truppenteilen den glatten, geordneten Reihen der Zähne nachempfunden, und schon die Soldaten des Kadmos, die einst aus dem Boden sprangen, waren als Drachenzähne gesät. »Glätte und Ordnung, als manifeste Eigenschaften der Zähne, sind in das Wesen der Macht überhaupt eingegangen. Sie sind unzertrennlich von ihr und an jeder Form der Macht das erste, das sich feststellen läßt.« Auch seine Waffen und Werkzeuge modelliert der Mensch nach dem ursprünglichen Vorbild der Zähne, und es dauerte lange (vom Stein über die Bronze bis zum Eisen), »bis er sie so schön zu polieren verstand, daß sie die Glätte von Zähnen hatten«. Im modernen Leben schließlich, so Canetti, habe »der Hang zur Glätte auf allen Gebieten überhandgenommen, in denen man sie früher zu vermeiden suchte. Häuser und Einrichtungen waren meist geschmückt wie der Körper und die Glieder des Menschen. […] Heute hat die Glätte auch die Häuser erobert, ihre Mauern, ihre Wände, die Gegenstände, die man in sie stellt; Zierat und Schmuck sind verachtet und gelten als Zeichen schlechten Geschmacks. Man spricht von Funktion, von Klarheit und Nützlichkeit, aber was in Wirklichkeit triumphiert hat, ist die Glätte und das geheime Prestige der Macht, die ihr innewohnt.«
Indes vollzieht sich der von Canetti beschriebene Progreß der (Ver-)Glättung nicht als bruchlose, universalgeschichtlich gerade Linie, sondern innerhalb des schicksalhaften Zyklus der einzelnen hohen Kulturen, wie Oswald Spengler sie beschreibt. Er setzt ein und kommt in Gang, wenn die großen Kulturen von der territorial und national begrenzten, bürgerschaftlich verfaßten Staatenwelt in das Zeitalter einer Groß- und Weltzivilisation übergehen, deren Band den gesamten jeweils betreffenden Kulturraum umspannt und alle darin lebenden Völker umschlingt. Es sind diese Spätzeiten der großen Kulturen, in denen jene endlosen, gleichförmigen, quadratischen, glattwandigen Häusermeere entstehen, die Herodot in Babylon und die Spanier in Tenochtitlan angestaunt haben.
Am genauesten kennen wir das Phänomen aus der antiken römischen Geschichte: Als die bürgerschaftlich verwaltete, auf den stadtstaatlichen Rahmen begrenzte Republik seit dem 1. Jahrhundert vor Christus beginnt, sich zu einem von Cäsaren regierten Weltreich und zur Weltzivilisation zu wandeln, wenden sich auch die Baumeister von der schmuckvollen, detailverliebten Architektur der frühen und mittleren Epoche ab und einer neuen, als progressiv verstandenen Sachlichkeit und Glätte zu. Der Kulturhistoriker Eckart Knaul notiert dazu: »All diese feinen Handwerksarbeiten und die vielen geschmackvollen Verschönerungen an den Häusern innen und außen wurden mit dem Rückgang der Kultur immer spärlicher und verschwanden schließlich ganz. Die so bunten, abwechslungsreichen Häuserfassaden mit ihren Erkern, Schnörkeln und Verzierungen wurden einförmig, der Hausbau zweckmäßig, die Häuserfronten glatt, nüchtern, uniform. Der Ideenreichtum der Baumeister und Handwerker war versiegt.«
Auch der Beton stellt, wie etwa Volker Mohr hervorhebt, durchaus keine Erfindung des modernen europäischen Industriezeitalters dar; vielmehr war eine einfache Form des Betons (das fugenlose Gußmauerwerk) bereits in der Spätzeit des römischen Geschichte, im Zeitalter der Massen und der Cäsaren, der weithin bevorzugte, kostengünstige Baustoff jener »letzten technischen Periode«. In den zwei Jahrtausenden zwischen dem späten Römertum und uns, in allen dazwischenliegenden Baustilen und Epochen der Architektur, haben es die Baumeister instinktiv vermieden, in Beton zu bauen, weil er ihrem künstlerischen Ausdrucksverlangen und schöpferischen Gestaltungsbedürfnis eklatant widersprach. Erst jetzt, in der Spätzeit der abendländischen Zivilisation, lebt der Beton wieder auf und wird zum ubiquitär verwendeten, prävalenten Universalbaustoff der Zeit.
Warum also präferieren die reifen, entwickelten Groß- und Weltzivilisationen eine Architektur der Gleichförmigkeit, Schmucklosigkeit und Glätte? Die Großzivilisationen lösen sich von den einzelnen Landschaften, ihren geschichtlich überlieferten Traditionen ab, um sich vereinheitlichend über einen ganzen Kultur- und Zivilisationsraum zu legen. Der Mensch der Großzivilisation legt Wert darauf, nicht mehr Angehöriger eines bestimmten Volkes zu sein und in dessen enger geschichtlicher Überlieferung zu stehen. Er ist nicht mehr Bürger eines bestimmten, territorial begrenzten Landes, sondern Mensch an sich (homo abstractus), der sich von der geschichtlichen Überlieferung entkoppelt und sich einzelnen Orten oder Landschaften nicht mehr auf besondere Weise verbunden fühlt; indem er jede lebensweltliche Besonderheit abstreift, zieht er sich auf ein anthropologisches Minimum, auf die basalen Grundlagen des Menschseins, zurück. Dieser Typus Mensch bevorzugt instinktiv eine uniforme, normierte, minimalistisch reduzierte Architektur, die auf einfachste Formgebungen regrediert und an jedem beliebigen Ort reproduzierbar ist.
So sind die späten Zivilisationen Zeiten eines kastenförmigen architektonischen Reduktionismus, der alle Verbindungen zur gewachsenen baulichen Überlieferung kappt und sich auf einheitliche Schemata (den einfachsten gemeinsamen Nenner) herabnivelliert. Eine solche Architektur darf keine regionalen Bezüge herstellen oder historische Anleihen vornehmen, da diese den Verdacht erregen, daß hier jemand historisch tradierten Identitäten oder Landschaften verhaftet geblieben ist, statt ausschließlich als Gattungswesen zu empfinden und allein der Menschheit verpflichtet zu sein. Jeder bauliche Eigensinn legt nun die Vermutung nahe, daß hier jemand an lebensweltlichen Besonderheiten festhalten will und der universellen Idee der Menschheit nicht vollständig loyal und ergeben ist. Auch muß die Architektur der Großzivilisationen zwangsläufig schmucklos sein und auf das Ornament verzichten, denn jede Verzierung, jede ästhetische Raffinesse nährt den Verdacht, daß der hinter diesen Mauern lebende oder tätige Mensch insgeheim höhere Ansprüche hat, die über die primitivsten Bedürfnisse, die basalen Funktionen einer (staatlich bereitgestellten) Unterbringung, Ernährung und Unterhaltung hinausgehen; wer auf baulicher Eleganz besteht, ästhetischen Ideenreichtum an den Tag legt und ein architektonisches Minimum überschreitet, hat das neue Ideal des Menschen an sich (des auf die basalsten Grundbedürfnisse reduzierten homo abstractus) offenbar nicht hinreichend verinnerlicht; er demonstriert auf diese Weise einen Mangel an Menschlichkeit und hegt womöglich jene menschfeindlichen Gesinnungen, die den Zorn der Masse erregen und den Argwohn der Mächtigen wecken.
Doch zurück zu Canetti, der den immanenten Zusammenhang von Glätte und Macht auf ebenso originelle wie luzide Weise erfaßt. In der Tat ist die Glätte das äußere Signum der Macht, und »die Sprache drückt den Sachverhalt am einfachsten aus; man sagt, daß etwas glatt geht oder glatt funktioniert. Man meint damit, daß man einen Vorgang, welcher Art immer, völlig und ungestört in der Gewalt hat.« Die Glätte der Architektur, die sich in den Spätzeiten der großen Kulturen manifestiert, versinnbildlicht zugleich die diesen Epochen eigentümliche Konzentration der Macht und die umfassende Reglementierung menschlichen Lebens durch eine omnipotente staatliche Macht. Die späten Zivilisationen sind nicht mehr Zeiten eines bürgerschaftlich selbstorganisierten Gemeinwesens, sondern einer universalen politischen Massenbewirtschaftung des Menschen, deren unmittelbarer Widerschein die perfektionierte Glätte seiner Behausungen ist.
Fragen der Architektur sind insofern weitaus mehr als nur Fragen des ästhetischen Geschmacks; sie sind stets auch existentielle politische Fragen: Jede Planung, Genehmigung und Errichtung eines gesichtslos glatten Wohn- und Stadtquartiers sind ein weiterer Schritt in eine Welt, in der die Prozeduren der Machtausübung glatt verlaufen, glatt funktionieren – und die Herrschenden imstande sind, reibungs- und umstandslos über politisch entmächtigte einzelne zu verfügen –, in eine Welt von Untertanen, mit denen ein übermächtiger, vormundschaftlich agierender Staatsapparat nach Belieben schaltet und waltet. Jeder eigensinnige Bau dagegen, der gegen die uniforme Antiästhetik der Glätte und ihre schmucklose Formensprache aufbegehrt, jedes sperrige Element und jede Oberflächentiefe sind zugleich eine Demonstration des bürgerlichen Selbstbewußtseins, ein sichtbares Zeichen des Widerstandes gegen die total verwaltete Welt und ein vergegenständlichtes Bekenntnis zur wesenhaften Freiheit des Menschen im Angesicht der Mächte, die nach ihm greifen.