Antinostalgie: Mark Fishers Werk

PDF der Druckfassung aus Sezession 101/ April 2021

Nils Wegner

Nils Wegner ist studierter Historiker, lektorierte 2015–2017 bei Antaios, IfS und Sezession und arbeitet als Übersetzer.

Die pol­ni­sche Spie­le­ent­wick­ler­fir­ma CD Pro­jekt ver­öf­fent­lich­te am 10. Dezem­ber 2020 das seit knapp acht Jah­ren heiß­ersehn­te »Cyber­punk 2077«. Bereits vor dem offi­zi­el­len Erschei­nungs­da­tum hat­te es für das Spiel acht Mil­lio­nen Vor­be­stel­lun­gen gege­ben, davon fast 4,75 Mil­lio­nen für Win­dows-Betriebs­sys­te­me, wodurch es zum schon vor dem Ver­kaufs­start gefrag­tes­ten PC-Spiel jemals wur­de. Was bedeu­tet die­ses enor­me Inter­es­se eines längst nicht nur Jugend­li­che umfas­sen­den Publi­kums an mal mehr, mal weni­ger ver­schro­be­nen Simu­la­tio­nen von ver­gan­gen­heits­durch­wirk­ten Zukunfts­sze­na­ri­en? Las­sen sich aus sol­chen Trends poli­tisch rele­van­te Schlüs­se über unse­re Gesell­schaft ziehen?

Der am 13. Janu­ar 2017 von eige­ner Hand aus dem Leben geschie­de­ne bri­ti­sche Kul­tur­theo­re­ti­ker Mark Fisher hat in sei­ner kur­zen, aber ein­fluß­rei­chen Schaf­fens­pe­ri­ode immens wich­ti­ge Denk­an­stö­ße zu die­sen Fra­gen gelie­fert. Sie sind ins­be­son­de­re bei den Beschwö­rern einer sich zur Abgren­zung teil­wei­se selbst als »unwo­ke« bezeich­nen­den lin­ken »Gegen­kul­tur« – jen­seits von iden­ti­täts­po­li­ti­schen Mul­ti­min­der­hei­ten­mor­bi­di­tä­ten und stra­te­gi­scher Bett­ge­fähr­ten­schaft mit dem tech­no­lo­gi­schen Groß­ka­pi­tal – bis heu­te ein­fluß­reich. Ent­spre­chend muß gleich zu Beginn kon­sta­tiert wer­den, daß wir es hier bei­lei­be nicht mit einem jener markt­taug­li­chen Zeit­kri­ti­ker zu tun haben, die einen leicht reak­tio­nä­ren Hauch auf­le­gen wie ein Duft­was­ser; nicht ohne Grund hat selbst ein Gegen­warts­ver­äch­ter wie Oswald Speng­ler die­sen Men­schen­schlag in sei­ne Schran­ken gewie­sen: »Wer das [die Peri­ode rela­ti­ven Frie­dens und Wohl­stands in der wei­ßen Welt vor 1914; N.W.] erlebt hat oder von ande­ren davon hört, erliegt immer wie­der der Nei­gung, es für nor­mal zu hal­ten, die wüs­te Gegen­wart als Stö­rung die­ses natür­li­chen Zustan­des auf­zu­fas­sen und zu wün­schen, daß es ›end­lich ein­mal wie­der auf­wärts‹ gehe. Nun, das wird nicht der Fall sein. Der­glei­chen wird nie wie­der­kom­men«, heißt es in Jah­re der Ent­schei­dung. Die öko­no­misch-see­li­schen Stö­run­gen, die Fisher sah, woll­te er nicht aus­sit­zen, son­dern über­win­den. Den Anstoß für die­sen Kurs des Mit­ten-Hin­durch setz­te bereits sei­ne frü­he Studentenzeit.

Den im vor­geb­li­chen Schick­sals­jahr 1968 im öst­li­chen Mit­tel­eng­land gebo­re­nen Fisher präg­te neben sei­ner Her­kunft aus einer stark indus­tri­ell gepräg­ten und in der That­cher-Ära ent­spre­chend zuneh­mend ins Tau­meln gera­te­nen Regi­on ein trau­ma­ti­sches Erleb­nis: Als lei­den­schaft­li­cher Fuß­ball­fan (Not­ting­ham Forest) wur­de er Zeu­ge der Hills­bo­rough-Kata­stro­phe, als am 15. April 1989 zu Beginn eines Halb­fi­nal­spiels ein durch poli­zei­li­che Inkom­pe­tenz völ­lig über­füll­ter Zuschau­er­block teil­wei­se ein­stürz­te und 96 Men­schen qual­voll zer­quetscht wur­den – ein Unglück, das durch behörd­li­che Ver­tu­schung erst 17 Jah­re spä­ter gericht­lich auf­ge­ar­bei­tet wer­den konn­te und so schwe­res Miß­trau­en gegen­über »denen da oben« und eta­blier­ten Nar­ra­ti­ven anregte.

Im Schlepp­tau sei­ner Dis­ser­ta­ti­ons­be­treue­rin Sadie Plant kam ­Fisher an die Uni­ver­si­tät War­wick, wo er die »Cyber­ne­tic Cul­tu­re Rese­arch Unit« (CCRU), das Keim­blatt des Akze­le­ra­tio­nis­mus (sie­he Sezes­si­on 98), mit­grün­de­te und 1999 über psy­cho­lo­gisch-phi­lo­so­phi­sche Ver­bin­dungs­li­ni­en zwi­schen Schau­er­li­te­ra­tur (Gothic fic­tion) und heu­ti­ger Hoch­tech­no­lo­gie pro­mo­viert wur­de. In der Fol­ge unter­rich­te­te er eini­ge Jah­re Phi­lo­so­phie an einer Volks­hoch­schu­le, ehe er sich ab 2003 mit der Schaf­fung sei­nes mit der Zeit extrem ein­fluß­rei­chen Kul­tur­blogs »k‑punk« – nach sei­nem eige­nen Spitz­na­men aus CCRU-Tagen; das »k« steht dabei für »kyber­ne­tic« – der frei­en theo­re­ti­schen Publi­zis­tik zuwand­te und zeit­gleich in diver­sen bri­ti­schen wie inter­na­tio­na­len Musik‑, Kul­tur- und Tech­nik­zeit­schrif­ten veröffentlichte.

2007 grün­de­te Fisher zusam­men mit dem Schrift­stel­ler Tariq God­dard den absicht­lich klei­nen und radi­ka­len Ver­lag Zero Books, nur um sich nach einer Restruk­tu­rie­rung des Mut­ter­un­ter­neh­mens mit die­sem zu über­wer­fen, 2014 mit der gesam­ten Mann­schaft aus­zu­stei­gen und den Ver­lag Repea­ter Books aus der Tau­fe zu heben. Zuvor jedoch soll­te Zero Books mit einem Pau­ken­schlag auf der publi­zis­ti­schen Büh­ne Groß­bri­tan­ni­ens und der eng­lisch­spra­chi­gen Welt erschei­nen, um die lin­ke Kul­tur­theo­rie der 2010er Jah­re ent­schei­dend zu prägen:

Denn qua­si aus dem Nichts erschien 2009 Fishers Debüt­werk Capi­ta­list Rea­lism. Is The­re No Alter­na­ti­ve? und wur­de zu einem Über­ra­schungs­er­folg. Die Streit­schrift von gera­de ein­mal 80 Sei­ten Text erwies sich als sub­ku­ta­ner Spreng­stoff in einer lethar­gi­schen Lin­ken, die sich mit den Ver­hält­nis­sen arran­giert hat­te. Die­se Ver­hält­nis­se waren (und sind) jene des Neo­li­be­ra­lis­mus, der in der west­li­chen Welt der 1980er sei­nen untrenn­bar mit den Namen Ronald Rea­gans und Mar­ga­ret That­chers ver­bun­de­nen Sie­ges­zug der wirt­schaft­li­chen Dere­gu­lie­rung und sozia­len Ent-Siche­rung ange­tre­ten hat­te. Mit sei­ner Kri­tik stell­te sich Fisher ganz offen in die Tra­di­ti­on neo­mar­xis­ti­scher Theo­rien über das ange­bro­che­ne post­mo­der­nis­ti­sche (im Sin­ne von: »post­in­dus­tri­el­le«) Zeit­al­ter, wie sie unter dem Ein­druck von Rea­gano­mics beson­ders pro­mi­nent der US-Lite­ra­tur­theo­re­ti­ker Fred­ric Jame­son vor­ge­bracht hat­te. Dabei sei sein eige­nes Kon­zept kein alter Wein im neu­en Schlauch: Kapi­ta­lis­ti­scher Rea­lis­mus sei, so Fisher, »sozu­sa­gen das, was dabei her­aus­kommt, wenn Post­mo­der­nis­mus sich ein­bür­gert«. Die­se Ein­bür­ge­rung habe spä­tes­tens 1989 begon­nen und gera­de­wegs in die Welt­wirt­schafts­kri­se 2007 ff. geführt: Mit dem Weg­bre­chen der ein­zi­gen offen­sicht­li­chen Alter­na­ti­ve zum Kapi­ta­lis­mus habe die­ser glo­bal alle Struk­tu­ren und Insti­tu­tio­nen durch­drun­gen und sich so all­ge­gen­wär­tig eta­bliert, daß ihm sogar das Den­ken selbst nicht mehr wider­ste­hen kön­ne, krea­ti­ver Aus­druck eben­so wie Sozi­al­le­ben von Grund auf »den von der kapi­ta­lis­ti­schen Kul­tur vor­ge­ge­be­nen Begehr­lich­kei­ten, Ansprü­chen und Hoff­nun­gen« unter­wor­fen seien.

Einem sowohl Jame­son wie auch dem slo­we­ni­schen Kate­go­rien­spren­ger Sla­voj Žižek (sie­he Sezes­si­on 70) zuge­schrie­be­nen Bon­mot zufol­ge ist heut­zu­ta­ge das Ende der Welt ein­fa­cher vor­stell­bar als das Ende des Kapi­ta­lis­mus. Fisher, nega­tiv beein­druckt von der depri­mier­ten Erge­ben­heit sei­ner Schü­ler in ihr schein­ba­res Schick­sal, stimmt zu: »Die­ser Spruch erfaßt prä­zi­se, was ich mit ›Kapi­ta­lis­ti­scher Rea­lis­mus‹ mei­ne: das ver­brei­te­te Gefühl, wonach nicht nur der Kapi­ta­lis­mus das ein­zi­ge funk­ti­ons­fä­hi­ge poli­ti­sche und öko­no­mi­sche Sys­tem sei, son­dern es mitt­ler­wei­le auch unmög­lich sei, sich eine schlüs­si­ge Alter­na­ti­ve zu ihm auch nur vor­zu­stel­len.« Wo die sozia­le Rea­li­tät ledig­lich aus Arbeit und Kon­sum besteht, fin­det eine Zukunfts­aus­sicht kei­nen Halt mehr – nicht nur eine ande­re Zukunft, son­dern eine Zukunft schlecht­hin wer­de der Ima­gi­na­ti­on ent­rückt. (Auf der ande­ren Sei­te stell­te er sich sowohl Žižek als auch Jame­son mit ihrer Ver­ach­tung zeit­ge­nös­si­scher Mas­sen­kul­tur ent­ge­gen, denn die­se die­ne nicht allein zur Betäu­bung der Ent­frem­de­ten, son­dern ber­ge – rich­tig gehand­habt – auch erheb­li­ches eman­zi­pa­to­ri­sches Potential.)

Es ist dies ein Pam­phlet, das gera­de in der COVID-19-Ära gar nicht vehe­ment genug zur Erst- und Wie­der­lek­tü­re emp­foh­len wer­den kann, ver­klam­mert doch die heu­ti­ge mas­kier­te Zeit mit der »west­li­chen Welt« der Finanz­kri­sen­zeit 2008 / 09 vor allem eines: das emsi­ge Funk­tio­nie­ren der Mehr­heits­ge­sell­schaft, die – dank­bar genug, noch ein­mal davon­ge­kom­men zu sein – wei­ter­hin und teils zu noch erbärm­li­che­ren Bedin­gun­gen als zuvor ihren Beschäf­ti­gun­gen nach­geht. Wer da noch immer auf einen irgend­wann von allein erreich­ten Tip­ping point war­tet, der ist in eine wei­te­re Fal­le des system­erhaltenden Den­kens getappt, das Fishers Aus­le­gung zufol­ge den gesam­ten Kul­tur­ap­pa­rat durch­seucht und instru­men­ta­li­siert hat. Mit der (Selbst-)Erziehung des ein­zel­nen zur »Pri­va­ti­sie­rung« aller Pro­ble­me, auch und ins­be­son­de­re des enor­men Streß­le­vels einer pre­kä­ren Beschäf­ti­gung, gin­gen die Affir­ma­ti­on des – deso­la­ten – Bestehen­den ein­her und die Suche nach der eige­nen Schuld an allen Pro­ble­men, bis hin zu Min­der­wer­tig­keits­kom­ple­xen und Depres­sio­nen. Der Kapi­ta­lis­ti­sche Rea­lis­mus der Alter­na­tiv­lo­sig­keit wer­fe das Indi­vi­du­um somit stets auf sei­ne eige­nen Defi­zi­te gegen­über uner­müd­li­chen kyber­ne­ti­schen Arbeits­ma­schi­nen zurück und zwin­ge die fort­dau­ernd Unge­nü­gen­den förm­lich in die Selbst­be­täu­bung mit­tels Medien‑, Medi­ka­men­ten- und sons­ti­gen Kon­sums hin­ein, was zyni­scher­wei­se wie­der­um neue Absatz- und damit Arbeits­fel­der eröff­ne. Wer aber einem fes­ten Ein­kom­men hin­ter­her­he­cheln müs­se, um nicht aus sei­ner Woh­nung gewor­fen zu wer­den, der habe nicht die Frei­heit für Expe­ri­men­te, son­dern müs­se immer wie­der den glei­chen abge­stan­de­nen Sud neu auf­ko­chen – die wirt­schaft­li­che Sta­bi­li­tät als Wür­ge­ei­sen der Kultur.

2014 erschien erst­mals die Text­samm­lung Ghosts of My Life. Der Titel, ent­lehnt einem Lied der einst legen­dä­ren und heu­te ver­ges­se­nen bri­ti­schen Post-Punk-Band Japan von 1981, kom­mu­ni­ziert in einer ein­zi­gen Phra­se den Kern des zwei­ten gro­ßen Bei­trags Fishers zur Kul­tur­theo­rie neben dem Kapi­ta­lis­ti­schen Rea­lis­mus: Sei­ne Haun­to­lo­gie, abge­lei­tet von einer Begriffs­ver­schmel­zung aus to haunt (»heim­su­chen, spu­ken«) und »Onto­lo­gie« in Jac­ques Der­ri­das Marx’ Gespens­ter, beschreibt eine durch die gegen­wär­ti­gen Umstän­de ver­un­mög­lich­te und nie gesche­he­ne Zukunft, die als trau­ri­ger Geist ins Jetzt hin­ein­spukt. Der fein­sin­ni­ge Fisher ver­nahm ihr Rau­nen in den Klän­gen Joy Divi­si­ons, obsku­ren Unter­grund-Elek­tro­pro­jek­ten, der Arbeit des Regis­seurs Chris­to­pher Nolan und fil­mi­schen Medi­ta­tio­nen über die men­schen­lee­re eng­li­sche Küstenlandschaft.

Im 2017 kurz nach Fishers Sui­zid erschie­ne­nen Lang­es­say The Weird and the Eerie wie­der­um wid­met der Autor sich einer schein­bar ganz ent­le­ge­nen, bei nähe­rem Hin­se­hen aber um so inti­me­ren Stu­die eines wesent­li­chen Aspekts der Con­di­tio huma­na: der Urfas­zi­na­ti­on des Selt­sa­men, der »Außen­sei­te« (the Out­side) jen­seits gewöhn­li­cher Wahr­neh­mung und Erfah­rung. Der Autor geht dabei unter ande­rem auch von Sig­mund Freuds bekann­tem Auf­satz Das Unheim­li­che von 1919 aus, in dem »unheim­lich« von sei­nen Gegen­sät­zen »heim­lich / hei­me­lig« her als eine Ver­drän­gung oder Ent­stel­lung des Bekann­ten defi­niert wird – Ver­trau­tes kann selt­sam wir­ken, Selt­sa­mes ver­traut. Die Mög­lich­keit eines gänz­lich Unver­trau­ten wird dabei jedoch gar nicht erst ange­schnit­ten, was Kri­ti­ker zu der spit­zen Bemer­kung ver­an­laßt hat, daß dem­nach die Psy­cho­ana­ly­se selbst »unheim­li­che« Lite­ra­tur her­vor­brin­ge, weil sie sich um die Beschrei­bung äuße­rer Phä­no­me­ne bemü­he, die­se Außen­sei­te aber gleich­zei­tig nicht aner­ken­nen kön­ne, ohne ihre Defi­ni­ti­ons­macht einzubüßen.

In die glei­che Rich­tung zielt die Kri­tik, wonach Freuds Essay, des­sen Auf­hän­ger die Erzäh­lung Der Sand­mann von E.T. A. Hoff­mann ist, selbst wie eine (Meta-)Erzählung kon­stru­iert sei, mit Freud als unzu­ver­läs­si­gem Erzäh­ler. Fisher sei­ner­seits geht es mit sei­ner Erör­te­rung des »Selt­sa­men« und des »Gespens­ti­schen« statt des­sen um eine neu­er­li­che Ein­be­zie­hung der durch die Säku­la­ri­sie­rung als Betrach­tungs­ge­gen­stand unpo­pu­lär gewor­de­nen »Außen­sei­te«, wes­halb er auch Freuds letzt­li­chen Lösungs­vor­schlag ver­wirft, wonach sich ein »unheim­li­ches« Emp­fin­den auf Kas­tra­ti­ons­angst redu­zie­ren ließe.

Weird und eerie funk­tio­nier­ten in Gegen­rich­tung zu unheim­lich (da Fisher das eng­li­sche Wort uncan­ny als Fehl­über­set­zung ansah, ver­wen­de­te er im Werk durch­gän­gig das deut­sche Adjek­tiv) und erlaub­ten es so, einen Blick auf die Innen­sei­te – also unse­re all­täg­li­che Rea­li­tät – durch die Augen der Außen­sei­te zu wer­fen. Das Selt­sa­me (the Weird) ist dem­nach »das, was nicht dazu­ge­hört«, das ganz Frem­de, das unver­mit­telt in einer Umge­bung erscheint, in die es nicht ein­mal als deren Gegen­teil einpaß­bar ist. Wäh­rend das Selt­sa­me also den Zusam­men­hang in Fra­ge stellt, scheint das Gespens­ti­sche (the Eerie) Hand­lungs­fä­hig­keit und Absicht zu unter­mi­nie­ren: Es steckt Fisher zufol­ge in den Fra­gen »War­um ist hier etwas, obwohl hier nichts sein soll­te?« und »War­um ist hier nichts, obwohl hier etwas sein soll­te?«, Fra­gen, die sich nicht nur auf die Psy­cho­ana­ly­se erstre­cken – wenn wir nicht sind, wer wir zu sein glau­ben, wer sind wir dann in Wahr­heit? –, son­dern auch auf die kapi­ta­lis­ti­sche Gesell­schaft. Denn Kapi­tal akku­mu­liert sich selbst, die Ver­wer­tung des Werts voll­zieht sich auch ohne dezi­dier­tes prak­ti­sches Zutun, und hat doch so viel mehr Ein­fluß auf alle Lebens­be­rei­che als jede mate­ri­el­le Grö­ße. Den spe­zi­fi­schen Reiz, den bei­de Unge­wöhn­lich­kei­ten haben kön­nen, führt Fisher auf die immer­hin mög­li­chen posi­ti­ven Kon­se­quen­zen des Ein­bruchs der Out­side in die gewohn­ten Sinn­zu­sam­men­hän­ge zurück: Das fremd­ar­ti­ge Selt­sa­me kön­ne auch das genu­in Neue sein, des­sen Auf­tre­ten den Beginn der Ablö­sung einer über­hol­ten und lebens­un­fä­hig gewor­de­nen Ära mit ihren Nar­ra­ti­ven mar­kie­re. Und die Spu­ren des Gespens­ti­schen deu­te­ten stets auf etwas hin, das uns beein­flußt, wenn­gleich wir es (noch) nicht erken­nen oder benen­nen kön­nen – eine Aus­sicht, die durch­aus Trost zu spen­den ver­mag, wenn die pro­fa­ne Rea­li­tät als bedrü­ckend emp­fun­den wird, was Fisher selbst ja nur all­zu ver­traut war. Unter Rück­griff auf diver­se Schrift­stel­ler und visu­el­le Künst­ler mit »unheim­li­chen« Ten­den­zen, von Love­craft und Wells über Fass­bin­der und Lynch bis hin zu Nolan, Kubrick und Tar­kow­ski, geht Fisher den ver­bin­den­den Lini­en des in die oder aus der Welt Gefal­le­nen nach und schließt – im Zusam­men­hang mit Joan Lind­says Pick­nick am Valen­tins­tag – mit der hin­ter­sin­ni­gen Fest­stel­lung, daß eine »gespens­ti­sche Ruhe« (eerie calm) als Anzei­chen des ein­drin­gen­den Äuße­ren sich dort ein­stel­le, »wo immer ver­trau­te Lei­den­schaf­ten über­wun­den wer­den kön­nen«. Bei­spiels­wei­se die der all­ge­gen­wär­ti­gen Kon­sum­men­ta­li­tät im Spätkapitalismus?

Erst unlängst, im Janu­ar 2021, erschie­nen die letz­ten Vor­le­sun­gen, gehal­ten am zur Lon­do­ner Uni­ver­si­tät gehö­ren­den Golds­mit­hs Col­lege, von Ende 2016, also kurz vor Fishers Sui­zid. Zusam­men­ge­stellt, her­aus­ge­ge­ben und kom­men­tiert von Fishers rüh­rigs­tem Schü­ler, Matt Col­quhoun (der sei­ne eige­ne publi­zis­ti­sche Arbeit als Ver­such der Trau­ma­be­wäl­ti­gung nach dem Sui­zid des Kul­tur­theo­re­ti­kers auf­nahm), ver­sam­melt vie­le inti­me und über­ra­schend wit­zi­ge Betrach­tun­gen Fishers zur Zeit und ihren Abson­der­lich­kei­ten – ein­schließ­lich bemer­kens­wer­ter Ein­ge­ständ­nis­se (»Herr­je, eigent­lich habe ich über­haupt kei­ne Ahnung von Wirt­schaft … (lacht)«) des Pro­to­kol­lier­ten und eines sehr lehr­rei­chen Vor­worts des Herausgebers.

Was also bleibt vier Jah­re nach sei­nem Sui­zid von Fishers Den­ken? Sei­ne wesent­li­chen Schrif­ten sind schon über­setzt, aller­dings in mäßi­ger Qua­li­tät, wes­halb hier aus­schließ­lich die eng­lisch­spra­chi­gen Ori­gi­na­le kon­sul­tiert wur­den (eine beson­de­re Frech­heit ist die frei­mü­tig zusam­men­ge­kürz­te deut­sche »Lizenz­aus­ga­be« der Arti­kel­samm­lung k‑punk, in der eini­ge der wich­tigs­ten Tex­te feh­len). Das Kon­zept der Haun­to­lo­gie, unterm Strich der Grund­stein sei­nes Denk­ge­bäu­des, fin­det sich jeden­falls heu­te mehr denn je in der Welt des Kom­mer­zes: Vir­tu­el­le Welt­flucht-Sze­na­ri­en wie jenes im Com­pu­ter­spiel »Cyber­punk 2077« klei­den die tris­te Gegen­wart oder eine idea­li­sier­te Ver­gan­gen­heit in ein futu­ris­ti­sches Gewand, blei­ben unterm Strich jedoch in den schein­bar alter­na­tiv­lo­sen Denk- und Hand­lungs­mus­tern ihrer eige­nen Ent­ste­hungs­um­ge­bung gefan­gen. Ob Mode, Film oder Musik, man fled­dert mit »Remi­xes«, »Revi­vals« und »Remakes« ganz offen sti­lis­ti­sche Lei­chen, die oft qua­si noch warm sind. Die Popu­lär­kul­tur ist eine des Autokannibalismus.

Fishers Out­side war und ist der Gegen­ent­wurf zu einem als uner­träg­lich emp­fun­de­nen Sta­tus quo, die Per­spek­ti­ve des bewußt ganz Ande­ren, das sich nicht um jeden Preis in eine nebu­lö­se Mit­te zu drän­gen ver­sucht. Das mag im bes­ten Sin­ne radi­kal hei­ßen, als Radi­ka­lis­mus der Hoff­nung, nicht einer klein­mü­tig-zwang­haf­ten Dau­er­be­trach­tung der Wun­den des »beschä­dig­ten Lebens«, wel­cher Fisher Ador­no gezie­hen hat. So läßt sich die anschluß­fä­hi­ge Quint­essenz der inten­si­ven Arbeit Fishers viel­leicht in der bewußt anti­nost­al­gi­schen Absa­ge an eine Reli­quie der alten BRD wie Hel­mut Schmidt for­mu­lie­ren: Wer Visio­nen hat, muß nicht zwangs­läu­fig zum Arzt gehen, son­dern könn­te sich auch gera­de durch sie einen chro­ni­schen Ver­lauf erspa­ren. Der längst zu einem Inter­net­me­me gewor­de­ne »Sad­Bo­i­Mark« hät­te dar­über gewiß sach­te geschmunzelt.

 

Nils Wegner

Nils Wegner ist studierter Historiker, lektorierte 2015–2017 bei Antaios, IfS und Sezession und arbeitet als Übersetzer.

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