Die polnische Spieleentwicklerfirma CD Projekt veröffentlichte am 10. Dezember 2020 das seit knapp acht Jahren heißersehnte »Cyberpunk 2077«. Bereits vor dem offiziellen Erscheinungsdatum hatte es für das Spiel acht Millionen Vorbestellungen gegeben, davon fast 4,75 Millionen für Windows-Betriebssysteme, wodurch es zum schon vor dem Verkaufsstart gefragtesten PC-Spiel jemals wurde. Was bedeutet dieses enorme Interesse eines längst nicht nur Jugendliche umfassenden Publikums an mal mehr, mal weniger verschrobenen Simulationen von vergangenheitsdurchwirkten Zukunftsszenarien? Lassen sich aus solchen Trends politisch relevante Schlüsse über unsere Gesellschaft ziehen?
Der am 13. Januar 2017 von eigener Hand aus dem Leben geschiedene britische Kulturtheoretiker Mark Fisher hat in seiner kurzen, aber einflußreichen Schaffensperiode immens wichtige Denkanstöße zu diesen Fragen geliefert. Sie sind insbesondere bei den Beschwörern einer sich zur Abgrenzung teilweise selbst als »unwoke« bezeichnenden linken »Gegenkultur« – jenseits von identitätspolitischen Multiminderheitenmorbiditäten und strategischer Bettgefährtenschaft mit dem technologischen Großkapital – bis heute einflußreich. Entsprechend muß gleich zu Beginn konstatiert werden, daß wir es hier beileibe nicht mit einem jener markttauglichen Zeitkritiker zu tun haben, die einen leicht reaktionären Hauch auflegen wie ein Duftwasser; nicht ohne Grund hat selbst ein Gegenwartsverächter wie Oswald Spengler diesen Menschenschlag in seine Schranken gewiesen: »Wer das [die Periode relativen Friedens und Wohlstands in der weißen Welt vor 1914; N.W.] erlebt hat oder von anderen davon hört, erliegt immer wieder der Neigung, es für normal zu halten, die wüste Gegenwart als Störung dieses natürlichen Zustandes aufzufassen und zu wünschen, daß es ›endlich einmal wieder aufwärts‹ gehe. Nun, das wird nicht der Fall sein. Dergleichen wird nie wiederkommen«, heißt es in Jahre der Entscheidung. Die ökonomisch-seelischen Störungen, die Fisher sah, wollte er nicht aussitzen, sondern überwinden. Den Anstoß für diesen Kurs des Mitten-Hindurch setzte bereits seine frühe Studentenzeit.
Den im vorgeblichen Schicksalsjahr 1968 im östlichen Mittelengland geborenen Fisher prägte neben seiner Herkunft aus einer stark industriell geprägten und in der Thatcher-Ära entsprechend zunehmend ins Taumeln geratenen Region ein traumatisches Erlebnis: Als leidenschaftlicher Fußballfan (Nottingham Forest) wurde er Zeuge der Hillsborough-Katastrophe, als am 15. April 1989 zu Beginn eines Halbfinalspiels ein durch polizeiliche Inkompetenz völlig überfüllter Zuschauerblock teilweise einstürzte und 96 Menschen qualvoll zerquetscht wurden – ein Unglück, das durch behördliche Vertuschung erst 17 Jahre später gerichtlich aufgearbeitet werden konnte und so schweres Mißtrauen gegenüber »denen da oben« und etablierten Narrativen anregte.
Im Schlepptau seiner Dissertationsbetreuerin Sadie Plant kam Fisher an die Universität Warwick, wo er die »Cybernetic Culture Research Unit« (CCRU), das Keimblatt des Akzelerationismus (siehe Sezession 98), mitgründete und 1999 über psychologisch-philosophische Verbindungslinien zwischen Schauerliteratur (Gothic fiction) und heutiger Hochtechnologie promoviert wurde. In der Folge unterrichtete er einige Jahre Philosophie an einer Volkshochschule, ehe er sich ab 2003 mit der Schaffung seines mit der Zeit extrem einflußreichen Kulturblogs »k‑punk« – nach seinem eigenen Spitznamen aus CCRU-Tagen; das »k« steht dabei für »kybernetic« – der freien theoretischen Publizistik zuwandte und zeitgleich in diversen britischen wie internationalen Musik‑, Kultur- und Technikzeitschriften veröffentlichte.
2007 gründete Fisher zusammen mit dem Schriftsteller Tariq Goddard den absichtlich kleinen und radikalen Verlag Zero Books, nur um sich nach einer Restrukturierung des Mutterunternehmens mit diesem zu überwerfen, 2014 mit der gesamten Mannschaft auszusteigen und den Verlag Repeater Books aus der Taufe zu heben. Zuvor jedoch sollte Zero Books mit einem Paukenschlag auf der publizistischen Bühne Großbritanniens und der englischsprachigen Welt erscheinen, um die linke Kulturtheorie der 2010er Jahre entscheidend zu prägen:
Denn quasi aus dem Nichts erschien 2009 Fishers Debütwerk Capitalist Realism. Is There No Alternative? und wurde zu einem Überraschungserfolg. Die Streitschrift von gerade einmal 80 Seiten Text erwies sich als subkutaner Sprengstoff in einer lethargischen Linken, die sich mit den Verhältnissen arrangiert hatte. Diese Verhältnisse waren (und sind) jene des Neoliberalismus, der in der westlichen Welt der 1980er seinen untrennbar mit den Namen Ronald Reagans und Margaret Thatchers verbundenen Siegeszug der wirtschaftlichen Deregulierung und sozialen Ent-Sicherung angetreten hatte. Mit seiner Kritik stellte sich Fisher ganz offen in die Tradition neomarxistischer Theorien über das angebrochene postmodernistische (im Sinne von: »postindustrielle«) Zeitalter, wie sie unter dem Eindruck von Reaganomics besonders prominent der US-Literaturtheoretiker Fredric Jameson vorgebracht hatte. Dabei sei sein eigenes Konzept kein alter Wein im neuen Schlauch: Kapitalistischer Realismus sei, so Fisher, »sozusagen das, was dabei herauskommt, wenn Postmodernismus sich einbürgert«. Diese Einbürgerung habe spätestens 1989 begonnen und geradewegs in die Weltwirtschaftskrise 2007 ff. geführt: Mit dem Wegbrechen der einzigen offensichtlichen Alternative zum Kapitalismus habe dieser global alle Strukturen und Institutionen durchdrungen und sich so allgegenwärtig etabliert, daß ihm sogar das Denken selbst nicht mehr widerstehen könne, kreativer Ausdruck ebenso wie Sozialleben von Grund auf »den von der kapitalistischen Kultur vorgegebenen Begehrlichkeiten, Ansprüchen und Hoffnungen« unterworfen seien.
Einem sowohl Jameson wie auch dem slowenischen Kategoriensprenger Slavoj Žižek (siehe Sezession 70) zugeschriebenen Bonmot zufolge ist heutzutage das Ende der Welt einfacher vorstellbar als das Ende des Kapitalismus. Fisher, negativ beeindruckt von der deprimierten Ergebenheit seiner Schüler in ihr scheinbares Schicksal, stimmt zu: »Dieser Spruch erfaßt präzise, was ich mit ›Kapitalistischer Realismus‹ meine: das verbreitete Gefühl, wonach nicht nur der Kapitalismus das einzige funktionsfähige politische und ökonomische System sei, sondern es mittlerweile auch unmöglich sei, sich eine schlüssige Alternative zu ihm auch nur vorzustellen.« Wo die soziale Realität lediglich aus Arbeit und Konsum besteht, findet eine Zukunftsaussicht keinen Halt mehr – nicht nur eine andere Zukunft, sondern eine Zukunft schlechthin werde der Imagination entrückt. (Auf der anderen Seite stellte er sich sowohl Žižek als auch Jameson mit ihrer Verachtung zeitgenössischer Massenkultur entgegen, denn diese diene nicht allein zur Betäubung der Entfremdeten, sondern berge – richtig gehandhabt – auch erhebliches emanzipatorisches Potential.)
Es ist dies ein Pamphlet, das gerade in der COVID-19-Ära gar nicht vehement genug zur Erst- und Wiederlektüre empfohlen werden kann, verklammert doch die heutige maskierte Zeit mit der »westlichen Welt« der Finanzkrisenzeit 2008 / 09 vor allem eines: das emsige Funktionieren der Mehrheitsgesellschaft, die – dankbar genug, noch einmal davongekommen zu sein – weiterhin und teils zu noch erbärmlicheren Bedingungen als zuvor ihren Beschäftigungen nachgeht. Wer da noch immer auf einen irgendwann von allein erreichten Tipping point wartet, der ist in eine weitere Falle des systemerhaltenden Denkens getappt, das Fishers Auslegung zufolge den gesamten Kulturapparat durchseucht und instrumentalisiert hat. Mit der (Selbst-)Erziehung des einzelnen zur »Privatisierung« aller Probleme, auch und insbesondere des enormen Streßlevels einer prekären Beschäftigung, gingen die Affirmation des – desolaten – Bestehenden einher und die Suche nach der eigenen Schuld an allen Problemen, bis hin zu Minderwertigkeitskomplexen und Depressionen. Der Kapitalistische Realismus der Alternativlosigkeit werfe das Individuum somit stets auf seine eigenen Defizite gegenüber unermüdlichen kybernetischen Arbeitsmaschinen zurück und zwinge die fortdauernd Ungenügenden förmlich in die Selbstbetäubung mittels Medien‑, Medikamenten- und sonstigen Konsums hinein, was zynischerweise wiederum neue Absatz- und damit Arbeitsfelder eröffne. Wer aber einem festen Einkommen hinterherhecheln müsse, um nicht aus seiner Wohnung geworfen zu werden, der habe nicht die Freiheit für Experimente, sondern müsse immer wieder den gleichen abgestandenen Sud neu aufkochen – die wirtschaftliche Stabilität als Würgeeisen der Kultur.
2014 erschien erstmals die Textsammlung Ghosts of My Life. Der Titel, entlehnt einem Lied der einst legendären und heute vergessenen britischen Post-Punk-Band Japan von 1981, kommuniziert in einer einzigen Phrase den Kern des zweiten großen Beitrags Fishers zur Kulturtheorie neben dem Kapitalistischen Realismus: Seine Hauntologie, abgeleitet von einer Begriffsverschmelzung aus to haunt (»heimsuchen, spuken«) und »Ontologie« in Jacques Derridas Marx’ Gespenster, beschreibt eine durch die gegenwärtigen Umstände verunmöglichte und nie geschehene Zukunft, die als trauriger Geist ins Jetzt hineinspukt. Der feinsinnige Fisher vernahm ihr Raunen in den Klängen Joy Divisions, obskuren Untergrund-Elektroprojekten, der Arbeit des Regisseurs Christopher Nolan und filmischen Meditationen über die menschenleere englische Küstenlandschaft.
Im 2017 kurz nach Fishers Suizid erschienenen Langessay The Weird and the Eerie wiederum widmet der Autor sich einer scheinbar ganz entlegenen, bei näherem Hinsehen aber um so intimeren Studie eines wesentlichen Aspekts der Conditio humana: der Urfaszination des Seltsamen, der »Außenseite« (the Outside) jenseits gewöhnlicher Wahrnehmung und Erfahrung. Der Autor geht dabei unter anderem auch von Sigmund Freuds bekanntem Aufsatz Das Unheimliche von 1919 aus, in dem »unheimlich« von seinen Gegensätzen »heimlich / heimelig« her als eine Verdrängung oder Entstellung des Bekannten definiert wird – Vertrautes kann seltsam wirken, Seltsames vertraut. Die Möglichkeit eines gänzlich Unvertrauten wird dabei jedoch gar nicht erst angeschnitten, was Kritiker zu der spitzen Bemerkung veranlaßt hat, daß demnach die Psychoanalyse selbst »unheimliche« Literatur hervorbringe, weil sie sich um die Beschreibung äußerer Phänomene bemühe, diese Außenseite aber gleichzeitig nicht anerkennen könne, ohne ihre Definitionsmacht einzubüßen.
In die gleiche Richtung zielt die Kritik, wonach Freuds Essay, dessen Aufhänger die Erzählung Der Sandmann von E.T. A. Hoffmann ist, selbst wie eine (Meta-)Erzählung konstruiert sei, mit Freud als unzuverlässigem Erzähler. Fisher seinerseits geht es mit seiner Erörterung des »Seltsamen« und des »Gespenstischen« statt dessen um eine neuerliche Einbeziehung der durch die Säkularisierung als Betrachtungsgegenstand unpopulär gewordenen »Außenseite«, weshalb er auch Freuds letztlichen Lösungsvorschlag verwirft, wonach sich ein »unheimliches« Empfinden auf Kastrationsangst reduzieren ließe.
Weird und eerie funktionierten in Gegenrichtung zu unheimlich (da Fisher das englische Wort uncanny als Fehlübersetzung ansah, verwendete er im Werk durchgängig das deutsche Adjektiv) und erlaubten es so, einen Blick auf die Innenseite – also unsere alltägliche Realität – durch die Augen der Außenseite zu werfen. Das Seltsame (the Weird) ist demnach »das, was nicht dazugehört«, das ganz Fremde, das unvermittelt in einer Umgebung erscheint, in die es nicht einmal als deren Gegenteil einpaßbar ist. Während das Seltsame also den Zusammenhang in Frage stellt, scheint das Gespenstische (the Eerie) Handlungsfähigkeit und Absicht zu unterminieren: Es steckt Fisher zufolge in den Fragen »Warum ist hier etwas, obwohl hier nichts sein sollte?« und »Warum ist hier nichts, obwohl hier etwas sein sollte?«, Fragen, die sich nicht nur auf die Psychoanalyse erstrecken – wenn wir nicht sind, wer wir zu sein glauben, wer sind wir dann in Wahrheit? –, sondern auch auf die kapitalistische Gesellschaft. Denn Kapital akkumuliert sich selbst, die Verwertung des Werts vollzieht sich auch ohne dezidiertes praktisches Zutun, und hat doch so viel mehr Einfluß auf alle Lebensbereiche als jede materielle Größe. Den spezifischen Reiz, den beide Ungewöhnlichkeiten haben können, führt Fisher auf die immerhin möglichen positiven Konsequenzen des Einbruchs der Outside in die gewohnten Sinnzusammenhänge zurück: Das fremdartige Seltsame könne auch das genuin Neue sein, dessen Auftreten den Beginn der Ablösung einer überholten und lebensunfähig gewordenen Ära mit ihren Narrativen markiere. Und die Spuren des Gespenstischen deuteten stets auf etwas hin, das uns beeinflußt, wenngleich wir es (noch) nicht erkennen oder benennen können – eine Aussicht, die durchaus Trost zu spenden vermag, wenn die profane Realität als bedrückend empfunden wird, was Fisher selbst ja nur allzu vertraut war. Unter Rückgriff auf diverse Schriftsteller und visuelle Künstler mit »unheimlichen« Tendenzen, von Lovecraft und Wells über Fassbinder und Lynch bis hin zu Nolan, Kubrick und Tarkowski, geht Fisher den verbindenden Linien des in die oder aus der Welt Gefallenen nach und schließt – im Zusammenhang mit Joan Lindsays Picknick am Valentinstag – mit der hintersinnigen Feststellung, daß eine »gespenstische Ruhe« (eerie calm) als Anzeichen des eindringenden Äußeren sich dort einstelle, »wo immer vertraute Leidenschaften überwunden werden können«. Beispielsweise die der allgegenwärtigen Konsummentalität im Spätkapitalismus?
Erst unlängst, im Januar 2021, erschienen die letzten Vorlesungen, gehalten am zur Londoner Universität gehörenden Goldsmiths College, von Ende 2016, also kurz vor Fishers Suizid. Zusammengestellt, herausgegeben und kommentiert von Fishers rührigstem Schüler, Matt Colquhoun (der seine eigene publizistische Arbeit als Versuch der Traumabewältigung nach dem Suizid des Kulturtheoretikers aufnahm), versammelt viele intime und überraschend witzige Betrachtungen Fishers zur Zeit und ihren Absonderlichkeiten – einschließlich bemerkenswerter Eingeständnisse (»Herrje, eigentlich habe ich überhaupt keine Ahnung von Wirtschaft … (lacht)«) des Protokollierten und eines sehr lehrreichen Vorworts des Herausgebers.
Was also bleibt vier Jahre nach seinem Suizid von Fishers Denken? Seine wesentlichen Schriften sind schon übersetzt, allerdings in mäßiger Qualität, weshalb hier ausschließlich die englischsprachigen Originale konsultiert wurden (eine besondere Frechheit ist die freimütig zusammengekürzte deutsche »Lizenzausgabe« der Artikelsammlung k‑punk, in der einige der wichtigsten Texte fehlen). Das Konzept der Hauntologie, unterm Strich der Grundstein seines Denkgebäudes, findet sich jedenfalls heute mehr denn je in der Welt des Kommerzes: Virtuelle Weltflucht-Szenarien wie jenes im Computerspiel »Cyberpunk 2077« kleiden die triste Gegenwart oder eine idealisierte Vergangenheit in ein futuristisches Gewand, bleiben unterm Strich jedoch in den scheinbar alternativlosen Denk- und Handlungsmustern ihrer eigenen Entstehungsumgebung gefangen. Ob Mode, Film oder Musik, man fleddert mit »Remixes«, »Revivals« und »Remakes« ganz offen stilistische Leichen, die oft quasi noch warm sind. Die Populärkultur ist eine des Autokannibalismus.
Fishers Outside war und ist der Gegenentwurf zu einem als unerträglich empfundenen Status quo, die Perspektive des bewußt ganz Anderen, das sich nicht um jeden Preis in eine nebulöse Mitte zu drängen versucht. Das mag im besten Sinne radikal heißen, als Radikalismus der Hoffnung, nicht einer kleinmütig-zwanghaften Dauerbetrachtung der Wunden des »beschädigten Lebens«, welcher Fisher Adorno geziehen hat. So läßt sich die anschlußfähige Quintessenz der intensiven Arbeit Fishers vielleicht in der bewußt antinostalgischen Absage an eine Reliquie der alten BRD wie Helmut Schmidt formulieren: Wer Visionen hat, muß nicht zwangsläufig zum Arzt gehen, sondern könnte sich auch gerade durch sie einen chronischen Verlauf ersparen. Der längst zu einem Internetmeme gewordene »SadBoiMark« hätte darüber gewiß sachte geschmunzelt.