Vielleicht kann man Geschichte mit einem beweglichen Knoten vergleichen, der sich anhand des Zeitstrahls fortbewegt, in sich verschiedene Stränge vereint und immer neue aufnimmt, aber auch jederzeit geöffnet werden kann. Jeder historische Augenblick vereint dialektisch alle drei Elemente – Verstrickung, Bewegung, Lösung – in sich, aber es gibt Zeitpunkte, in denen ein Element für das Auge des historischen Betrachters dominant und sichtbar wird. Dort kann man viel über Geschichte lernen, über den Kairos und die Folgen, wenn er verpaßt wird, aber selbstverständlich auch über die Unmöglichkeit, Geschichte im je eigenen Sinne erfolgreich schreiben zu können.
Als Graf Pál Teleki sich am frühen Morgen des 3. April 1941 eine Kugel in den Kopf schoß, da war so ein Moment, an dem vorherige Ereignisse katastrophisch zusammenliefen und sich im selben Augenblick neue Wege bahnten, an dem Historie in eine andere Bahn gezwängt wurde.
Wie alle Ministerpräsidenten Ungarns unter Miklós Horthys Reichsverweserschaft, die von 1921 bis 1944 dauerte, war Teleki ein komplexer und widersprüchlicher Charakter, aber auch ein Staatsmann von Rang. Er repräsentierte – ebenso wie Horthy selbst – in einer politisch hochvolatilen Zeit eine Form des dogmatischen Konservatismus, der von einem scheinbar antiquierten Ehrbegriff getragen wurde und exakt deswegen ein Stabilitätselement in die verwirrte und unübersichtliche politische Landschaft einführte.
Schon Anfang der 1920er Jahre hatte er, ein Mitunterzeichner des Trianon-Vertrages, »ein verantwortungsvoller Vollblutpolitiker«, das Amt inne, und seine Regierungszeit stand einerseits für die Beendigung des »weißen Terrors«, der als eine Reaktion auf den »roten Terror«, auf die Besetzung großer Teile Ungarns durch Rumänien und vor allem auf die tief empfundene Kränkung aller Ungarn nach den eminenten territorialen und Bevölkerungsverlusten durch den sogenannten Friedensvertrag von Trianon zu verstehen ist. Andererseits stand sie aber auch für das erste von drei »Judengesetzen« (wesentlich ein Numerus-clausus-Gesetz), die letztlich – auch gegen den Willen Horthys – zur Deportation Hunderttausender ungarischer Juden nach Auschwitz führten. Davon freilich konnte Teleki noch nichts ahnen.
Er war ein Staatsmann alter Schule mit hohem Ethos und einer ausgefeilten staatsphilosophischen Vorstellung, ein Wissenschaftler von Rang und ein Mitbegründer der Pfadfinder-Bewegung. Sein strategisches Hauptziel war – wie übrigens bei allen seinen Nachfolgern und Vorgängern, nur mit unterschiedlichen Mitteln – die Revision des Trianon-Vertrages, also die Rückerlangung des ungarischen Territoriums, das nun zu den Anrainerstaaten gehörte. Ungarn hatte durch den Vertrag über 70 Prozent seines Territoriums und fast 60 Prozent seiner Bevölkerung verloren, worunter fünf Millionen ethnische Ungarn waren. Ungarn wurde zudem von den Siegermächten während der Pariser Verhandlungen gedemütigt, da man ihm jegliches Mitspracherecht verwehrte und das Land vor vollendete Tatsachen stellte.
Teleki machte sich allerdings für eine friedliche, diplomatische und organische Revision stark, und das unterschied ihn von vielen anderen.
Seine zweite Amtszeit stand unter deutlich schwierigeren Vorzeichen. Als er sein Amt erneut antrat, hatte Deutschland gerade Polen überrannt, die Besetzung der Tschechei war bereits Geschichte und brachte Ungarn durch den ersten Wiener Schiedsspruch die Rückeroberung verlorener slowakischer Gebiete sowie der Karpatenukraine. Seine drei Vorgänger im Amt – Gömbös, Darányi und Imrédy – waren radikalere Rechte, die die Annäherung an Deutschland und den Nationalsozialismus gesucht hatten und damit in einem gewissen Widerspruch zum Reichsverweser standen, der sie freilich gewähren ließ.
Teleki sollte nun ein Gegengewicht schaffen – ihm stand außenpolitisch der schwierige Balanceakt bevor, sich von Deutschland und von den Alliierten fernzuhalten, ohne sich distanzieren zu müssen, dabei selbst eine militärische Macht aufzubauen, aber dennoch neutral zu bleiben. Innenpolitisch galt es, die immer mehr erstarkende radikale Rechte im Zaum zu halten.
Ungarn profitierte nicht unbedeutend von Hitlerdeutschland. Nach schweren Jahren der Rezession, der Arbeitslosigkeit, des Elends und der Armut boomte die Wirtschaft nun, und dafür war ganz wesentlich der deutsche Hunger nach Agrarprodukten und Rohstoffen verantwortlich. Weite Teile der Gesellschaft, vor allem das Militär, waren äußerst deutschlandfreundlich, und die Ungarndeutschen entdeckten plötzlich ihren eigenen Nationalismus und stellten Forderungen.
Dennoch waren Teleki und Horthy sich darin einig, daß Deutschland einen großen Krieg gegen die Alliierten langfristig nicht gewinnen könne, also dürfe man die Fäden gen Westen nicht abschneiden. Ja, sie sahen sogar bereits die Gefahr, daß die Niederlage Deutschlands Ungarn unter den Machtbereich der Sowjetunion bringen könnte, und das war für beide Antikommunisten die schrecklichste Vorstellung.
Immer wieder versuchte Hitler mit Zuckerbrot und Peitsche, die Ungarn gefügig zu machen, doch lange widerstanden sie. Als er via Ribbentrop den Durchmarsch deutscher Truppen erbat, um Polen von der Südflanke angreifen zu können, da lehnte die ungarische Regierung auch gegen den starken Druck der inneren Opposition, die in einem Anschluß an Deutschland die beste Gelegenheit sah, die »tausendjährigen Grenzen Ungarns wiederherzustellen«, ab – mehr noch, sie öffnete die gemeinsame Grenze für Flüchtlinge und rettete so hunderttausend Polen das Leben.
Doch mit den wachsenden Erfolgen Deutschlands und der überraschenden Leichtigkeit, mit der es seine Gegner besiegte, wurde die innenpolitische Lage immer schwieriger, wurden die deutschlandfreundlichen Rechtsextremen politisch immer stärker. Auch Horthy begann zu wanken. Wie ein Fels in der Brandung beharrte Teleki auf der Notwendigkeit, einen Zickzackkurs zu fahren und den Kontakt zu den Westmächten nicht abreißen zu lassen.
Als die Sowjetunion im Sommer 1940 Gebietsforderungen an Rumänien stellte, spitzte sich die Lage erneut zu. Was sollte mit den Ungarn in Rumänien passieren? Das Militär zeigte starke Gelüste, direkt einzumarschieren und Siebenbürgen zu besetzen. Das wäre der aktive Eintritt in den Krieg gewesen, den man verhindern wollte.
Teleki und Horthy gelang es, die Achsenmächte zu einem Schiedsspruch zu bewegen, um die Lage zu beruhigen. Der »zweite Wiener Schiedsspruch« sprach Ungarn weite Teile – aber nicht alle – des ungarisch besiedelten Siebenbürgens zu, entschärfte momentan die Lage, schuf aber eine verstärkte Abhängigkeit von Deutschland und ließ zudem einen bedeutenden Teil des ehemaligen ungarischen Territoriums zurück. Die Freude darüber war daher zwiespältig.
Teleki empfand es als persönliche Niederlage, vor allem sah er seine Autorität durch das Militär untergraben. Er erbat wenige Tage darauf seinen Rücktritt, wurde von Horthy durch Versprechungen aber zum Durchhalten animiert.
Daß Ungarn sich im November des Jahres dem Dreimächtepakt anschloß, wird man durchaus als Dank für die Realisierung der Gebietsansprüche werten können. Gleichzeitig verstärkte Teleki seine diplomatische Arbeit mit England. Er wollte die Westmächte davon überzeugen, daß Ungarn keine Marionette Deutschlands sei, und weil kein Geringerer als Churchill im Unterhaus erklärte: »Ich persönlich war nie damit einverstanden, wie man Ungarn nach dem letzten Krieg behandelt hat«, und daß man territorialen Veränderungen gegenüber, sofern sie im Interesse der Völker stünden, offen sei, da fühlte sich Teleki in seiner Politik bestärkt.
Nun sah er seine Aufgabe darin, das Bild Ungarns im Westen zu verbessern, und fand in der Annäherung an den südlichen Nachbarn Jugoslawien das passende Mittel. Mitte Dezember wurde ein Pakt für »anhaltenden Frieden und ewige Freundschaft« geschlossen. Telekis Position schien gestärkt: Unter seiner Führung waren bedeutende Teile des durch Trianon verlorenen Gebietes wieder Teil des Reiches, er konnte noch immer die faktische Neutralität Ungarns bewahren, und es war ihm gelungen, insbesondere England von der Satisfaktionsfähigkeit Ungarns zu überzeugen, was eine Überlebensgarantie für die Nachkriegszeit war.
Allein, die »ewige Freundschaft« mit Jugoslawien hielt nur drei Monate. Nach der Erklärung der jugoslawischen Regierung, dem Antikominternpakt beitreten zu wollen, wurde sie am 25. März von westlich orientierten Militärs gestürzt. Hitler entschied sich daraufhin, Jugoslawien anzugreifen, erbat von Budapest die Durchmarschgenehmigung und versprach den Ungarn im Gegenzug den letzten großen Happen zur Wiederherstellung des ethnisch geschlossenen Territoriums: die südliche Batschka und das Banat. Er deutete sogar an, den alten Seezugang zur Adria wiederherstellen zu wollen. Horthy, der einstige Admiral, reagierte begeistert. Angesichts der verlockenden Beute schien er alle lebenslangen Maximen vergessen zu haben. Das Militär stand nahezu komplett hinter ihm.
Nur Teleki widersprach. Ihm schien es undenkbar, »Leuten in den Rücken zu fallen, denen wir ewige Freundschaft geschworen haben«. Er sah vor allem die Ehre Ungarns beschmutzt und sah voraus, daß sich dieser direkte Eingriff, das Verlassen der Neutralität, verheerend auf die Nachkriegszeit auswirken würde. Horthy wiederum argumentierte, daß es die Vertragspartner des »ewigen Friedens« nun nicht mehr gebe, und sah sich vor allem am Ziel seiner Wünsche: zumindest der ethnischen Wiedervereinigung mit den verlorenen Landsleuten. Immerhin sollte Ungarn damit wieder auf eine Gesamtfläche von 172 000 Quadratkilometern mit einer Gesamtbevölkerung von 14,7 Millionen Menschen anwachsen und die meisten ethnischen Ungarn unter der Krone vereinen. In harten Verhandlungen konnte Teleki noch ein paar Verzögerungen und die Garantie durchsetzen, daß die Militäraktion nur der Befreiung der ethnischen Ungarn gelte und keine Gebietseroberungen beinhalten dürfe.
Noch einmal wandte er sich – auch in Geheimverhandlungen – an London und versuchte das ungarische Dilemma zu erklären. Er hinterließ dort sein politisches Testament: »Die wichtigste Aufgabe der ungarischen Regierung in diesem europäischen Krieg ist, die militärische, materielle und Volkskraft bis zum Ende des Krieges zu konservieren. Um jeden Preis muß von der Konfliktbeteiligung ferngeblieben werden. Der Ausgang des Krieges ist zweifelhaft. Aber auf jeden Fall ist es für Ungarn wichtiger, in der Endperiode des europäischen Konflikts unversehrt zu sein. […] Das Land, unsere Jugend, unsere Armee dürfen wir nur für uns selbst aufs Spiel setzen und für niemanden anderen!«
Aber er wurde kalt abgewiesen und darauf aufmerksam gemacht, daß dieser Aggressionsakt und die direkte Zusammenarbeit mit Hitlerdeutschland zwangsläufig zum Krieg mit England und den USA führen würden. Am Tag darauf setzte sich Teleki die Pistole an die Stirn. Zuvor hatte er noch einen erschütternden Brief an Horthy geschrieben, der seither in keinem Geschichtsbuch fehlen darf. Diese Zeilen zeigen, wie sich der Politikbegriff in den letzten acht Jahrzehnten geändert hat, denn heutzutage ist es kaum noch vorstellbar, daß Politik an das eigene Leben geknüpft wird, daß man aus einem Ehrbegriff heraus denkt und handelt.
Vielleicht hat Teleki damit auch versucht, eine allerletzte Trumpfkarte zu spielen und Horthy zur Umkehr zu veranlassen. Demnach wäre sein Freitod eine letzte wichtige Botschaft gewesen. So hatte ihn wohl auch Sándor Márai empfunden: »Pál Teleki. Er geht auf der Schanze spazieren, ein paar Tage vor seinem Selbstmord. Ein Beamter begleitet ihn […] Ein paar Tage später erschoß er sich, und plötzlich war er entsetzlich erwachsen. Jede Verlegenheit war aus dem Gesicht gewichen. Er war wie jemand, der etwas begriffen und ausgesprochen hatte.« Diese Hoffnung war freilich umsonst gewesen. Auch Horthy begriff später: »Mit Graf Telekis Tod endete auch die Zeit der ungarischen Nonbelligeranza.«
An anderer Stelle wiederum hatte Teleki seine Ehre durchaus befleckt, ohne daß ihn das anscheinend belastet hatte. Wie Horthy selbst, wie unzählige andere Ungarn, war er ein überzeugter Antisemit, andererseits setzten sie alle diplomatischen Tricks ein, um die Deportation der ungarischen Juden zu verhindern.
Unter seiner Führung wurden die ersten beiden der drei verhängnisvollen »Judengesetze« verabschiedet. Regelte das erste noch den Numerus clausus, der den unverhältnismäßig hohen Anteil an Juden unter der ungarischen Intelligenz korrigieren sollte und – nebenbei – zu einem bedeutenden Brain drain führte, so schuf das zweite schon einen Übergang zu aktiven Rassengesetzen. Dort wurde erstmals rassisch argumentiert. Der Numerus clausus wurde noch einmal verschärft. In Wirtschaft und Wissenschaft durfte der Anteil der Juden ihren Anteil in der Gesamtbevölkerung nicht überschreiten (sechs Prozent) – da die meisten jüdischen Bürger aber in Budapest lebten und dort also prozentual viel stärker vertreten waren, wurde das gesellschaftliche Leben der Stadt stark beeinflußt. Zwar wurde dieses Gesetz noch von Telekis Vorgänger Béla Imrédy ausgearbeitet, aber Teleki setzte es ohne Änderung und offenkundig ohne jegliche Skrupel um. Wo blieb hier die Ehre?
Telekis Tod schien sämtliche Anker zu lichten. In rascher Folge waren alle seine und auch Horthys strategischen Ziele Makulatur geworden, wurden alle Befürchtungen Realität. Die Balance-Politik war krachend gescheitert. Schon wenige Tage nach dem Einmarsch in Jugoslawien wurden deutsche Truppen in Ungarn bombardiert. Nun wußten die Ungarn, daß der Krieg sie eingeholt hatte. Die Geschichte kam ins Rollen.
Freilich bleibt die Frage, ob es überhaupt einen Weg gab, die Katastrophe zu verhindern, so hypothetisch wie aktuell. Selbst der damalige amerikanische Botschafter in Ungarn, John Flournoy Montgomery, kam nach dem Krieg zu der Einsicht: »Die Ungarn mögen jetzt denken, ihre Führer hätten Fehler begangen, was sie sicher auch getan haben, aber meines Erachtens wäre das Ergebnis – welche Politik auch immer zu einem früheren Zeitpunkt verfolgt worden wäre – genau gleich gewesen.« Zu stark war der Einfluß des mächtigen Deutschland und zu gering waren die Möglichkeiten der Ungarn, zu groß zeigte sich der Spagat zwischen Realismus (die massive deutsche Überlegenheit) und Strategie (Sieg der Westmächte). Allein in der Frage der Ehre hätte man sich unterscheiden können.
Telekis Nachfolger im Amt suchten noch größere Nähe zu Deutschland. In László Bárdossys kurze Amtszeit fielen die Kriegserklärung an England und die USA, der Kriegseintritt gegen die Sowjetunion und damit die Entsendung der 2. Armee – fast 300 000 Mann – an die Ostfront, wo sie fast vollständig aufgerieben wurde. In Novi Sad machten sich ungarische Truppen eines Massakers und Pogroms an Juden und Serben schuldig und befleckten die weiße Weste. Als die Niederlage Deutschlands schon längst gewiß war, übernahmen rechtsradikale Politiker die Macht, gipfelnd in den Pfeilkreuzlern. Telekis und Horthys Alpträume hatten sich alle materialisiert.
Der verzweifelte Schuß am Morgen des 3. April 1941 hatte den schon längst lockeren Geschichtsknoten endgültig gelöst.