Abschiedlichkeit: Gerd-Klaus Kaltenbrunner zum 10. Todestag

PDF der Druckfassung aus Sezession 101/ April 2021

Caroline Sommerfeld

Caroline Sommerfeld ist promovierte Philosophin und dreifache Mutter.

In ihrem Vor­wort zu Gerd-Klaus Kal­ten­brun­ners vor zwei Jah­ren neu her­aus­ge­ge­be­nem Dop­pel­band Vom Geist Euro­pas fragt Mag­da­le­na S. Gmeh­ling, sei­ne lang­jäh­ri­ge Mit­ar­bei­te­rin: »Wer war Gerd-Klaus Kal­ten­brun­ner?« und resü­miert: »Ein Essay­ist von inter­na­tio­na­lem Ruf, Kul­tur­mor­pho­lo­ge und Ideen­por­trä­tist, ein eli­tä­rer, enzy­klo­pä­disch gebil­de­ter Den­ker, Poly­his­tor und spi­ri­tu­el­ler Idea­list, kon­ser­va­ti­ver Intel­lek­tu­el­ler und Bewah­rer der Tradition.«

Kal­ten­brun­ner, gebo­ren 1939, starb vor zehn Jah­ren in Kan­dern im Schwarz­wald. Sein gan­zes intel­lek­tu­el­les Leben, nicht erst die Spät­pha­se, in der er sich aus­schließ­lich eini­gen gro­ßen christ­li­chen Mys­ti­kern wid­me­te, war in einem bestimm­ten Sin­ne »abschied­lich« gestimmt. Er ver­stand unter »Abschied­lich­keit« – den Aus­druck über­nahm er vom Phi­lo­so­phen Wil­helm Wei­sche­del – das Fol­gen­de, und zitier­te es in meh­re­ren sei­ner Auf­sät­ze: »Habi­tu­ell gewor­de­ne Zurück­hal­tung gegen­über dem ›Natür­li­chen‹, pro­duk­ti­ve und kul­tur­stif­ten­de wie ‑bewah­ren­de Hem­mung, die nicht mit patho­lo­gi­scher Gehemmt­heit ver­wech­selt wer­den darf. Sie berührt sich hin­ge­gen innig mit jener ›Grund­hal­tung der Abschied­lich­keit‹. […] Abschied­lich gestimmt und gesinnt zu sein ist eine noble Ant­wort auf die unbe­streit­ba­re Tat­sa­che, daß in die­ser Welt alles ver­gäng­lich, dem schließ­li­chen Unter­gang ver­fal­len und des­halb pro­ble­ma­tisch ist. In der Ver­fas­sung der Abschied­lich­keit ler­nen wir zu ent­sa­gen, zu ver­zich­ten und gelas­sen zu sein.«

Das Schaf­fen Kal­ten­brun­ners ver­lief in zwei Pha­sen: Zunächst avan­cier­te er zum Vor­den­ker des Kon­ser­va­tis­mus – und stat­te­te die kon­ser­va­ti­ve Posi­ti­on (in einer Zeit, in der die pro­gres­sis­ti­sche Lin­ke einen unge­heu­ren Aus­wurf mar­xis­ti­scher »Theo­rie« zum Behu­fe der »Revo­lu­ti­on« und par­al­lel­lau­fend zum schlei­chen­den Umbau des kul­tu­rel­len »Über­baus« der west­li­chen Gesell­schaf­ten pro­du­ziert hat) mit genui­ner Theo­rie­grund­la­ge aus. Dies voll­brach­te Kal­ten­brun­ner eines­teils durch Refle­xi­on des Begriffs des Kon­ser­va­tis­mus (die zen­tra­le Schrift ist Der schwie­ri­ge Kon­ser­va­tis­mus von 1975, »Zehn Gebo­te für Kon­ser­va­ti­ve und sol­che, die es wer­den möch­ten« sind dar­in ent­hal­ten). Andern­teils durch Aus­gra­bung, Zusam­men­stel­lung, facet­ten­rei­che Beur­tei­lung und – dies ist ein wich­ti­ges Mit­tel sei­nes Her­an­ge­hens an die­se Gegen­stän­de – Hul­di­gung einer wah­ren Schar von Geis­tes­rie­sen, auf deren Schul­tern wir alle ste­hen kön­nen, wenn wir nur in die Lage gebracht wer­den, uns ihres Bei­stands zu versichern.

Ab 1974 gab er die Taschen­buch­rei­he Her­der­bü­che­rei Initia­tive her­aus und schrieb zu jedem ein­zel­nen Band ein Vor­wort vol­ler eige­ner Gedan­ken. Die Rei­he wur­de zu einer Art »heim­li­cher Uni­ver­si­tät« kon­ser­va­ti­ven Den­kens und wuchs bis 1988 auf 75 Ein­zel­bän­de und drei Son­der­bän­de an – sie sind größ­ten­teils anti­qua­risch noch erhält­lich, oft für wenig Geld. Eini­ge davon sind vor­der­grün­dig sehr zeit­ge­bun­den, bei­spiels­wei­se Nr. 2 zu Klas­sen­kampf und Bil­dungs­re­form oder Nr. 27 über Die eltern­lo­se Gene­ra­ti­on, aber bei genaue­rem Hin­se­hen fin­det sich dar­in eine voll­stän­dig ent­fal­te­te Kri­tik­fo­lie für so gut wie alles, wor­über wir uns in zahl­lo­sen rech­ten und kon­ser­va­ti­ven Publi­ka­ti­ons­or­ga­nen gegen­wär­tig immer noch die Fin­ger wund­schrei­ben – wir befin­den uns näm­lich an einem End- oder Kul­mi­na­ti­ons­punkt meh­re­rer Ent­wick­lun­gen gleich­zei­tig (von Femi­nis­mus bis Öko­lo­gie, Erzie­hungs­not­stand, Wis­sen­schafts­ka­pi­tu­la­ti­on, Kir­chen­kri­se, Gesund­heits­fun­da­men­ta­lis­mus und Tech­no­kra­tie), die in den sieb­zi­ger und acht­zi­ger Jah­ren in der Bun­des­re­pu­blik bereits zur Kennt­lich­keit her­vor­tra­ten. Ein­zel­ne Bän­de der Initia­ti­ve-Rei­he loh­nen sich, neu ver­öf­fent­licht zu wer­den, beson­ders möch­te ich hier Band Nr. 63, Der aske­ti­sche Impe­ra­tiv. Stra­te­gien der Selbst­be­herr­schung, herausheben.

1984 erschien Kal­ten­brun­ners pro­vo­ka­ti­ves Bänd­chen Eli­te. Erzie­hung für den Ernst­fall, das als kapla­ken Nr. 10 im Jah­re 2008 wie­der auf­ge­legt wur­de (und ein als Ein­stieg per­fekt geeig­ne­tes Kapi­tel über Geheim­ge­sell­schaf­ten ent­hält), 1987 der Initia­ti­ve-Sam­mel­band mit dem Titel Was ist deutsch?, wohl sein poli­tischs­tes und »rech­tes­tes« Buch. Ab 1990 nichts mehr davon. Pro­vo­ka­ti­on, Poli­tik, Teil­nah­me am »gesell­schaft­li­chen Dis­kurs« waren been­det. Er trat als poli­ti­scher Theo­re­ti­ker nie wie­der in Erschei­nung. Kei­ne Recht­fer­ti­gung, kei­ne Pro­gramm­schrift, kei­ne »per­sön­li­chen Grün­de« sind auf­find­bar. Abschiedlichkeit?

Statt des­sen ver­grub sich der Den­ker in die Höhen des Geis­ti­gen – die Meta­pher in mei­nem Satz ist nicht schief, son­dern ent­spricht Kal­ten­brun­ners Habi­tus: tief schür­fen, um hoch hin­aus schau­en zu kön­nen. Johan­nes ist sein Name (1993) wid­met sich dem »gleich­na­mi­gen Pries­ter­kö­nig und Grals­hü­ter, des­sen Ein­fluß in der abend­län­di­schen Geis­tes­ge­schich­te kaum über­schätzt wer­den kann« (Staats­po­li­ti­sches Hand­buch: Vor­den­ker). In sei­nem größ­ten Spät­werk, Dio­ny­si­us vom Areo­pag. Das Uner­gründ­li­che, die Engel und das Eine (1996), lese ich immer wie­der, immer noch – es ist unfaß­bar. Dies mei­ne ich als Lob­preis des Lob­prei­ses jenes schil­lern­den, schwie­ri­gen, in sei­ner his­to­ri­schen Exis­tenz so umstrit­te­nen wie in sei­ner geis­ti­gen Exis­tenz welt­be­we­gen­den Areo­pa­gi­ten: kaum auf den Begriff zu brin­gen, gleich­zei­tig schwär­me­risch und hoch­prä­zi­se.

In sei­nem klei­nen Nach­wort zu Eli­te hat Götz Kubit­schek geschrie­ben, das »Kon­zept der Kul­tur­re­vo­lu­ti­on, dem auch Kal­ten­brun­ner anhing, ist nicht tot«. Eigent­lich gibt es doch kaum etwas Unkon­ser­va­ti­ve­res als aus­ge­rech­net »Kul­tur­re­vo­lu­ti­on«. In der Tat ist im Vor­wort zum Ini­ti­tia­ti­ve-Band Nr. 6, Zur Eman­zi­pa­ti­on ver­ur­teilt, von einem »zwei­deu­ti­gen Anspruch des Eman­zi­pa­ti­ons­be­griffs der west­li­chen Kul­tur­re­vo­lu­ti­on« die Rede, der dar­in bestehe, »jede Art von Zwang besei­ti­gen« zu wol­len, wor­auf Kal­ten­brun­ner iro­nisch bemerkt, in letz­ter Kon­se­quenz wer­de es bald nicht mehr hei­ßen, jemand sei satt, son­dern er habe sich eman­zi­piert vom Hun­ger. Dem­entspre­chend kön­ne alles, was als Wider­stand, Übel oder Hem­mung emp­fun­den wird, als Man­gel an Eman­zi­pa­ti­on ver­stan­den wer­den. Dies aber las­se sich redu­zie­ren auf das »pro­test­le­risch gereiz­te und mit Ekel gepaar­te Miß­trau­en gegen alles Bestehen­de«. »Mit einer sich in Abs­trak­tio­nen aus­to­ben­den idea­lis­ti­schen Wut wird, wie dem Licht die Fins­ter­nis, einem pro­gres­siv-kri­tisch-demo­kra­tisch-eman­zi­pa­to­ri­schen ein kon­ser­va­tiv-posi­ti­vis­tisch-auto­ri­tär-tech­no­kra­ti­sches Lager ent­ge­gen­ge­setzt. Geschich­te und Gegen­wart erschei­nen dann extrem pola­ri­siert, denn der Feind ist a prio­ri ermit­telt und das gute Gewis­sen der eige­nen Par­tei garan­tiert.« Die ewi­ge Lin­ke in nuce.

Eigent­lich wäre sie in einem fai­ren Box­kampf hier­mit ein für alle­mal erle­digt. Aber der Witz der lin­ken »Kul­tur­re­vo­lu­ti­on« besteht gera­de dar­in, sich von Wider­le­gun­gen nicht beir­ren zu las­sen und »alles Bestehen­de« bis auf den heu­ti­gen Tag stur wei­ter zu unter­mi­nie­ren, bis es fällt.

Gerd-Klaus Kal­ten­brun­ner setz­te die­ser Wühl­ar­beit das ent­ge­gen, was er – hier ganz im Geist der Kon­ser­va­ti­ven Revo­lu­ti­on, die er andern­orts nament­lich in der Gestalt Moel­ler van den Brucks scharf kri­ti­sier­te – »eine Phi­lo­so­phie revo­lu­tio­nä­rer Bewah­rung« nann­te. Ein sol­cher Kon­ser­va­tis­mus ist jedoch in sei­nem Kern ganz und gar abschied­lich gestimmt, denn er fußt auf »einer Anthro­po­lo­gie, die sich nicht um die Dop­pel­stre­big­keit, Gegen­sätz­lich­keit und Zwie­se­lig­keit des Men­schen, sei­ne schwan­ken­de Stel­lung zwi­schen Schick­sal und Mach­bar­keit, Gegen­wär­tig­keit der Ver­gan­gen­heit und Gegen­wär­tig­keit der Zukunft betrügt.«

Wenn sie »Kul­tur­re­vo­lu­ti­on« so ver­ste­hen, kön­nen Kon­ser­va­ti­ve (um mit Alex Kur­ta­gić zu spre­chen) aller­dings »immer nur ver­lie­ren«. Es wäre also wohl rat­sam, unse­ren Hel­den trotz des para­do­xen Wort­spiels mit der »revo­lu­tio­nä­ren Bewah­rung« aus dem gesam­ten Denk­bild der Revo­lu­ti­on her­aus­zu­neh­men. Er ist in die­sem Sin­ne schlicht und ein­fach kein poli­ti­scher Den­ker und ist es auch nie gewe­sen. Was er jedoch gewe­sen ist, und zwar gera­de und eigent­lich in sei­ner kon­ser­va­ti­ven Theo­rie­pha­se: ein Kor­rek­tiv zum gras­sie­ren­den poli­ti­schen Den­ken und des­sen Macht­pra­xis. Ein poli­ti­scher Den­ker jed­we­der Cou­leur will das »gute Gewis­sen der eige­nen Par­tei« meta­po­li­tisch auf­mu­ni­tio­nie­ren, will, daß sein eige­nes Lager den Kampf gewinnt. Kal­ten­brun­ner war viel zu skep­tisch, viel zu behut­sam, viel zu tief davon über­zeugt, daß der Kampf in Wirk­lich­keit auf einer ande­ren Ebe­ne aus­ge­tra­gen wer­den muß und his­to­risch aus­ge­tra­gen wor­den ist, näm­lich auf der geis­ti­gen Ebe­ne. Ich lese ihn als gro­ßen Vor­den­ker eines geis­ti­gen Wider­stands, viel weni­ger als einen Vor­den­ker des poli­ti­schen Kon­ser­va­tis­mus, für den Kal­ten­brun­ners man­nig­fa­che Ein­wür­fe, Rich­tig­stel­lun­gen und geschicht­li­che Klä­run­gen ein bit­ter nöti­ges Kor­rek­tiv sind.

In sei­nen »Zehn Gebo­ten für Kon­ser­va­ti­ve« fin­det sich unter der Zif­fer 4 ein Gedan­ke, der schein­bar die Ein­schät­zung wider­legt, Kal­ten­brun­ner sei der Vor­den­ker eines geis­ti­gen und nicht poli­ti­schen Wider­stands: »Wis­se: Kon­ser­va­tiv ist heu­te, wer sich auf die Sei­te der Demo­kra­tie schlägt. Wer gegen die Arro­ganz selbst­er­nann­ter Vög­te und Vor­mün­der kämpft, die vor­ge­ben, die Demo­kra­tie zu erwei­tern, zu ver­tie­fen und mit eman­zi­pa­to­ri­schem Inhalt zu erfül­len, in Wirk­lich­keit aber auf eine gna­den­lo­se tota­li­tä­re Büro­kra­tie und Par­tei­dik­ta­tur hinarbeiten.«

So ein Kal­ten­brun­ner könn­te heu­te bei­na­he zu den »Quer­den­kern« gezählt wer­den! Doch auch hier wie­der: der schmerz­haf­te Abschied von der »Demo­kra­tie« ist inner­lich bereits voll­zo­gen, Kal­ten­brun­ner weiß schon 1975, daß sie unauf­halt­sam umge­baut wird in »gna­den­lo­se tota­li­tä­re Büro­kra­tie und Par­tei­dik­ta­tur«. Auf Demo­kra­tie im Gegen­satz zur »Demo­kra­ti­sie­rung« zu set­zen stellt ein retar­die­ren­des Moment dar. Es ist eben­je­ne »pro­duk­ti­ve und kul­tur­stif­ten­de wie bewah­ren­de Hem­mung«, durch die abschied­li­ches Den­ken und Wol­len geprägt sind. Hem­mung ist kein poli­ti­sches Kon­zept, son­dern ein geis­ti­ges Hilfs­mit­tel zur Weltbewahrung.

Caroline Sommerfeld

Caroline Sommerfeld ist promovierte Philosophin und dreifache Mutter.

Nichts schreibt sich
von allein!

Das Blog der Zeitschrift Sezession ist die wichtigste rechtsintellektuelle Stimme im Netz. Es lebt vom Fleiß, von der Lesewut und von der Sprachkraft seiner Autoren. Wenn Sie diesen Federn Zeit und Ruhe verschaffen möchten, können Sie das mit einem Betrag Ihrer Wahl tun.

Sezession
DE58 8005 3762 1894 1405 98
NOLADE21HAL

Kommentare (0)