1. Das Grundgesetz (GG) entstand 1948 / 49 nicht als frei gewählte Verfassung eines souveränen (west-) deutschen Staates, sondern als »Organisationsform einer Modalität der Fremdherrschaft« (Carlo Schmid). Den deutschen Abgesandten, die an den Beratungen im Konvent von Herrenchiemsee und im Parlamentarischen Rat teilnahmen, kam ganz überwiegend nur eine Statistenrolle zu; federführend waren tatsächlich die alliierten Besatzungsmächte, die die deutsche Verfassungsgebung nach ihren eigenen Vorstellungen ins Werk setzten: »We will be writing – and not the Germans – their constitution« (Lucius D. Clay).
2. Als Besatzungsdanaergeschenk dargeboten, entbehrte das Grundgesetz – ebenso wie die wenig später von russischen Marionetten in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) installierte DDR-Verfassung vom 7. Oktober 1949 – von Anfang an einer demokratischen Legitimation. Das wurde auch mit einem – heute kaum mehr denkbaren – Rest an politischer Ehrlichkeit durch den futuristischen Riegel des Art. 146 GG ausdrücklich bestätigt: »Dieses Grundgesetz verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.« Zu einer solchen proaktiven Verfassungsdezision der Deutschen ist es indes zu keinem Zeitpunkt nach 1949, auch nicht im Zuge oder nach der Wiedervereinigung 1990, gekommen. Mangels einer verfassungsgebenden Versammlung oder hilfsweise eines Volksentscheids über die Frage, ob sich Deutschland eine selbstbestimmte Verfassung geben oder ob zumindest das juristische Dauerbehelfswerk Grundgesetz formaliter als Verfassung des deutschen Volkes anerkannt werden soll, hat sich an der fehlenden Legitimation des Grundgesetzes bis zum heutigen Tage nichts geändert.
3. Kennzeichnend für das Grundgesetz ist seine Volksfremdheit. Trotz seiner demokratisch anmutenden Wortwahl (z. B. Art. 20 Abs. 2 Satz 1: »Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus«) und trotz der Tatsache, daß das Volk auch sonst de iure häufig genannt wird, wirkt das Volk im Grundgesetz de facto »nur blaß und wie in einer Vitrine gezeichnet« (Werner Weber). In der Verfassungsrealität haben die politischen Parteien, die angeblich nur »bei der politischen Willensbildung des Volkes mit[wirken]« (Art. 21 Abs. 1 GG), dieses längst vollständig mediatisiert. Dazu paßt, daß das Grundgesetz von einem tiefen Mißtrauen gegen das Volk geprägt ist: Weder bei der Bestimmung des höchsten Repräsentanten (Wahl des Bundespräsidenten) noch in politischen Sachfragen (Volksabstimmungen auf Bundesebene analog des Schweizer Modells) ist der direkte, durch parlamentarische Verfremdungen ungebrochene Wille des Volkes gefragt.
4. Neben einer ausgeprägten Aversion vieler Deutscher gegen alles Politische hat nicht zuletzt diese plebiszitäre Machtlosigkeit des Volkes maßgeblich zu der Heranbildung einer Zuschauerdemokratie geführt. In dieser pilgert der Bürger, so er sich denn überhaupt an Wahlen beteiligt, alle paar Jahre zum Wahllokal, danach streift er aber sofort wieder den Mantel des Souveräns ab, um in seine flauschig ausstaffierte Rolle als konsumistischer Privatmensch zurückzufallen. Auf diese Weise wurde der zukunftsorientiert im Interesse des Gemeinwohls handelnde citoyen mehr und mehr verdrängt von dem Typus eines hedonistisch in den Tag lebenden bourgeois. Diese Umwandlung des Souveräns hat zu einem allgemeinen Verfall der res publica geführt. An ihre Stelle getreten ist eine »durch Utopien und Anarchismen verbiesterte Öffentlichkeit« (Ernst Forsthoff). Wer in einem solchen Klima der Verantwortungslosigkeit bekennt, sein (Wahl-)Verhalten nicht an den medial frisch aufgetischten Glühwürmchen-Themata der Gegenwart, sondern an dem Wohlergehen der kommenden Generationen auszurichten, gerät schnell in Gefahr, sich verdächtig oder lächerlich zu machen.
5. Da das Volk in unseren Tagen – im Gegensatz etwa zu den Geschehnissen in der DDR im Herbst 1989 – als Machtfaktor weitgehend marginalisiert ist, läuft das im Grundgesetz verbriefte Widerstandsrecht (Art. 20 Abs. 4) weitgehend ins Leere. Denn Widerstandsrecht ist – so ist auch der im Plural gehaltene Text des Grundgesetzes zu verstehen: »[…] haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand […]« – vor allem anderen originäres Volksrecht. Und das Dogma der Volkssouveränität sollte nicht darüber hinwegtäuschen, daß der Parlamentarismus aus dem Widerstandsrecht kommt, daß das Parlament ursprünglich das Wort des Volkes gegenüber dem Staat sprach und ihn in seine Grenzen verwies, wenn er diese überschritt. Heute verkörpert das Parlament in rousseauistischer Engführung das souveräne Volk und damit den Staat in nuce. In dieser Deckungsgleichheit Volk = Staat liegt nicht zuletzt die Wehrlosigkeit des Volkes gegenüber staatlichen Willkürmaßnahmen begründet: »Das Volk als Volk ist gegenüber dem Volk als Staat ohne Stimme und Waffe« (Max Hildebert Boehm).
6. Woran es dieser Republik vor allem gebricht, ist eine raison d’être, die in die Zukunft weist. Weder innen- noch außenpolitisch sind Ziele erkennbar, die den Fortbestand des ersten Einzelmenschenagglomerats auf deutschem Boden sicherstellen könnten. Diese »staatsideologische Unterbilanz« (Ernst Forsthoff), die sich seit Ende des Kalten Krieges noch erheblich verschärft hat, geht zurück auf die universalistische DNS des Grundgesetzes, in der der Post-1945-Deutsche von den Wurzeln des Volkes ab- und auf weltbürgerliche Maßstäbe zugeschnitten wurde. Mittlerweile wird die in Art. 1 – im Lichte der NS-Exzesse – durchaus zu Recht aufgenommene Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes dazu mißbraucht, migrationsaggressorische Humanexperimente zu rechtfertigen, in denen das verbliebene politische Tafelsilber der Deutschen (z. T. noch vorhandener Zusammenhalt des Volkes, vor allem auf dem Land, Leistungsfähigkeit des Bürgers, Reste einer funktionierenden Staatsorganisation in Verwaltung, Finanzen, Justiz- und Polizeiwesen etc.) rücksichtslos verschleudert wird. Dieser Menschheitsbeglückungswahn versinnbildlicht eine faktische BRD-Staatsräson, die sich verfassungsrechtlich in der Formel bündeln läßt: »Die Würde des Deutschen ist antastbar«. Oder umgekehrt und umständlicher, aber vielleicht präziser formuliert: »Die Würde des deutschen Menschen wird nur unter der Voraussetzung nicht angetastet, daß er aufgehört hat, sich als Glied des deutschen Volkes zu empfinden und als solches zusammen mit anderen Deutschen politisch zu handeln.«
7. Um die durch die Flucht aus der Nation entstandene, emotionale Leere der Bundesrepublik zu füllen, wurde schon Ende der 1970er Jahre das politikwissenschaftliche Konstrukt des sogenannten Verfassungspatriotismus aus der Taufe gehoben. Als eine Art Nationalismusersatz geschaffen, hat der Verfassungspatriotismus bereits die Wiedervereinigung mit den Nichtgrundgesetzdeutschen in der DDR überschattet. Wenn 1990 nicht zur Chiffre für einen nationalen Neuanfang, sondern eher für eine Fortführung kleinwestdeutscher Horizonte auf nun großwestdeutscher Landkarte wurde, dann deswegen, weil sich die BRD schon lange vor dem Mauerfall von Widerlagern im deutschen ethnos freigemacht hatte. Heute kommt dem Verfassungspatriotismus die Funktion zu, die Deutschen mit Hilfe der permanent beschworenen (westlichen) Werte, aber auch durch die ständig in Gang gehaltenen Gebetsmühlen des unheilsgeschichtlichen Grauens von der Sicherung der eigenen Existenz als Volk abzuhalten. Ausgelöst durch immer absurder werdende, moralinsaure Scheindebatten ist dadurch in der gelenkten Öffentlichkeit der Bundesrepublik ein regelrechter Verfassungsfetischismus entstanden, der die Substanz des Politischen nach und nach aufgelöst hat: »Ein Staat, der sich einer Verfassung ausliefert, ist so verloren, als wenn er sich einer privaten Moral unterwürfe« (Hans-Dietrich Sander).
8. Der derzeitige existenzbedrohende Status quo der Deutschen ist das Ergebnis einer mehr oder minder bruchlosen Niedergangsentwicklung seit 1945. Das anderslautende, von vielen Konservativen noch heute gepflegte Narrativ, die 1950er und 1960er Jahre seien die gute alte Zeit der Bundesrepublik gewesen, in die dann 1968 quasi über Nacht die bösen Linken eingebrochen seien, um das heile Kiesingerdeutschland kaputtzumachen, hat mit der historischen Realität wenig bis nichts zu tun. 1968 kam tatsächlich das zum Durchbruch, was 1945 / 49 politisch und verfassungsrechtlich in Trizonesien angerührt worden war: nämlich ein Staat ohne Volksbezug, ein Staat ohne geschichtliche Verortung, ein Staat ohne Souveränität, ein Staat ohne außenpolitische Handlungsfähigkeit. Anstatt 1968 diese ohnmächtige westdeutsche Existenz von nationalen Positionen her auf Substanz abzuklopfen, gefielen sich die 68er als nützliche Idioten der Westernisierung in der grotesken Manie, die wenigen verbliebenen deutschen Traditionen und Institutionen mit der marxistisch-antifaschistischen Abrißbirne endgültig zu schleifen. Nur wenige erkannten, worauf es wirklich ankam: Das politisch Wesentliche der 23 Jahre von 1945 bis 1968 war nämlich nicht die westdeutsche Schönwetterperiode mit Italienreise, Heinz-Erhardt-Filmen und Dr.-Oetker-Backpulver, sondern die von den Alliierten und ihren willfährigen westdeutschen bambini americani gesteuerte Inkubationsphase, in der die militärische Niederlage in die geistig-ethische Niederlage der Deutschen umgemünzt wurde (»Frankfurter Schule«). Und diese linksideologische Umpolung der Bundesrepublik wäre ohne das geistige Manna aus god’s own country nicht denkbar gewesen. Wesentlich bleibt: Dem linken Marsch durch die Institutionen 1968 ff. war die alliierte Kaperung deutscher Einrichtungen 1945 ff. vorausgegangen. Es gibt somit ein geheimes Einverständnis zwischen »1945« und »1968«, oder wie es Clausewitz ausdrücken würde: 1968 war nie etwas anderes als die Fortsetzung von 1945 mit anderen Mitteln.
9. Eines der wichtigsten Machtzentren der Berliner Republik befindet sich in Karlsruhe. Dort residiert das Bundesverfassungsgericht, geographisch weit entfernt von Berlin gelegen, um Unabhängigkeit gegenüber dem Hauptstadtgetriebe zu simulieren; mental und politisch steht das Gericht indes in Tuchfühlung zu der tonangebenden Klasse im Parteien- und Medienapparat. Es gibt in dem als architektonischer Verfremdungseffekt im Schloßgarten der badischen Großherzöge positionierten Gerichtsgebäude nichts, was nicht aus Berliner Holz geschnitzt wäre. Die nach dem jeweiligen Parteienproporz und häufig unter Verletzung des Gewaltenteilungsgrundsatzes installierten Richter des Bundesverfassungsgerichts stecken seit langem den metajuristischen Rahmen ab, in den die Entscheidungen der Exekutive eingebunden sind. Abgehoben vom Wortlaut des Grundgesetzes, nehmen allgemeine geisteswissenschaftliche oder zeitgeschichtliche, seit neuestem auch laienmeteorologische Erwägungen in den Urteilen des Gerichts einen immer breiteren Raum ein. Der Rechtsstaat ist dadurch zu einer »organisierte(n) Gesinnungs- und Erlebniseinheit« (Ernst Forsthoff) verkommen, in der politische Zielvorgaben mit verfassungsrechtlichem Flittergold kaschiert werden. Durch diese Juridifizierung des Politischen werden die legalitätshungrigen und gerichtshörigen Deutschen seit Jahrzehnten eingenordet. Eine solche, hinter der Fassade des Rechts ausgeübte, indirekte politische Herrschaft ist deswegen so fatal, weil sie – das wissen wir seit Machiavelli – zur Verantwortungslosigkeit erzieht und am Ende niemand mehr für die Folgen getroffener (Fehl-)Entscheidungen geradestehen will. Mit seinem ahistorischen und grundgesetzwidrigen Urteil zur angeblichen Verfassungswidrigkeit des ethnischen Volksbegriffs (Urteil v. 17. Januar 2017, Az.: 2 BvB 1/13) hat Karlsruhe – getreu den metapolitischen Einflüsterungen des herrschenden Medien- und Politkartells – dem deutschen ethnos den Krieg erklärt. Und mit seinem nachgerade abenteuerlichen sogenannten Klimabeschluß (Beschluß v. 24. März 2021, Az.: 1 BvR 2656/18 u. a.) kreiert das Bundesverfassungsgericht ex nihilo eine dem Grundgesetz unbekannte Verfassungsnorm, auf deren Grundlage die die deutsche Volkswirtschaft existentiell bedrohende grüne Klimaagenda durchdekliniert werden soll. Das ist mehr als ein »Skandal« (Dietrich Murswiek), das ist der kaum mehr verhüllte Machtanspruch einer neuen, aus dem pseudojuristischen Off heraus inthronisierten Karlsruher Republik.
10. Dem auf Geheiß der Alliierten 1951 errichteten Inlandsgeheimdienst (sogenannter Verfassungsschutz) kommt in diesem Karlsruher Machtgefüge die Rolle zu, die von den Roten Roben ex cathedra verkündete volksfeindliche Grundgesetz-Lesart nach unten durchzuexekutieren. Dazu werden Organisationen und / oder Einzelpersonen, die das Wohlergehen des deutschen Volkes in den Mittelpunkt ihrer politischen Anstrengungen stellen, planmäßig als faschistoid stigmatisiert und ihrer gesellschaftlichen Achtungsansprüche weitgehend beraubt. Damit entfällt gleichzeitig eine entscheidende Voraussetzung für die effektive Wahrnehmung von Grundrechten durch Oppositionelle. Denn niemand hört einem als »Nazi« gebrandmarkten Paria zu. Mit dem Kampfinstrument des sogenannten Verfassungsschutzberichts, »einer Art Demokratie-TÜV« (Jochen Lober), aber auch mit der willkürlichen medialen Verbreitung angeblicher Prüf- oder Beobachtungsfälle werden Parteien oder Vorfeldorganisationen einer gezielten politischen Verdächtigung ausgesetzt. Außerdem werden demokratisch nicht nur zulässige, sondern für eine funktionierende Demokratie essentielle Versuche Andersdenkender, den »Raum des Sagbaren« zu erweitern, von vorneherein in ein semikriminelles Zwielicht gestellt. Durch diese Feindmarkierungen einer immer skrupelloser in Szene gesetzten »Parteiverbotsdemokratie« (Josef Schüßlburner) ist in Deutschland ein alles vergiftendes Klima der Distanzeritis und des Denunziantentums entstanden, »in dem jeder zum Verfassungsfeind des anderen werden kann« (Günter Maschke). Die immer schneller mahlenden Mühlräder des Mißtrauens haben eine Leisetreterrepublik heranreifen lassen, in der schweigt, wer sozial nicht sterben will. Dieses gespenstische Angstschweigen über wesentliche Zukunftsfragen hat die freiheitliche Grundordnung schon lange in ein skurriles Neobiedermeier verwandelt, in dem u. a. die Freiheit der Meinungsäußerung, aber auch mehr und mehr die Freiheit der Wissenschaft zu Grundrechten herabgestuft wurden und werden, die nur noch auf dem Papier stehen. Offizielle, zur Benebelung der Ahnungslosen ausgegebene Verlautbarungen, »man lebe schließlich in einem freien Land«, lösen bei vielen Bürgern angesichts der orwellartigen Reallage in einer tief gespaltenen Nation nur noch schallendes Gelächter aus.
Ein Fremder aus Elea
Ich kann zu diesen Thesen nicht wirklich was sagen. Die BRD ist wesentlich korporalistisch, quasi in Zünften organisiert. Die Nationalromantik des 19. Jahrhunderts weicht weltweit dem akropolitischen Modell des alten Griechenlands, welches Platon in den Nomoi schildert, durchaus im Spannungsverhältnis mit dem deutschen korporalistischen System. Ein ideologisch aufgeladenes Staatsbürgertum wie in Frankreich oder der Schweiz kann es in einem korporalistischen System nicht geben, die Entscheidungen werden im Stillen zwischen den Körperschaften vereinbart. Allerdings ist Deutschland aufgrund seiner Exportausrichtung an internationale Richtlinien gebunden, welche mit seinem Korporalismus nichts am Hut haben. Und also kommt es zu fortwährend bizarreren Blüten.
Ich denke, das gibt einen ganz guten Überblick. Noch bündiger ließe sich sagen, daß, nachdem Deutschland 1918 geköpft wurde, die politische Bestrebung darin bestand, seinen Körper gesund zu erhalten, und dies aufgrund der weltweiten Dynamik zunehmend schwieriger wird. Eine Dynamik freilich, zu welcher ein Rumpf nicht wirklich etwas zu sagen oder beizutragen hat, wiewohl das genaue Gegenteil gerne als Parole propagiert wird, aber noch nicht einmal paradoxerweise, da es durchaus verständlich ist, Kälber Kälbern als Vorbild vorzustellen, auch wenn nicht beabsichtigt ist, ihnen einen auch nur im Ansatz vergleichbaren Kälberstall zu bauen.