von Stefan Scheil
»Am Vormittag, mit dem Premierminister aus dem Parlament zurückgekehrt, sah ich einen Bericht über die Unterredung, die Kirkpatrick mit Heß geführt hat. Nur Eden, Attlee und Beaverbrook werden ihn lesen. Aus dem Bericht geht hervor, daß Heß kein Verräter ist, sondern aufrichtig glaubt, er könne uns davon überzeugen, daß der Krieg nicht zu gewinnen und ein Kompromißfrieden zu erreichen ist.«
Mit diesen Worten faßte Winston Churchills Privatsekretär John Colville am 13. Mai 1941 die neuentstandene Lage treffend zusammen. Nur drei Tage vorher war am 10. Mai mit Rudolf Heß keine geringere Person als der offiziell zweite Mann des nationalsozialistischen Deutschlands auf die britischen Inseln geflogen. Er kam freiwillig und konnte aus gutem Grund annehmen, daß es Verhandlungen geben würde. Davon sollte aus Churchills Sicht möglichst niemand erfahren, die britische Öffentlichkeit sowieso nicht, und von den britischen Verantwortlichen auch nur der innerste Kreis.
Für die englische Regierung war die plötzliche Anwesenheit von Heß Geschenk und Problem zugleich. Einerseits konnte sein Flug als Schwäche in der deutschen Führung dargestellt werden und würde damit einen Ausgleich für die aktuell schlechte Lage in England selbst hergeben können. Im bisherigen Kriegsverlauf hatte man jede Auseinandersetzung mit deutschen Truppen zuverlässig verloren. Gerade in diesen Tagen mußte auch noch Griechenland geräumt werden, nachdem nur Wochen zuvor stolz und öffentlich verkündet worden war, man habe die Deutschen in einen Balkankrieg gezwungen, den sie nicht wollten. Das britische Publikum murrte. Hier konnte die Ankunft von Rudolf Heß das dunkle Bild etwas aufhellen. Die Aussicht auf einen Kompromißfrieden jedoch würde vielen Briten attraktiv vorkommen. Das war ein Problem.
Unter diesen Umständen gab Pressemagnat Lord Beaverbrook nach Lektüre des obengenannten Berichts persönlich die Weisung an die britische Presse aus, über den Heß-Flug »so viele Spekulationen, Gerüchte und Gerede zu verbreiten, wie nur möglich«. Dabei sollte auftragsgemäß der Eindruck erweckt werden, Heß wäre wegen eines Streits in der deutschen Führung und aus Angst um sein Leben nach England geflohen. Da an die offizielle deutsche Version einer geistigen Verwirrung sowieso niemand glaubte, bot man hier immerhin einen halbwegs rationalen Grund für das Geschehen an. Politische Hoffnungen sollten sich in diesem Nebel an Desinformation jedenfalls gar nicht erst bilden. Jedoch erwies sich das Volk wieder einmal als schwer zu täuschen. Trotz aller Fehlinformationen meldete das britische Informationsministerium zahlreiche Briefe, in denen völlig richtig Mutmaßungen darüber angestellt wurden, daß Rudolf Heß nicht ohne plausiblen Grund nach England geflogen sei und es in Wahrheit vorher eben doch Kontakte zwischen englischen und deutschen Stellen gegeben habe.
Mittlerweile weiß man einiges über diese Vorgänge vor dem Mai 1941, wenn auch wie üblich nicht alles. Die in Großbritanniens Archiven weiterhin unverdrossen gesperrten Aktenteile zum »Heß-Flug« werden mit einiger Wahrscheinlichkeit keine wesentlich neuen Erkenntnisse bringen. Ihre Sperrung darf man wohl eher als Ablenkungsmanöver vom Offensichtlichen interpretieren: Die deutschen Angebote für irgendeine Form von Kompromißfrieden waren zwischen 1939 und 1941 zahlreich. Sie blieben alle ohne ernsthafte Antwort, da man in London zu Recht der Meinung war, den Krieg gewinnen zu können, wenn man ihn nur lang genug führe. Europa würde dabei in Schutt und Asche gelegt werden, aber dieser Preis war eben zu zahlen.
Eine interessante Stelle deutet darauf hin, daß sich Rudolf Heß als Geisel zur Verfügung stellen wollte, um Verhandlungen möglich werden zu lassen. Als der Krieg zu Ende ging, saß man im April 1945 in London erneut zusammen. Sekretär Colville notierte, wie Premier Churchill über die möglichen letzten Aktionen Adolf Hitlers spekulierte: »Hitler könnte den Trick von Heß wiederholen und etwa folgendes sagen: ›Ich bin verantwortlich. Übt Rache an mir, aber verschont mein Volk‹.« Dann werde man Hitler eben wieder mit dem Fallschirm über Deutschland abwerfen müssen, meinte die Herzogin von Marlborough.