Zunächst spekulierte man, es handle sich bei den Urhebern und Trägern um JA-Aktivisten; später bekannte sich eine Gruppierung namens „Revolte Rheinland“ dazu, die dem Konflikt-Magazin ein interessantes und in seinen Diagnosen äußerst treffendes Interview dazu gab. Aufschrift des Transparents: „Maskendeals – Pharmalobbyismus – Intensivbetten-Abbau. Die Krise heißt Kapitalismus“.
Als noch spekuliert wurde, die JA sei für die Kampagne verantwortlich, sollen (einem Newsletter von Jungeuropa-Verleger Philip Stein zufolge) tatsächlich Forderungen erklungen sein, Ausschlußverfahren gegen die Betreffenden zu initiieren.
Wenn dem tatsächlich so wäre: Eine peinliche Selbstentlarvung fehlender Debattenkultur ausgerechnet von liberaler Seite, die einer Partei, die für Meinungsfreiheit steht, äußerst schlecht zu Gesicht stünde. Wirtschaftliche Freiheit für Großkonzerne, aber keine diskursive Freiheit zur Kapitalismuskritik? Herzlich willkommen im autoritären Neoliberalismus.
Doch darum soll es hier nicht schwerpunktmäßig gehen. Vielmehr soll der Versuch einer soziologischen Einordnung jener treffenden These gestartet werden – einer These, die mit Blick etwa auf die Erkenntnisse über die Natur des „Great Reset“ mehr als plausibel erscheint.
Eines muß man Klaus Schwab, dem Präsidenten des Weltwirtschaftsforums und Autoren des inzwischen berühmt-berüchtigten Werkes „The Great Reset“ (dt.: „Der große Umbruch“) lassen: er weiß, wie man Leserzahlen generiert. Eben diese gänzlich nüchterne Bedeutung möchte der Autor dieser Zeilen dem schlagzeilenträchtigen Titel, um den sich mittlerweile zahlreiche verschwörungs- und andere Theorien ranken, nämlich zugestehen:
Zunächst einmal haben wir hier einen Ökonomen, einen, wie Niklas Luhmann sagen würde, Fachmann für die Unterscheidung von Gewinn und Verlust, der sein Buch verkaufen will. Was eignet sich da besser, als ein Buch zum Bestseller zu machen, über eben jene Mythen, die sich nun um es ranken – sicherlich auch gespeist aus den im Buch proklamierten Diagnosen und vor allem Prognosen, nicht zuletzt aber auch aus dem programmatischen Titel?
Eben jener Titel jedoch ist an sich schon in Teilen eine Irreführung: Unterstellt er doch einen „Umbruch“, einen „Reset“, eine (assoziativ verstanden plötzliche) Transformation, die vor allem wegen und infolge der Corona-Krise eintrete, nach der dann scheinbar „nichts mehr ist, wie es war“. Tatsächlich jedoch wird vieles danach immer noch so weitergehen, wie es schon (lange) davor begann. In seiner Studie Corona und Profit – Gewinner und Verlierer der Krise (Wissenschaftliche Reihe des Instituts für Staatspolitik, hier als pdf abgelegt) hat Benedikt Kaiser gezeigt, daß hier mitnichten etwas gänzlich Neues passiert, das die Welt gesellschaftsstrukturell und politisch nun ganz überraschend verändern würde.
Tatsächlich wird ein schon seit langem bestehender ökonomischer, politischer und (welt-)gesellschaftlicher Trend bloß verstärkt und beschleunigt – nämlich der der politischen und ökonomischen Globalisierung, der globalen Digitalisierung, der globalen Homogenisierung und der weltweit versuchten Entmündigung ehemals souveräner Nationalstaaten gegenüber ökonomischen „Global Playern“. In der Makrosoziologie und in der Politikwissenschaft spricht man hier, teils beschönigend, von der „Global Governance“, einer (nicht mehr ganz so neuen) Form des globalen Regierens und Regulierens ohne „Regierung“ im klassischen Sinne, stattdessen über Global Player und internationale bzw. Weltorganisationen wie UN, WHO und Co.
Wer sich sozialwissenschaftlich mit diesen Fragen befaßt, der konnte entsprechende Entwicklungen bereits in den 1990er und 2000er Jahren in der entsprechenden politischen und vor allem wissenschaftlichen Literatur nachlesen. Aus dieser Perspektive heraus sind die aktuellen Proteste, ist die aktuell immer sichtbarer werdende kritische Öffentlichkeit für derlei Entwicklungen, so richtig und begründet sie ist, eigentlich um Jahre zu spät dran.
(Das macht es dann, diese Zwischenbemerkung sei gestattet, manchmal persönlich schwer erträglich, wenn Menschen, die sich noch vor wenigen Jahren keinen Pfifferling um jene schon damals sichtbaren Entwicklungen geschert haben, heute jeden als Schlafschaf betiteln, der angesichts dieser Nicht-Neuigkeit trotz fundamentaler Ablehnung dieser Transformation nicht die gleiche Emotionalisierung an den Tag legt wie sie selbst).
Freilich gibt es auch neue Aspekte der Transformation, die sich vor Corona noch nicht in dieser Form und Radikalität abgezeichnet haben. Sie betreffen zunächst vor allem technologische Aspekte, sichtbar etwa an der rasant gestiegenen Geschwindigkeit der Digitalisierung durch die plötzlich hohe Verbreitung von Heimarbeit und all jene Bedarfe, die daraus folgen und die – hier geht es dann in der Tat um einen vorher nicht ganz so schnell, aber nichtdestotrotz erwarteten Umbruch – zu einer strukturellen Verschiebung im Weltwirtschaftssystem geführt haben: Weg von der Macht der Industrie und des Finanzmarktes hin zu „Big Tech“; Silicon Valley statt Wall Street. Eine Verschiebung jedoch, die schon vorher geschah und die durch Corona nur beschleunigt wurde.
Kaiser führt diesen Wandel in seiner Studie eindringlich-plastisch vor Augen, wenn er schreibt:
Die Marktmacht von Big Tech war freilich bereits vor der Zäsur im März 2020 frappierend. Google hätte schon damals aus dem Stand den globalen Taxiservice Uber einkaufen können, ja sogar den New Yorker Investmentbanking-Krösus Goldman Sachs, während Apples Reserven ausreichten, um Samsung oder gar Shell zu übernehmen. (S. 26)
Derartige Prozesse dürften sich nun noch verstärkt haben; ein “plötzlicher Umbruch“ sind sie jedoch gewiß nicht. Corona hat den globalen Eliten Türen geöffnet, hin zu mehr Globalismus bzw. nationalstaatlicher Entmündigung, zu mehr Digitalisierung, auch zu mehr Autoritarismus nach innen, zu mehr Bevormundung und zum „Durchregieren“ mittels Angst- und Panikmache. Die Schlüssel zum Öffnen dieser Türen haben sie sich jedoch schon vorher angeeignet.
Insgesamt kann man also sagen: Der Zusammenhang zwischen „großer Transformation“ und Corona ist geringer, als von beiden Seiten des gesellschaftlichen Risses propagiert oder angenommen. Das macht die Transformation jedoch nicht weniger wirkmächtig und nicht weniger problematisch – und nicht weniger einschneidend im soziologisch-gesellschaftstheoretischen Sinne.
In diesem Zusammenhang, der den eigentlichen Kern der hier verschriftlichten Diagnose bildet, ist das inspirierende Transparent, von dem eingangs die Rede war, etwas missverständlich. Maskendeals, Pharmalobbyismus, Intensivbetten-Abbau – dies alles sind zwar beträchtliche Problemerscheinungen des real existierenden Kapitalismus.
Die „Selbstbereicherungsnetzwerke“ (Kaiser), die bei den Maskendeals zu Tage traten (treten?), zeigen die Anfälligkeit unseres politischen und unseres wirtschaftlichen Systems für justiziable wie nicht-justiziable Grauzonen-Korruption. Im Pharma-Lobbyismus kommen, wie in jedem Lobbyismus (der bekanntlich auf EU-Ebene noch weitaus ausgeprägter vorliegt), postdemokratische Strukturen zum Ausdruck, die die Macht des Kapitals über politische Entscheidungsprozesse aufzeigen (spätestens dann, wenn etwa in ein paar Jahren herauskommt, wie viele politische Entscheider von heute an der Impfpropaganda bestens verdient haben oder verdienen – etwa in Form von Sitzen in einschlägigen Vorständen und Aufsichtsräten).
Die derzeit immer wieder sichtbare Unterbrechung von Lieferketten zeigt darüber hinaus noch eine weitere Dimension des globalisierten Kapitalismus, die geeignet ist, verschiedenste Krisen noch massiv zu verstärken – man denke hier etwa an Lieferketten-Unterbrechungen bei dringend benötigten medizinischen Produkten.
Der Intensivbetten-Abbau und die Klinikschließungen der letzten Jahre (ebenfalls eindrücklich dargelegt von Benedikt Kaiser in seiner Studie, S. 10–12) waren Ausdruck einer Unterwerfung des Gesundheitssystems unter die kapitalistische Logik.
Kalkuliert man dies mit ein, so ist es durchaus nicht allzu gewagt die These aufzustellen, daß die hohe Belastung der deutschen Intensivstationen in den bisherigen zwei Jahren der Corona-Krise bei einer massiven Influenza-Welle in ähnlicher Form eingetreten wäre, es dabei aber an einer so umfassend-alarmistischen massenmedialen Beobachtung der Situation und Berichterstattung darüber gemangelt hätte – der Grippe fehlt es eben an jenem angsterzeugenden Merkmal der düsteren, unbekannten Variablen, die Corona dank der beständigen Mutationsdrohkulisse für viele noch immer darstellt, trotz der jüngsten endemischen Entwicklungen.
Mit anderen Worten: Die Grundursache für die beständige Befürchtung, unser Gesundheitssystem könne unter Corona zusammenbrechen, ist nicht eine gefährliche Seuche, sondern die Unterwerfung des Gesundheitssystems unter ökonomische Logik von Gewinn und Verlust. Eine Erkenntnis, die zu problematisieren der AfD wie der JA gut zu Gesicht stünde – nicht nur, weil es kein anderer tut (die Altparteien haben sich bekanntlich gänzlich auf das „Covid als gefährliche Seuche“-Narrativ eingelassen), sondern auch, weil es spürbare, von Zahlen gedeckte, kritische und zugleich sozialpatriotisch akzentuierte Argumente in die Debatte brächte, die vom Establishment zumindest weniger ignoriert und diskreditiert werden können als die gängigen Verschwörungsnarrative.
Mitleser2
Richtig ist, dass große Teile des Gesundheitssystems unter die ökonomische Logik von Gewinn und Verlust geraten sind, mit allen schädlichen Auswirkungen. Das ist aber ein Teilaspekt; was ist positiv am öffentlich-rechtlichen Rundfunk? Niemand braucht ein staatliches Telefonsystem, usw. Man sollte also das Kind nicht mit dem Bade ausschütten. Die sozialpatriotische Sicht, die m. E. Kapitalismus mit Neoliberalismus gleichsetzt, sieht den Markt in fast allen Belangen nur noch kritisch. Dabei hatten wir mal ein durchaus erfolgreiches Konstrukt, das sich "Soziale Marktwirtschaft" nannte. Warum nicht dorthin zurückkehren, statt quasi-sozialistische Strukturen großflächig anzustreben?