Dann: all die häßlichen Klamotten aus den 80er Jahren, die irgendwer (ich glaube: ich) aufbewahrt hatte für potentielle Urenkel. 400-Teile-Puzzles, von denen nur noch 377 Teile anwesend waren. Jeder Mensch mit ordentlich Stauraum wird ähnliches berichten können. Es geht hier nicht um ein paar große Tüten – es geht um Containermaßstäbe!
Ich habe in den vergangenen Jahren häufig ausgemistet. Nicht nur den eigenen Bestand. Eine wohlhabende Bekannte von mir besitzt zahlreiche Wohnungen. Immer stirbt irgendwer ohne Nachkommen. Die Bekannte lädt dann mich ein: „Nimm Dir, was Du brauchen kannst.“
Ich werde nie mehr im Leben Spülmittel und Reiniger aller Art kaufen müssen. Die Deutschen scheinen hierbei auf einen soliden Bestand wertzulegen. Meiner ist gedeckt.
Ich kenne das durchschnittlich Zurückgelassene der Gestorbenen ziemlich gut. Ich kenne den Geruch und den Staub in Wohnungen von Alten genau.
Stets finde ich spezielle Vorlieben: Edelsteine. Eine Eulensammlung. Eine Elefantensammlung. 250 Ausgaben der „Neuen Revue“ mit schlüpfrigem Inhalt. 180 Parfumpröbchen der Jahre 1991- 2002. Schlager-CDs.
Häufig, fast immer bei alten Leuten: „medizinisches“ Zubehör, das nie benutzt, aber (unausgepackt) vorgehalten wurde: Erste-Hilfe-Kits noch und nöcher, Blutdruckmeßgeräte, Coolpacks, Kühl- und Wärmesalben, Mullbinden für jeden Zweck und in jeder Größe, Rheumapflaster, Keilkissen, Lenden‑, Knie- und Ellbogenwärmer, Massageaccessoires ohne Ende. Wenn Lidl/Aldi etc. „Gesundheitsbedarf“ anbieten, greifen die Leute offenkundig wie besinnungslos zu.
Ich liebe es, in solchem Fundus zu rühren. Natürlich komme ich mir dabei auch indiskret vor und schäme mich ein wenig. Es ist ein postmortaler Übergriff. Aber im Kopf entstehen dabei ganze Romane. Ich schlüpfe in das Leben nun toter Menschen und male es mir aus. (Logisch spreche ich ein Gebet für die Seelen.)
Neulich war ich in einer Wohnung, wo im Wohnzimmer ein großer Blutfleck sichtbar war: Der achtzigjährige Mieter war gestürzt und hatte sich schwer am Glastisch verletzt. Als man ihn fand, war er schon einige Tage tot.
Stückweise erfuhr ich seine Lebensgeschichte: Draufgänger, nie für die Familie da. Nach der Scheidung haben sich auch die Kinder von ihm losgesagt; es hieß, er verprasste sein Geld mit diversen Geliebten. Diese Wohnung war für mich ein Spannungsroman. Letztlich sah ich den alten Herren direkt vor mir: Den Kettenraucher, den Münzensammler, den Mann, der wertiges Schuhwerk bevorzugte und auch reparieren ließ, der selbst sehr romantisch malte, aber Unmengen an Bildbänden zur „Modernen Kunst“ hortete – und der eben… libidinös war.
Allerdings fand ich auch hier all dies („kleinster gemeinsamer Nenner“), was ich in den vergangenen Jahren bei meinen verstorbenen und weniger kunstsinnigen Tanten und Onkel fand:
So viel nie Ausgepacktes. So viel reine Konsumscheiße – hergestellt, um vernichtet zu werden: Socken, massenweise. Immer mit Angebotsetikett. Hemden, dito. Und der ganze Tchibo-Mist: elektronischer Fliegenwedler, beheizbares Rückenkissen, Tubenpresser oder Katzenzahnfleischspielzeug.
Kein Mensch braucht das alles. Aber die Ansprache klang so verführerisch… „Kennen Sie es auch, wenn der Rest in der Tube sich einfach sträubt?“
Soeben habe ich bei meinen eigenen Eltern ausgemistet. Nein, hier ist niemand gestorben! Es war eben Aufräumzeit. Meine Mutter ist nach einem Schlaganfall (kurz nach dem „Booster“ übrigens) seit nun sechs Wochen unglücklich außer Haus.
Es handelt sich bei meinen Eltern um Eigenheimbesitzer mit massig Stauraum. Tatsächlich sammelt mein Vater ( ein 83jähriger, der aber als Vereinssportler im Tischtennis jeden jüngeren Nichtvereinssportler besiegt, jede Wette!) die Drehverschlüsse von Weinflaschen. Das ist bloß ein Beispiel. Er sammelt viel: 165 Sportpokale aus verschiedenen Disziplinen (auch Kegeln und Fußball). Aber auch Flaschenöffner. Und Aufkleber. Und Kerzen. Und Uhren. Und Batterien. Und Trinkgläser (mindestens hundert Exemplare: wer mag je soviel trinken?). Und Zeitungsausschnitte. Überhaupt alles, was mit seinen beiden Heimaten Rumpenheim (Stadtteil von Offenbach) und Kunzendorf/Niederschlesien zu tun hat.
Ich mag dieses viele Kubikmeter zählende Sammelsurium gelten lassen, weil es auf eine bestimmte Art „Seele“ hat. Aber bereits hier: welch Überfluß!
Anders schaut es aus, wenn ich das Konvolut meiner Mutter überschaue. Die schimpft seit je über die raumgreifende Sammelleidenschaft ihres Mannes und ist unzufrieden, wenn wir Töchter ihr nicht ordentlich beipflichten. (Natürlich tun wir das!)
Die Mutter, so zeigte es sich eben, hat vor allem Klamotten angehäuft. Beim Ausmisten packte mich ein Grauen: Mindestens 20 „Shorts“, die sichtbar nie auch nur ein einziges Mal getragen wurden und niemals getragen werden. Ähnlich sieht es bei den „Shirts“ aus – die Mama geht seit mindestens zwanzig Jahren nicht mehr ärmellos. Aber ich finde über ein Dutzend ärmelloser Shirts samt anhängendem Preisschild. Teils noch in D‑Mark.
Mit Aldi oder Lidl hat das nichts zu tun. Es sind keine preisgünstigen Stücke (was es in meinen Augen nicht besser macht).
Kataloge von „Klingel“, Bader“, „Witt Weiden“ etc. müssen derart verführerisch sein, daß sie selbst Frauen jenseits des Modealters zu Bestellungen verlocken.
Auf mich wirkt es, pardon, pervers.
Wer braucht, bitte, 17 Schlafanzüge? Oder 41 Hosen, von denen nur fünf oder sechs mehr als einmal getragen wurden?
Ich sehe mich in einem Zweifrontenkrieg. Auch bei zweien meiner Töchter platzt nämlich der Kleiderschrank, auch wenn es da weitgehend um „Second-Hand“ geht. Hier fruchtet Aufklärung immerhin noch. Ich habe viel Zeit & Mühe aufgewendet, um sie, die Töchter, zu überzeugen, wie „Mode“ funktioniert und wer die Opfer (in China, Kambodscha, Bangladesch) dieser globalen Textilindustrie sind. Ich sehe eine deutliche Besserung!
Ich habe bei meinen Eltern auch Lebensmittel ausgemistet. Etwa 80 teils seit vielen Jahren abgelaufene Produkte wanderten nun in meinen Beritt. Wir essen Reis und trinken auch Kaffee, der längst „abgelaufen“ ist. Das Motto „schauen-riechen-schmecken“ bleibt gültig.
Wenn „Melitta“-Kaffee im Angebot ist, kaufen Mama und Papa stets fünf Packungen. Mittlerweile liegen im Keller 37 Kaffeepackungen. Ein Gutteil ist „abgelaufen“.
Dasselbe gilt für x- andere Produkte. Milchreis, Klöße, Reis.
Man sagt: Das ist halt die Kriegsgeneration. Die denken immer, es könnte mal knapp werden. Die bunkern. Die schaffen Vorrat.
Hierzu ein deutliches Jein. Wir haben es bei den Vierzigerjahrgängen mit einer Generation zu tun, die zwar auch Armut & Not kannte, die aber in einem großartigen Wirtschaftswachstum großgeworden ist. In diesen Wirtschaftswachstumsjahren begann das aktienmäßige Gepoker: Was spare ich, wenn ich JETZT zuschlage? Ich spare 160 Cent, wenn ich den Dreierpack-Shampoo JETZT kaufe und nicht nächste Woche!
Das ist es, was die Leute bewegt. Es geht ihnen gut. Es geht ihnen viel zu gut, um widerständig zu werden. Sonst hätten sie ja keine „verfallenen“ Lebensmittel im Haus. Sonst würden sie ängstlich sortieren und aufbrauchen.
Die Frage, warum „diese vernünftigen Leute“ heute, zu Corona-Zeiten, nicht aufbegehren, ist daher leicht zu beantworten: Es geht ihnen gut! Viel zu gut.
– – –
Folgen Sie der Sezession auf telegram – hier entlang.
Dietrichs Bern
Liebe Frau Kositza,
ich denke Ihre Schlußfolgerung ist falsch. Letztlich geht es um Menschen, denen der Erwerb von Sachen der letzte verbliebene Sinn im Leben war. Daran ist nichts “als zu gut gehen“ zu bezeichnen.
Kositza: Naja, es handelt es sich um Leute mit X -Enkeln und Urenkeln... Man sollte tolerant sein. Aber es nicht übertreiben!