Natürlich – wer läßt sich schon gern fesseln? – war das auch qualvoll. Laut Staatsfunk ist Ecker (*1967) ein „literarischer Geheimtip“. Das mag stimmen. Er hat ungeheuer viel Belletristisches veröffentlich und zahlreiche, auch renommierte Preise abgeräumt. Dennoch kennt man seinen Namen kaum.
In dieser Geschichte funkelt und sprüht es nur so vor Ideenreichtum, Fabulierfreude und Assoziationsvielfalt. Ecker ist einer, der gängige Phrasen, Gefühlsmoden und zeitgenössische Stolpersteine aus dem effeff kennt und exerziert. Hier glänzt alles vor lauter Bescheidwissen und Spott. Eine reine Freude!
Worum geht es? Professor Oluf Sattler ist nach Hunsum (fiktiver Ort, die naheliegende Anmutung „Husum“ wird thematisiert) eingeladen. Auf einer geisteswissenschaftlichen Tagung soll er dort einen zehnminütigen Impulsvortrag halten, um (so ist es halt heute im Wissenschaftsbetrieb!) Fördergelder abzustauben.
Als er losfährt, liegen seine Frau und das Baby krank darnieder. Und eigentlich müßte Jasper, der große Sohn, von der Klassenfahrt abgeholt werden. Prof. Oluf Sattler fährt dennoch los. Sein schlechtes Gewissen gegenüber den familiären Verpflichtungen wird ihn über den Hauptteil der Handlung nicht verlassen.
Originellerweise ist dieser Roman in der zweiten Person Singular verfaßt:
„Du nickst geistesabwesend, aber nicht unfreundlich zurück und nimmst das Handy aus der Jackentasche.“
Oluf Sattler reist also medioker-geschäftig nach Hunsum und versucht dabei so pausen- wie erfolglos, sein zurückgelassenes Weibchen zu erreichen. Das geht aber nicht dran, an den Hörer. Es gibt halt auch Probleme mit Sattlers Handy. Er schildert sie vorzüglich und mit hohem Wiedererkennungswert.
Hunderte Gedanken queren über Tage Sattlers Hirn. Was hat es eigentlich mit diesem Poster auf sich, das Jasper über sein Bett gehängt hat? Der „schwarze Typ“ dort hat sich tatsächlich Anne Frank ins Gesicht tätowiert! Was soll das nun?
Genau genommen hat der Typ kein Anne-Frank-Porträt im Gesicht, sondern dessen rechte Hälfte wird komplett von einem unbeholfenen, aber bemüht realistischen Porträt von Anne Frank eingenommen. Wann, fragst du dich, habe ich Jasper verloren? Der Junge weiß sicherlich nicht, wen sich der Typ da hat ins Gesicht tätowieren lassen. Woher auch?
Professor Sattler steht vor vielerlei Rätseln, die ihn vor seinem karrieremäßig so wichtigen Hunsum-Vortrag umtreiben.
Dieser Vortrag, in dem er sich gegen dekonstruktivistische französische Modephilosophen wendet, wird schließlich mit, ja, eisigem Applaus quittiert. Sattler spricht ja völlig gegen alle Konventionen! Wie kann er es wagen? Er wird ja wohl kein Reaktionär sein?
Star des Tagungswochenendes ist hingegen Charles Olivier Charmineaux, ein boomender Modephilosoph und Suhrkamp-Autor:. Wir dürfen ihn hier (es finden sich im Roman zahlreiche wunderbare Beispiele) zitieren:
Kunst ist das Sprechende, das dem Schweigen des Seins entgegensteht. Kunst ist der Feind des Seins und als Dasein dennoch dem Sein untergeordnet. Kunst ist daher das Geröllhafte, das wir in sommerleeren Flußbetten finden, was auf ein Sein verweist, das im Frühling und Herbst strömt, aber unter der Sommersonne nicht vorhanden ist.
Dieses zeitgenössische Gedresche und Geschwurbel ist hier äußerst kunstsinnig verpackt. Man liest diesen Roman mit leisen Jauchzern! Soviel schneidende Ironie, soviel satter Sarkasmus!
Unserem armen Herrn Oluf wird es gelingen, den smarten Herrn Charmineaux, ja – zu erpressen. Die beiden haben nämlich eine gemeinsame Vergangenheit. Sie sind einst über eine Leiche – jung, weiblich, ledig – gegangen. Das ist die Nebengeschichte aus Sattlers und Charmineaux’ Jugend.
Ein wenig Wasser muß zuletzt doch noch in den Wein. Kürzlich hörte ich nämlich eine Radiosendung, in der es auch um „Schreiben & Trinken“ ging. Eine Erfolgsautorin (Krimi) verkündete ihr Credo (gültig, wie ich meine) sinngemäß: „Schreibe im Rausch, lektoriere nüchtern.“
Ich hätte mich hier gern als Lektorin betätigt, denn hier erscheint genau dies rauschhaft versäumt worden sein. Dann hätte ich in der Summe etwa 40 betrunkene Seiten gestrichen. Oder gar 50? Dann – mit diesen Streichungen – wäre es, wie ich meine, ein zeitgenössischer 1a-Roman geworden. So ist es halt nur eine glatte Zwei. Eigentlich schade. Soviel Potential!
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Christopher Ecker: Herr Oluf in Hunsum. Halle: Mitteldeutscher Verlag 2022, 230 S., 20 €.
RMH
Ich musste jetzt spontan an den Bericht/ Essay "Leichenschmaus in Loccum" von Jörg Fauser denken, auch wenn es da um ein ganz anderes Thema geht. Aber die Reise zu einem Fachseminar und das, was da abläuft, ist oft etwa seltsames.
Das Fehlen eines guten Lektoriats merkt man heutzutage auch daran, dass sich Schreib- und offensichtliche Übersetzungsfehler selbst bei auflagenstarken Autoren finden, wo eigentlich das Budget für so etwas vorhanden sein sollte (aktuelles Beispiel nenne ich nicht, um die Diskussion nicht abzulenken). Und je höher der Sockel ist, auf dem der Autor steht, um so weniger wird ein Lektor den Mumm haben, zu kürzen bzw. wird er oft keinen Erfolg damit haben.