Sind es also materielle Verteilungsfragen oder kulturelle Konfliktlinien oder sogar beides, was den relativen Erfolg rechter Bewegungen und Parteien in Europa erklärt?
Folgender Tweet von Linus Westheuser, Postdoktorand der Politikwissenschaften an der Berliner Humboldt-Universität, ließ mir diese grundsätzlichen Fragen wieder einmal in den Kopf schießen:
Interessanter Schnipsel aus der GLES-Nachwahlbefragung: Unter denen, die sich selbst in der oberen Mittelschicht einstuften, kamen die Jamaika-Parteien 🇯🇲 auf satte 61%. In der “Arbeiterschicht” waren es gerade mal 24%. pic.twitter.com/QOQd4Vmf3b
— Linus Westheuser (@LWestheuser) February 9, 2022
61 Prozent in der oberen Mittelschicht für Jamaika und nicht weniger beachtliche 57 Prozent für die Ampel ist ein starkes Zeichen dafür, daß die linksliberale Politik der Etablierten im deutschen Bürgertum auf Gegenliebe stößt bzw. gerade dort auf breite Unterstützung setzen kann: Dieses Wählerspektrum ist Träger des »kognitiven Kapitalismus«, der für die Postmoderne prägend ist. Auch im Mittelbau der »mittleren Mittelschicht« ist die Ampel gut gelitten. Demgegenüber sehen sich die Wähler der AfD eher als Teil der unteren Mittel- und der Arbeiterschicht: Das Schielen der Alternative auf das von ihr idealisierte Bürgertum wird wohl weiterhin erfolglos bleiben.
Bereits aus diesem »Schnipsel« lassen sich unzählige weitere Fragen aus den oben aufgeworfenen ableiten:
Entlang welcher sozioökonomischer Konfliktlinien formiert sich die Rechte im 21. Jahrhundert? Was unterscheidet unsere heutige Ausgangslage von der der Rechten Anfang des 20. Jahrhunderts? An welchem Punkt des Geschichtsverlaufs stehen wir und welchen politischen Entwurf haben wir als Alternative zum liberalen Status quo zu formulieren, der auf Basis des Hier-und-Jetzt eine tragfähige, generationenübergreifende Ordnung gewährleisten kann? Schlußendlich: Welche Politik machen?
Diese Fragen werden innerhalb des neurechten Lagers durchaus gestellt, doch ihre Beantwortung fällt keinesfalls einheitlich aus. Nicht selten hapert es bereits an einer konsistenten Beschreibung des Ist-Zustands. Ein gemeinsamer meta-politischer Rahmen »als eine politische Lagebeurteilung, die von der Frage ausgehen muß, wer der Feind ist, wo er steht und mit welchen Mitteln er den Kampf führt« (Erik Lehnert), kann auf dieser Basis nur schwerlich gesetzt werden.
Speziell die AfD macht den Eindruck, entlang dieser Fragen hin- und her zu schwanken, gar zu irrlichtern. Gestartet als »Professorenpartei« von Ökonomen, die sich über die Euro-Kritik definierte, vollzog sie einen grundlegenden Wandel. Ihr nationalliberaler Urimpuls wurde um (sozial-)konservative Aspekte erweitert, ohne die sie zweifellos nicht die Wahlerfolge hätte erzielen können, die sich seit dieser ideologischen Verschiebung eingestellt haben.
Die Zeichen der Zeit waren andere, als es sich Bernd Lucke und Hans-Olaf Henkel gedacht hatten. Wie die Erfolglosigkeit der AfD-Abspaltungen Liberal-Konservative Reformer und Die blaue Partei gezeigt haben, besteht für eine moderat konservative Kraft mit einer betont liberalen Wirtschaftspolitik kein Bedarf im deutschen Parteienspektrum.
Zum einen finden sich diese Positionen teils noch in den etablierten Parteien, wenn auch auf verlorenem Posten, zum anderen scheint es, daß die Bundesrepublik sich fortentwickelt hat und mit ihr das »konservative« Bürgertum, das Lucke und Henckel stets adressiert hatten. Abseits einzelner Dinosaurier existiert es in seiner ehemaligen Form nicht mehr; das heutige Bürgertum erbringt seinen Dienst vielmehr als linksliberale Stütze der BRD (siehe GLES-»Schnipsel«).
Es fehlte diesem staubigen Projekt einer guten alten Industrie-BRD der Wirtschaftswunderjahre, quasi dem zur klassischen Sozialdemokratie komplementären Arbeitgeberideal, schlicht das Substrat. Es ist aus der Zeit gefallen; die sozioökonomische Realität, auf der es fußt, war ein Durchlaufstadium auf dem Weg zur Dienstleistungsgesellschaft bzw. der durch den »kognitiven Kapitalismus« bestimmten Wissensökonomie.
SiN-Autor Daniel Fiß schneidet diese Gegebenheit – er verwendet dabei die Begrifflichkeit des »historischen Momentums« – anläßlich der Causa Meuthen mit seinem Feldzug Blog auf Twitter indirekt an:
Meuthens Austritt und Reputationsmanagement ist eigentlich noch erbärmlicher als jenes von Lucke und Petry. Lucke hatte offenkundig wirklich andere Vorstellungen von der AfD und war sich des historischen Momentums und der politischen Chancen dieser Partei nicht bewusst.
— Feldzug Blog (@Feldzug2) February 10, 2022
Dieses »historische Momentum« der AfD ergibt sich derweil aus den bereits erwähnten sozioökonomischen Konfliktlinien, die sie abbildet bzw. die sich in ihr kanalisieren. In der Politischen Soziologie – Fachgebiet des eingangs zitierten Westheusers – bezeichnet man diese Konfliktlinien, basierend auf den Arbeiten von Seymour Martin Lipset und Stein Rokkan aus den 1970ern, als cleavages.
Nach Lipset und Rokkan existieren die cleavages Kapital vs. Arbeit, Kirche vs. Staat, Stadt vs. Land und Zentrum vs. Peripherie. Entlang dieser Konfliktlinien hätten sich die europäischen Parteiensysteme des ausgehenden 19. Jahrhunderts herausgebildet und formierten sich weiterhin anhand dieser.
Indessen kamen zuerst durch die Entstehung der Grünen und nun am Aufkommen und Erfolg »rechtspopulistischer« Parteien in den letzten Jahren in der Politikwissenschaft Zweifel auf, ob die cleavage-Theorie von Lipset und Rokkan zumindest hinsichtlich der existierenden cleavages noch zutreffe. Verschiedene Definitionen neuer cleavages machen die Runde: Globalisierungsgewinner vs. Globalisierungsverlierer (vergleichbar mit David Goodharts Somewheres & Anywheres) oder der auf die Neuen Sozialen Bewegungen gemünzte Widerpart aus Materialismus vs. Post-Materialismus.
Ungeachtet der Diskussion um die neuen cleavages des ausgehenden 20. und noch jungen 21. Jahrhunderts bleibt ein Aspekt der Theorie von Lipset und Rokkan gesetzt: Will sich eine Partei dauerhaft festsetzen, muß sie mindesten einen oder im besten Fall sogar mehrere cleavages verkörpern.
Folgerichtig sind die cleavages für die AfD von erheblicher Relevanz: Als Ein-Themen-Partei, die sich lediglich um die Eurofrage gedreht, also keine der grundlegenden Konfliktlinien abgebildet hätte, wäre sie in dem Moment in der Bedeutungslosigkeit verschwunden, in dem das Thema »Euro« zur Randnotiz wurde. Durch den Wandel von der auf die Euro-Politik fokussierten »Professorenpartei« zur dezidiert konservativen Kraft hat sie diesen notwendigen Schritt bereits vollzogen und die Voraussetzungen geschaffen, auch im nächsten Bundestag wieder vertreten zu sein.
Die Versuche, eine eigene Sozialpolitik vorzulegen, sind weiterer Ausdruck, die im Volk vorhandenen sozioökonomischen Konfliktlinien auf politischer Ebene zu artikulieren und zu vertreten. Doch besonders anhand des Ringens um die Sozialpolitik in der Partei zeigt sich, daß die AfD sich nicht darüber im klaren zu sein scheint, welche/r cleavage/s für sie nun konstituierend ist/sind. Der »gärige Haufen« ist vor allem deswegen so »gärig«, da in ihm immer noch miteinander konkurrierende Weltbilder über die Dominanz in der Partei kämpfen.
Zwar haben die Gallionsfiguren der Anfangstage das Schiff verlassen, ihre Ansichten sind damit aber keineswegs vollständig aus der Partei verschwunden. Fortwährende, an Distanzierungen gekoppelte Fraktionsaustritte dieses »bürgerlichen« Lagers sowie die befremdliche Diskrepanz zwischen Bundesvorstand und wesentlichen Teilen der eigenen Partei legen darüber Zeugnis ab. Es ist eine andauernde Identitätskrise.
Dabei ist diese »Selbstfindung« entscheidend dafür, ob die Partei die Kräfte entwickeln kann, Deutschland Stück für Stück neu zu prägen. Und Westheusers Daten drängen zum wiederholten Mal den Schluß auf, daß diese politische Wirkmächtigkeit nicht in den bürgerlichen Schichten zu finden ist, die man bspw. in Hamburg oder Schleswig-Holstein adressiert (die Wahlergebnisse sprechen Bände), und auch nicht im Interesse dieser Schichten liegt.
Vielmehr zeigt sich, daß sie als »politische Kraft des Bewahrenden, gegen die kollektiven Kräfte der Auflösung« vollkommen andere Teile des Volkes gegen den Kosmopolitismus der bürgerlichen Verquickung aus Links- und Neoliberalismus zu verteidigen hat, als man das in manchem Parteigremium gerne wahrhaben möchte. Die soziokulturelle Grundstruktur der Bundesrepublik hat sich im Vergleich zu ihren Anfangstagen fundamental gewandelt und mit ihr die besagten cleavages.
Auszumessen, ob die neue historische Konfliktlinie, die der AfD zur Genese verhalf, nun eher eine ökonomische (siehe bspw. Philip Manow) oder eine kulturelle (siehe bspw. Andreas Reckwitz) ist, das wäre u.a. die genuine Aufgabe einer Parteistiftung: eigene Identität bilden und reproduzieren. Aber das ist wiederum seine ganz eigene Geschichte…
Nach Bernd Lucke und Frauke Petry nun also auch Jörg Meuthen. Es hatte sich abgezeichnet, daß der aus dem Ruhrpott stammende und vor seiner Parteikarriere in Baden lehrende Ökonom der AfD den Rücken zukehren würde.
Seine Handlungen die letzten Monate glichen einem Sabotageakt: Anstatt seine Partei vor den Angriffen von außen zu schützen, befeuerte er diese sogar noch. Meuthen will zurück, zurück in den warmen Schoß des Establishments und das um jeden Preis.
Keine Talkshow und keine Distanzierung läßt er aus. Dabei ist ihm nichts zu peinlich. Ohne Scham versucht er sich reinzuwaschen. Seine Rede in Schnellroda, nur einer von etlichen Vorträgen; gefallen habe es ihm dort auch nicht. Sezession-Literaturredakteurin Ellen Kositza brachte es bei Twitter auf den Punkt: »Ein Schlumpf.«
Wir haben auf dem kanal schnellroda Meuthens Lanz-Auftritt seinen warmen Dankesworten im Schäfchen gegenübergestellt:
Günter Maschke ist tot. Einer »der bedeutendsten rechten Intellektuellen der Nachkriegszeit« (Karlheinz Weißmann) ist von uns gegangen. BRD-Philosoph Jürgen Habermas bezeichnete ihn einst als den »einzigen Renegaten der Achtundsechziger-Bewegung«. Dementsprechend zahlreich waren die Nachrufe auf Maschke. Hier zur Übersicht eine Sammlung:
Zum Tod von Günter Maschke – Der freie Renegat (Karlheinz Weißmann)
Nachruf – Thor v. Waldstein über Günter Maschke
Günter Maschke ist tot (Benedikt Kaiser)
Das Politische heißt: Verschwörungen (Interview mit eigentümlich frei aus dem Jahr 2020)
Frank Böckelmann: Zum Tod Günter Maschkes
R.I. P. (Michael Klonovsky)
Günter Maschke 1943 – 2022 (Karolinger)
»Weil niemand mehr brennen will, verdunkelt sich die Welt.«
Mitleser2
Die Frage wäre, wie groß ist die "Arbeiterschicht" als rechtes Potential im Gegensatz zu den "Etablierten im deutschen Bürgertum". Ist nicht zu befürchten, dass sie inzwischen eher zu klein, und vor allem unpolitisch ist?