Er lehrte in Jerewan (Armenien) und übersetzte Schriften von Nietzsche, Rilke und Spengler ins Russische. Im Alter von 30 Jahren erlernte er die deutsche Sprache, um Steiner lesen zu können. Karen Swassjan war 1993/94 Forschungspreisträger der Humboldtstiftung in Bonn. 1997 war er Gastprofessor an der Universität Innsbruck. Seit 1993 lebt er als freier Schriftsteller und Dozent in Basel.
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Die Ukraine im Kräftedreieck Rußland – USA – Europa (Teil 1)
Was Rußland seit Ende 1991 ist und woran es leidet, heißt Karma des Bolschewismus. Die Wurzeln des letzteren scheinen so weit ausgebreitet zu sein, daß Reformen und Umgestaltungen nicht über den Rahmen kosmetischer Effekte hinausgehen. Nur Naivlinge hätten in Gorbatschow oder Jelzin das gesehen, wofür sie sich ausgaben; ihr bolschewistisches Wesen stank zum Himmel, wie sehr sie sich auch anstrengten, um ihren westlichen Dompteuren (von Thаtcher bis Clinton) ein herablassendes Lächeln zu entlocken.
Auch Putin schien einige Zeit in diesem Morast zu stecken; davon zeugen schon zunehmende Konzessionen an die Amerikaner gleich zu Beginn seines Amtsantritts (Beseitigung wichtigster Militärbasen in Vietnam und Kuba, Nato-Beitrittswunsch etc.). Diese fast unglaubliche Chance, die ehemalige Weltmacht sanft und friedlich zu unterjochen, haben die Amerikaner auf eine unfaßbar dumme Weise verspielt, was eine resolute Umorientierung der russischen Außenpolitik zur Folge hatte und seit Putins Auftritt auf der Münchener Konferenz am 10. Februar 2007 einen irreversiblen Charakter angenommen hat.
Dann kam die Zeit entkorkter Flaschen und freigelassener Dschinnen. Der hochfahrende Obama schätzte Rußland als eine «Regionalmacht» ein, während dem Senator John McCain nichts Drolligeres einfiel, als ein Land, dessen einsatzbereite Atomwaffen wohl genügen, den Erdball mehrmals zu pulverisieren, eine «Tankstelle» zu nennen. So hochgeschraubt, außerdem so klar und offen äußerte sich der Haß noch nicht einmal zur Zeit des Kalten Krieges.
Senator Menendez brachte es vor kurzem auf ein Niveau, auf dem das Politische sich nicht mehr vom Pathologischen unterscheiden läßt: «I want all Russians to feel the pain».
Nach dem erfolgreichen Einsatz Rußlands in Syrien und der Wiedergewinnung der Krim begann die Eskalation, die bald unumkehrbar wurde. Von einem bestimmten Moment an fing es an, deutlich und steigend nach Krieg zu riechen: zwischen dem russischen Bären und dem mehrköpfigen Drachen des Westens – und mit dem im Hintergrund emporragenden China, das geduldig wartet, bis die Leichen aller seiner Feinde vorbeischwimmen.
Es gilt, die Ausrichtung der Kräfte durch die folgenden knappen Charakteristika anschaulich zu machen:
DIE USA. – Diese Weltmacht, die noch vor weniger als hundert Jahren nur eine regionale und keine globale Macht war, die ferner ihre beispiellose Erhöhung und Verwandlung zur «Ersten unter den Gleichen» (prima inter pares) innereuropäischen Auseinandersetzungen, vor allem Adolf Hitler höchstselbst, zu verdanken hatte, mußte nach dem Krieg ihre Weltdominanz mit Rußland (alias UdSSR) teilen, was seit George Orwells Essay von 1945 («You and the Atomic Bomb») als Kalter Krieg (Cold War) bezeichnet wurde.
Diese Doppelherrschaft endete erst mit dem Zerfall der UdSSR (1991), und gleichzeitig begann Amerika seinen absoluten Triumph zu feiern, dessen Kehrseite in absehbarer Zukunft Bankrott und Verfall sein würde.
Up the down staircase: Die Treppe, die die USA beschwingt hinaufsprangen, führte ganz einfach hinab. Statt sich an ihrem schnellebigen Triumph zu ergötzen, hätten sie sich davor hüten sollen, These mit Synthese zu verwechseln. Was Not tat, war, endlich zu verstehen, daß sie nach Deutschland 1945 gekommen sind, nicht um Hitler zu stürzen (Hitler war nur ein Vorwand), sondern – tiefer und ganz tief – um Dinge zu lernen, die nur in Deutschland zu lernen waren. Zum Beispiel einige Grundschritte der Dialektik.
Kein auch nur einigermaßen in Hegel bewanderter Berater ließ sich finden, der sie hätte warnen können vor der Mißachtung der elementaren Dialektik. Demnach führt der Weg der These zur Synthese über die Antithese oder, mit Jacob Böhmes Worten: «Aus Ja und Nein bestehen alle Dinge.»
Die elementare Dialektik lehrt: Ein «Ja» gibt es nur insofern, als es ein «Nein» gibt; ohne «Ja» ist «Nein» genauso undenkbar wie «Nein» ohne «Ja». Es wäre ein politisches Meisterwerk gewesen, hätten die Amerikaner bei ihrer Bekämpfung Rußlands dieses «Reich des Bösen», wie sie es nannten, gleichzeitig wie ihren Augapfel gehütet, denn ohne das fremde Böse wäre ihr Gutes gleich Null.
So kam es, daß zahllose US-amerikanische Ratgeber und Experten, ja ganze Institutionen sträflich versäumt haben, der Hegelschen Dialektik eingedenk zu bleiben. Man könnte geneigt sein, an einen Artikel Stalins aus dem Jahre 1930 zu denken, dessen Titel allein schon Bände spricht: «Vor Erfolgen von Schwindel befallen». Denn immer dann, wenn Enthusiasten vom eigenen Erfolg begeistert und entflammt sind, sägen sie an dem Ast, auf dem sie sitzen.
RUSSLAND. – Was für einen Europäer oder Amerikaner schwer bis unmöglich zu verstehen ist, kommt einem Russen so gut wie selbstverständlich vor: daß man nämlich ein ganzes Land nicht nur ausplündern oder zugrunderichten, sondern auch vertrinken kann. Genau das aber geschah im letzten russischen Dezennium des vergangenen Jahrhunderts unter der Herrschaft des Säufers Jelzin, als die einstige Weltmacht nicht nur auf das Niveau der Drittweltländer sank, sondern auch zu einem Appendix Amerikas wurde.
Putin selbst gestand einmal, daß viele Berater in verschiedenen russischen Ämtern CIA-Agenten waren. Es war der Ehrenbürger von Berlin, Gorbatschow, dem seine westlichen Amtskollegen und Freunde mündlich (!) zugesichert haben, daß die Nato ohne Zustimmung des Kremls um keinen Zoll in den Osten vordringen werde – woraufhin der Drang nach Osten nicht lange auf sich warten ließ. Auf einmal wurden Rußlands westliche und nördliche Grenzen von Nato-Staaten umringt, von denen viele als Mitglieder des Warschauer Paktes eingeschlafen und als Nato-Mitglieder aufgewacht waren.
Putin, der seit 2000 dieses Wrack von Staat übernahm, leistete das Unmögliche. Wie auch immer man über ihn urteilen mag, eins ist sicher: Er gab Rußland den Status der Großmacht wieder zurück. Seiner Münchener Rede von 2007 folgte gleich der Georgienkrieg (2008) und später auch die Syrien-Intervention nach. Hiermit begann das Niederbrennen aller Brücken, das seit dem Ukraine-Konflikt (2015) unumkehrbar geworden ist.
Kurz und bildlich gefaßt: Rußland und der Westen prallten wie zwei Köpfe mit voller Wucht aufeinander, von denen der eine darüber in Wut geriet, daß der andere sich noch Kopf nennt und dazu noch die Frechheit hat, ihn respektlos hochzuhalten, während sich der andere gerade vom Minderwertigkeitskomplex erholte, den ihm der erste kurz zuvor erfolgreich suggeriert hat.
EUROPA. – Kein Wunder, daß sich Europa in dieser Konfrontation der beiden Großmächte ohne Zögern den USA anschließt. Seit 1945 war es nur das halbe Europa: Länder diesseits der späteren Berliner Mauer, denen die Länder des Warschauer Paktes gegenüberstanden. Nach 1991 war es ganz Europa.
Als besonders, ja fast pathologisch aggressiv erweisen sich die ehemaligen Satelliten der UdSSR. Vor allem Polen, als hätte es sich nach seiner weiteren (sechsten) Teilung gesehnt. Es macht einen beklemmenden Eindruck, zu beobachten, wie diese frech gewordenen Möpse den alten Elefanten ankläffen und sich in den Kampf stürzen wollen, ganz nach einer lustigen Parabel Nietzsches:
Meine Brüder, sagte der älteste Zwerg, wir sind in Gefahr. Ich verstehe die Attitüde dieses Riesen. Er ist im Begriff, uns anzurieseln. Wenn ein Riese rieselt, gibt es eine Sintflut. Wir sind verloren, wenn er rieselt. Ich rede nicht davon, in welch affreusem Elemente wir da ertrinken.
Problem, sagte der zweite Zwerg, wie verhindert man einen Riesen am Rieseln?
Problem, sagte der dritte Zwerg, wie verhindert man einen Großen, dass er Großes groß tut?
Ich danke, antwortete der älteste Zwerg mit Würde. Hiermit ist das Problem philosophischer genommen, sein Interesse verdoppelt, seine Lösung vorbereitet.
Man muß ihn erschrecken, sagte der vierte Zwerg.
Man muß ihn kitzeln, sagte der fünfte Zwerg.
Man muß ihm in die Fußzehen beißen, sagte der sechste Zwerg.
Tun wir alles zugleich, entschied der Älteste. Ich sehe, wir sind dieser Lage gewachsen. Dieser Riese wird nicht rieseln.»
Vom bulgarischen Kommunistenführer Todor Schiwkow sagte man, sein Telefongerät für die Verbindung mit Breschnew hätte nur den oberen Teil zum Hören, unten aber keinen zum Sprechen gehabt – aus dem Grund nämlich, daß er nur hören, nicht aber selbst etwas sagen durfte.
Im Fall Europas fällt es anders aus. Hier vermissen die Amerikaner ihren eigenen «Todor Schiwkow». «Wen soll ich denn anrufen, wenn ich mit Europa sprechen will?», soll Henry Kissinger einmal gefragt haben. Es kommt dabei nicht darauf an, daß es keine Anwärter auf das Amt «Todor Schiwkow» gibt. Sie gibt es, wenn überhaupt, mehr als genug. Das Problem ist nur, daß sie samt und sonders anonym sind. Bloße Empfänger, bei deren Anblick allein sich einem das alte Plattenlabel „His Master’s Voice“ unwillkürlich aufdrängt.
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Swassjans zweiteiliger Beitrag erscheint in ungekürzter Fassung in der Ausgabe 2/22 der Schweizer Zeitschrift „Agora“.
Rheinlaender
Den Autor scheint in der gegenwärtigen Lage vor allem die Sorge vor einem polnischen Angriff auf Russland zu beschäftigen. Seine Geographiekenntnisse sind auch stark ausbaufähig: Russlands "westliche und nördliche Grenzen" werden nicht "von Nato-Staaten umringt". Ein Blick auf die Landkarte zeigt, dass nur Estland und Lettland als NATO-Staaten an Russland angrenzen, und seine indirekte Beschreibung dieser Kleinstaaten als "pathologisch aggressiv" ist angesichts der militärischen Kräfteverhältnisse und des historischen Geschehens bzw. der sowjetischen Annektion dieser Staaten geradezu absurd. Ich habe hier selten einen Beitrag mit weniger Realitätsbezug gelesen, und dabei war die rationale geopolitische Analyse einst eine Stärke der Rechten.