Sollten wir statt „despektierlich“ besser „kritisch“ sagen? Frappierend bleibt doch, daß es zu gehen scheint. Es gibt denkbar kein größeres Tabuthema als Auschwitz. Der Ort trägt die satanische Krone sämtlicher Menschheitsverbrechen – weltweit und über alle Zeiten.
Dennoch gibt es eine Vielzahl an belletristischen Werken, die den Saum des Unsagbaren deutlich überschreiten. Eine kleine Auswahl: Javier Cercas, Der falsche Überlebende, Tova Reich, Mein Holocaust, Eva Menasse, Quasikristalle (eine der dort versammelten Erzählungen; grandios), Benjamin Stein: Die Leinwand; Iris Hanika; Das Eigentliche.
Oder nehmen wir den atemberaubenden Spielfilm Die Blumen von gestern (2016) des Schriftstellers Chris Kraus. Sie alle nehmen die Erinnerungstragik und das Gedenkmilieu genau aufs Korn.
Die großartige, vielfach preisgekrönte französische Schriftstellerin, Dramaturgin und Drehbuchautorin Yasmina Reza hat diesem Genre ein neues Werk hinzugefügt. Reza (die mit 63 Jahren immer noch den Anhauch eines Topmodels hat) ist jüdische Tochter einer Ungarin und eines Iraners. Sie ist eine Meisterin ihrer Fächer. Sie hat einen untrüglichen Sinn für aktuelle Stimmungen und Mentalitäten und beherrscht vor allem das Doppelbödige, Ambivalente. Insofern nenne ich sie eine Hellseherin.
Ihr neuer Roman Serge ist harter Tobak. Das liegt vor allem an ihrem – soll man sagen: schnoddrigen? – Umgang mit der Erinnerungskultur. Nennen wir es beim Namen: Hier unternehmen drei Geschwister (Serge, der Lebemann; Jean, der Ich-Erzähler und Vermittler und Nana, die gealterte “Woke”) eine Reise nach Auschwitz. Warum? Weil Joséphine, Enkelin einer „Überlebenden“ – und nebenbei Spezialistin für Augenbrauen – sich möglichst dramatisch „ihrer Geschichte“ stellen will.
Es geht mit dem Tod der Großmutter Joséphines los. Die Großmutter war Jüdin. Und zugleich Antisemitin. Für ihren Ehemann war dies ein lebenslanges Kreuz. Er befand:
Wer Israel nicht verehrte – die einzige wirklich einzige Demokratie in der Region! – war antisemitisch. Punkt. Hört nicht auf eure Mutter, sagte er.
Schon dieser winzige Monolog ist in seinem Spott unerhört. Die Kinder wenden dann ein: „Sie ist doch Jüdin.“ Der Vater:
„Das sind die Schlimmsten! Die schlimmsten Antisemiten sind selber Juden! Das müsst ihr lernen.“
Nur in seinem unbändigen Haß gegen „die Kommunisten“ fand das ungleiche Ehepaar zueinander. Serges Tochter Joséphine findet es nun pervers,
„warum Omi sich hat einäschern lassen. Ist doch verrückt, daß sich eine Jüdin einäschern läßt. Die Vorstellung, verbrannt zu werden, ist verrückt, nach allem, was ihre Familie durchgemacht hat.“
Serges Neffe Victor (Sohn von Nana) daraufhin: „Hör auf zu nerven.“ Dann, Joséphine: „Ich habe beschlossen, dieses Jahr nach Osvitz zu fahren.“ [Es ist wohlgemerkt im Original ein Buch in französischer Sprache, EK].
Victor entgegnet launig [kann man wohl unter jüdischen Humor verbuchen, EK]: „Die haben leider zu.“ Serge aber schreit wütend auf:
„AUSCHWITZ! Osvitz!! Wie die französischen Goys!… Lern erstmal, das richtig auszusprechen. Auschwitz! Auschschschwitz… Schhhh…!“
Serge, die titelgebende Figur, der älteste der Geschwister, ist dann aber der Ätzendste und Geschichtsvergessenste, als die vier sich tatsächlich auf ihre „Pilgerreise“ [sic] beziehungsweise „Expedition“ [sic] zum Tatort begeben.
Eigentlich hätte auch Nanas Tochter Margot mitreisen sollen. Sie kann es nicht, weil sie in ihren Abschlußprüfungen steckt. Sie hat, so muß man es mit Yasmine Reza sagen, Auschwitz knapp verpaßt. Nana: „Letzten Dezember wäre sie fast mit ihrer Klasse hingekommen, aber dann war sie nicht auf der Liste.“ Jean: „Na Gott sei Dank!“ Nana: „Wieso?“ Jean: „Ein Witz.“
Es war so. Margot berichtet dem Leser hiervon aus dem Off:
„Im Herbst hatte unser Philosophielehrer, ein depressiver Jude, unsere Klasse zu einem Wettbewerb angemeldet, den die Shoa-Gedenkstätte in Paris organisiert. Wir sollten ein Referat über ein Thema unserer Wahl halten, es musste nur mit den Konzentrationslagern zusammenhängen. Der erste Preis bei diesem Wettbewerb war eine Klassenreise nach Auschwitz. Ich wurde mit zwei anderen Mädchen für dieses Referat ausgewählt, und wir haben diesen Preis gewonnen. Maximal fünfzehn Schülerinnen und Schüler konnten mit, in unserer Klasse waren wir dreißig (….) Weder meine Freundinnen noch ich waren dabei, das fanden wir megaungerecht. Die glücklichen Auserwählten bestiegen um fünf Uhr morgens vor der Schule den Bus. (…) Einige setzten eine Trauermiene auf, ohne zu ahnen, daß sie die für die nächsten achtundvierzig Stunden nonstop beibehalten mußten. Am Tor zum Lager von Auschwitz, als die Schüler und Schülerinnen vor dem berühmten Schriftzug standen, baute er [Lehrer Cerezo, EK] sich neben dem Reiseführer auf, um die Gesichter zu mustern und sicherzugehen, dass auch alle entsetzt dreinschauten. Außerdem begleitete er jede Information, die vom Reiseführer kam, mit einem finsteren Nicken.“
Monsieur Cerezo treibt es in seiner nachgereichten Trauer wirklich weit. Eine Schülerin, die es (Mitte Dezember, kontinentales Klima!) wagt zu frösteln, weist er zurecht: Sie möge sich mal vorstellen wie es sei, hier nackt und durchgefroren zu stehen, bevor „sie ins Gas“ geschickt würde! So duckt der Bewältigungswächter sein Klientel.
Irgendwann wird es der (absolut unverdächtigen) Begleitlehrerin zu viel. Das kam so: Am zweiten Tag verkündete Monsieur Cerezo, nachdem er mit gesenktem Kopf den Ausführungen des Reiseführers gelauscht hatte, mit Grabesstimme: „Sie wurden mit dem Ochsenziemer geschlagen.“ Diese schlichten Worte waren nach all den anderen, ebenso trübsinnigen und übermäßig betonten zu viel, und Madame Hainaut brach in Lachen aus. Ein Lachen, das sie sofort mit ihrem Schal ersticken und als Husten tarnen wollte, aber je mehr sie das versuchte, desto lauter prustete sie, bis schließlich die ganze Gruppe vor den Stufen des Krematoriums lachte.
Bereits auf diesen frühen Seiten ahnt man Yasmina Rezas Ton. Und es geht ja noch weiter. Es geht VIEL weiter. Dies alles ist kunstvoll, darüber herrscht allgemeines Einverständnis. Ist es kühn? Beweist eine grandiose Ausnahmeautorin damit nicht ungeheuren Mut?
Man staunt. Staunt sehr. Einige Pressestimmen aus dem Hauptstrom:
„Dieses meisterliche Buch gehört zum Besten, was es derzeit zu lesen gibt.“ (Nils Minkmar, Süddeutsche Zeitung)
Oder hier:
“Yasmina Reza macht in ihrem Roman ‘Serge’ vor keinem Tabu halt … sie besticht wie gewohnt mit skurrilem Detailwitz, absurden Dialogen und urkomischen Beobachtungen.” (Christoph Vormweg, Deutschlandfunkt Büchermarkt)
Oder hier:
“ ‘Serge’ ist ein witziges, ein gewitztes Buch, und man kann nur bewundern, mit welchem Schwung und welcher Gewandtheit die Übersetzer Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel das erneut transportieren.” (Judith von Sternburg, Frankfurter Rundschau)
Und hier:
Rezas schnelle Dialoge, ihr scharfer Blick, ihr bitterer Humor: Serge ist ein Roman zum in-einem-Zug lesen, zum beiseite Kichern, zum Schluckenmüssen.“ (Judith Heitkamp, Bayern 2 kulturWelt)
Oder, ganz prominent, hier:
„Yasmina Reza hatte die verrückteste Idee des Jahres: eine Komödie über Auschwitz zu schreiben.“ Frédéric Beigbeder
Zu sagen, all diese Urteile aus dem Mainstream seien erstaunlich, wäre glatt untertrieben. Es hinterläßt mich völlig ahnungslos, warum all diese Grand Dames und Grand Monsieurs der Literaturkritik (denn dieser Roman wird von der Elite und nicht vom Untergrund des Literaturbetriebs gefeiert) diesen Text preisen.
Denn es geht ja, ich sagte es, noch weiter. Die drei Geschwister besichtigen (unter bauchnabelfreien etc. Touristen) die Schreckensstätte.
Im Vergasungsraum gibt es vielfältiges Kameraklicken, logisch. Nana sagt „schrecklich“. Sie sagt „unfaßbar“. Serge zündet sich eine Zigarette an. Jean, der „Neutrale“, fragt sich nüchtern, ob jetzt bei jeder Gelegenheit die Phrasen „schrecklich, unfassbar usw.“ kämen?
Unsere Besuchergruppe betritt dann einen Raum, wo ein Schild Vergesst nicht verkündet. Die Botschaft ist akustisch untermalt. Es klingt nach einem Zug. Reza /Jean befinden hierzu:
„Die Kuratoren haben sich wohl gesagt: Geben wir dem Besuch mit einem Eisenbahn-Sound eine diskret dramatische Note.“
Serge und Jean bleiben irritiert:
„Vergesst nicht. Aber warum? Um es nicht wieder zu tun? Aber du wirst es wieder tun. Ein Wissen, das nicht zutiefst mit einem selbst verbunden ist, bleibt folgenlos Von der Erinnerung ist nichts zu erwarten. Dieser Fetischismus der Erinnerung ist bloßer Schein.“
Mehr mag ich nicht „spoilern“. Es gibt eine Vielzahl an weiteren Stellen. Dieser Roman, dieser Serge: Sie sind so krass. Ich wundere mich, wie sehr sie goutiert werden. Ich rate jedenfalls dringend zur Lektüre:
Yasmine Reza. Serge, 207 Seiten, 22 €.
Lumi
Das ist erstaunlich. Es muß abgesegnet sein. Anders lassen sich diese Rezensionen nicht erklären.
Aber wir erleben ja auch gerade eine Zeitenwende. Der dritte Weltkrieg hat begonnen. Vielleicht wird auch das absolute Böse redefiniert. Nach Osten verschoben. Ich habe schon etliche Hinweise in diese Richtung gesehen.
In diesem Zuge könnte auch rehabilitiert werden, was wir alle für tabu halten. Mit der entsprechenden Symbolik schmücken sich ja die nationalistischen Bataillone (Azov/Asow).
Es werden nun Freiwillige gesucht. Eine Fremdenlegion soll her. Das wird eine Waffen SS. Patrioten aller Länder können für die gute Sache antreten. Es wird sicher auch gut bezahlt werden.
Der Krieg ist auf Jahre angelegt. Das wurde gestern deutlich. Alle Brücken abgebrochen. Es gibt kein Zurück.
Er scheint zudem als Vernichtungskrieg konzipiert.
Er kann sich später nach Fernost ausweiten.
Er ist wohl seit mindestens sieben Jahren sorgfältig vorbereitet worden. Auf sehr vielen Fronten. Wir haben das kaum mitbekommen.
Wir haben noch September '39 und schon Januar '43. Aber auch damals war von Anfang an Casablanca.
Ich habe versucht, das sachlich zu schreiben. Dabei ist unfaßbar, was geschieht.