Mykola, Jahrgang 1983, hatte für die deutsche Übersetzung der ukrainischen Programmschrift Natiokratie ein Vorwort verfaßt und die Bedeutung dieses Buchs für das Selbstverständnis seiner Nation erläutert. Er fiel durch Artilleriebeschuß. Zwei Wochen zuvor, am 3. März, war Mykolas Vater gefallen, einundsechzigjährig, als Freiwilliger während der Verteidigung Charkows.
Der Krieg in der Ukraine rückt auf diese Weise näher, weil jemand, der noch vor wenigen Monaten oder Wochen als Wissenschaftler und Publizist gearbeitet und Pläne für Projekte gehabt hatte, seinen Schreibtisch verließ, um etwas kaum Vorstellbares zu tun: zu kämpfen und einen frühen Tod in Kauf zu nehmen.
Olena Semenyaka ist Koordinatorin der Intermarium Support Group, einer nichtstaatlichen Initiative, gegründet vom Nationalkorps, dessen Sprecherin wiederum Semenyaka ist. Sie wird an Männer wie die der Familie Krawtschenko gedacht haben, als sie einige unserer Fragen beantwortete, zwei Wochen nach dem russischen Angriff:
Rußland wird weitermachen bis zum Ende, und die Ukraine wird nicht aufhören bis zur völligen Wiederherstellung ihrer territorialen Integrität, die Krim eingeschlossen. Ein diplomatischer Weg mit beiderseitigen Zugeständnissen ist nicht mehr möglich. Wir warten auf die Belagerung Kiews, auch wenn die Stadt, die am meisten leidet und dringend Verstärkung braucht, Mariupol ist. Wir haben so unsere Zweifel, daß der Nachschub, der von den Russen seit den Friedensgesprächen zusammengezogen wurde, von großer Bedeutung ist. Ab und an gibt es Versuche, unsere Verteidigungslinien zu durchbrechen, oder es fliegt eine Drohne über die Hauptstadt, aber es wird Rußland kaum gelingen, eine große Stadt wirklich unter Kontrolle zu bringen.
Von woher kam die Mail? Vielleicht schrieb Frau Semenyaka aus Kiew, vielleicht von irgendeinem verborgenen Ort aus, wir wissen es nicht, und sie tut gut daran, ihren Aufenthaltsort nicht zu verraten. Jedenfalls klingt, was sie schrieb, in der Einschätzung der Lage realistisch, sprachlich entschlossen:
Der wichtigste Grund des erfolgreichen Widerstands, der Rußland die Zeit stiehlt und die zweite Mobilisierungswelle erzwingt, ist die hohe Motivation des ukrainischen Militärs und der Zivilbevölkerung. Es ist sinnlos, die Ukraine zu ›denazifizieren‹, wie Putin es nennt, da die gesamte Nation, nicht nur ein paar mystische ›nationalistische Führer‹, entschieden den Besatzern entgegentritt.
Kampf, Ausharren, Flucht, Tod – elementare, aufgezwungene Daseinsbilder, etwas anderes gibt es dort nicht mehr, und so geschehen am östlichen Rand Europas Dinge, die in unserer deutschen Welt nicht mehr vorkommen.
Wir verlassen unsere Schreibtische, wenn überhaupt, um gegen eine Fehlentwicklung zu demonstrieren, gegen Einschränkungen unserer Freiheit, gegen die mit medizinischer Notwendigkeit begründete Übergriffigkeit des Staates, gegen Überfremdung oder gegen den Massenmord an ungeborenem Leben.
Wir haben aber, wenn wir aus freien Stücken auf die Straße gehen, kaum etwas zu befürchten, jedenfalls keinen Beschuß und kein Gefecht auf Leben und Tod, allenfalls verbalen Unflat von der anderen Straßenseite her und behördliche Registrierung. Danach gehen wir wieder nach Hause und stellen fest, daß wir mehr Teilnehmer gezählt haben als die Polizei und der Spiegel.
Dagegen ist nichts einzuwenden, so ist es hierzulande. Das ist der Vormärz, das ist der Handlungsspielraum hilfloser Bürger nach der Restauration, die Ansammlung von revolutionären Impulsen in einer Zeit abträglicher Stabilität. Es ist die Zeit der Einsicht in Machtverhältnisse, der Ernüchterung und des Zurechtkommens. Und es ist die Zeit des bespöttelten kleinen Glücks, des Rückzugs ins Private, in den überschaubaren, handhabbaren, unmittelbaren Bereich, in Zusammenhänge also, die man überblicken und in denen man sich formend bewegen kann.
Stichelei und Sammlung, Rückzug, kein Verschleiß, Vormärz und Biedermeier – das ist unsere Lage. In ihr muß keine klare Entscheidung fallen, man kann auch lavieren. In sich selbst gegen einen falschen Frieden den Ernstfall auszurufen ist eben etwas anderes, als zu wissen: Diese Stadt, dieses Haus, dieses Fensterloch muß heute und morgen von mir gehalten werden, denn es ist jetzt kein anderer da.
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Nachtrag: Das Kommentariat kommentierte und fragte nach. Könnte es nicht sein, daß sich Fragen erübrigen, wenn Leute mit ihrem Leben bezahlen? Ich schlage mich, indem ich das schildere, nicht auf eine Seite, das kann man meinem ersten Beitrag über den Krieg in der Ukraine entnehmen, weitere Beiträge werden kaum notwendig sein.
Ich schlage mich also nicht auf eine Seite, sondern fange ein, daß Leute vielleicht Proleten, Hooligans und Faschisten sind, vielleicht aggressiv, angeödet und unbürgerlich, vielleicht belesen, fatalistisch und verzweifelt – daß sie aber nicht geflohen sind, sondern jetzt das tun, worüber sie sprachen und woran sie sich entzündeten.
Durchhaltepropaganda, Widerstandsermutigung – was erwarten Sie anderes von Olena Semenyaka? Einen vergrübelten Nachmittag auf dem Zauberberg? Ein hätte, wäre, könnte? Es wird mobilgemacht, es wird gekämpft, mancher fällt. Das kann man beschreiben und mit unserer Lage vergleichen, und man macht es wohl, um zu zeigen, daß man auch dieses Mal nicht in der moralischen Bundesliga mitspielen will, um eine weitere Gut-Böse-Partie auszutragen.
Hajo Blaschke
Ja, dieser Krieg ist wie jeder Krieg grausam. Und wir können jetzt aus Solidarität für die Ukraine frieren, demonstrieren und Hilfe leisten.
Wer hat acht Jahre lang gefroren, demonstriert und Hilfe geleistet, als der ukrainische Staat im Donbass 14000 Bürger seiner eigenen Bevölkerung abgeschlachtet hat? Niemand. Das waren doch nur Russen. Wie Scholz süffisant lächelnd Putin korrigiert hat, war das doch kein Völkermord, da von den Kriterien für Völkermord nur ein einziges Kriterium erfüllt sei. Dreckiger kann man seinen Zynismus nicht zum Ausdruck bringen.
Ob wir das wollen oder nicht, Russland wird in zwei, drei Wochen die Ukraine demilitarisiert und auch mit dem Bandera-Faschismus Schluss gemacht haben.
Wer die Ukraine nicht kennt und nur einseitige Informationen inhaliert, kann das nicht verstehen. Ich habe erlebt und nicht nur einmal, wie Russen in der Ukraine von Ukrainern behandelt worden. Ein Präsident, der im Gegensatz zu den hiesigen Politikern für sein Volk da ist, konnte sich das nicht mehr länger mit ansehen.