Zu den Folgen dieser Störung gehört nicht nur die Infragestellung des Pazifismus als politischen Allheilmittels, sondern vor allem eine eingeengte Sichtweise auf den Krieg in der Ukraine selbst. Analysen, die allen Beteiligten gerecht werden wollen, sind hierzulande kaum noch möglich. Ohne ein eindeutiges Bekenntnis zur Ukraine gilt man als Putin-Versteher, der dessen Krieg befürwortet.
Der Krieg selbst hat dafür gesorgt, daß nicht mehr nach seinen Ursachen gefragt wird, ohne deren Kenntnis wiederum kaum eine dauerhafte Friedensordnung gestiftet werden kann. Das Leid, das der russische Angriff über die ukrainische Bevölkerung gebracht hat, läßt den ukrainischen Staat selbst in einer ahistorischen Unantastbarkeit erscheinen, die er nie besessen hat.
Es dürfte klar sein, daß eine solch manichäische Sichtweise mit Politik und damit auch mit einer politischen Lösung nicht viel zu tun hat. Im Kampf Gut gegen Böse gibt es keinen Waffenstillstand und keinen Kompromiß. Um zu einer Lösung zu kommen, braucht es aber eine Sichtweise auf die Dinge, die in der Lage ist, einen Ausgleich herbeizuführen, der alle Seiten in ihrer Existenz sicherstellt.
Henry Kissinger nannte 2014 als Minimalziel für den Rußland-Ukraine-Konflikt eine »ausbalancierte Unzufriedenheit«, weil eine absolute Zufriedenheit für beide Seiten nicht zu erreichen sei, jedenfalls nicht, solange beide Seiten existieren. (Henry A. Kissinger: »Eine Dämonisierung Putins ist keine Politik«. Vier Vorschläge für eine ausbalancierte Unzufriedenheit, hier einsehen.)
Putin hat mit seinem Regelbruch für eine Überraschung gesorgt, die hierzulande wie ein Naturereignis interpretiert wird: Auch gegen einen Vulkanausbruch könne man nichts unternehmen. Diese Sichtweise dient natürlich vorwiegend der Selbstexkulpation. Man will nicht in den Ruch gelangen, durch die eigene Politik etwas heraufbeschworen zu haben, was sich jetzt ohne große Opfer nicht mehr aus der Welt schaffen läßt.
Da der Krieg nicht nur die Politiker, sondern auch die meisten Fachleute zu Moralkriegern gemacht hat, ist es im Sinne einer nüchternen Betrachtung der Voraussetzungen dieses Krieges sinnvoll, zwei Dinge in den Hintergrund treten zu lassen. Zum einen den Krieg selbst, da er zur antirussischen Leidenschaft verleitet, und zum anderen die Existenz der Ukraine in der durch die Bolschewisten geschaffenen Form, weil sie etwas als gesetzt behauptet, was in anderen Fällen durchaus in Frage gestellt werden durfte: die territoriale Gestalt eines Landes.
Zunächst: Der Angriff Putins war absehbar. Fraglich ist, ob er auch vermeidbar gewesen wäre. Für Absehbarkeit muß man sich nicht auf die Warnungen der amerikanischen Geheimdienste berufen, die immer wieder auf einen möglichen Angriff hinwiesen, seitdem die Russen ihre Truppen an der ukrainischen Grenze zusammenzogen.
Diese negative Sicht auf die Konstellation ist viel älter, weil sich die Voraussetzungen für einen Konflikt in den letzten Jahren nicht geändert haben, denn die Interessenlage blieb diesselbe. Wir können uns dazu mit Klaus von Dohnanyi auf einen SPD-Politiker berufen, der fast schon tragischerweise vor wenigen Monaten zu eben dem Thema Rußland-Ukraine ein Buch veröffentlicht hat, das durch den 24. Februar 2022 plötzlich im Zwielicht steht.
Dohnanyis Buch erschien im Januar 2022, im selben Monat war schon die zweite Auflage nötig, mit Ergänzungen im Vorwort:
Bereits Ende November 2021 schrieb ich, daß die Aufnahme der Ukraine in die NATO erhebliche Gefahren mit sich bringen würde. Nun hat sich diese Gefahrenlage schon Ende Januar 2022 verschärft […].
(Klaus von Dohnanyi: Nationale Interessen. Orientierung für deutsche und europäische Politik in Zeiten globaler Umbrüche, München ²2022, S. 11)
Mit der jetzt vollzogenen Eskalation ist das eingetreten, was Dohnanyi befürchtet hatte. Er sieht die Rolle der USA kritisch: Amerika dominiere die Beziehungen Deutschlands und der EU zu Rußland so einseitig »wie gegenüber keinem anderen Land der Welt« (Nationale Interessen, S. 57). Europas Interesse sei es aber, so Dohnanyi, daß Rußland nicht an China verlorengehe.
Die Amerikaner erwarten hingegen von den Deutschen, im Rahmen der NATO Partei gegen Rußland zu ergreifen, was nicht im Interesse Deutschlands liege. Die USA hätten die Konfrontation mit Rußland ohne triftigen Grund nach 1990 fortgesetzt und damit gegen die Interessen Europas gehandelt, da im Falle eines russischen Angriffs die Unversehrtheit Europas, nicht aber die Sicherheit der USA das erste und wahrscheinlichste Opfer wäre. Die Strategie der »flexiblen Reaktion« sorge dafür, daß ein Konflikt zwischen den Großmächten nicht in ihren Ländern, sondern dem jeweiligen Zankapfel ausgetragen werde, was regelmäßig zu seiner Zerstörung führe. In einem Krieg zwischen Rußland und den USA wäre Europa das Gefechtsfeld. Daran habe sich seit den 1960er Jahren im Grunde nichts geändert.
Als besonderes Risiko für die europäisch-russischen Beziehungen sieht auch Dohnanyi die Ukraine, was vor allem dadurch befördert worden sei, daß man 2008 die Tür für einen Beitritt zur NATO weit aufgemacht habe. Damit seien die Erwartungshaltung der Ukrainer und der russische Argwohn gleichermaßen geweckt worden. Im Gegensatz zur jetzigen Hysterie sieht Dohnanyi darin aber keine Hilfeleistung für ukrainische Demokratisierungsbemühungen, sondern die Umsetzung geostrategischer Zielsetzungen im Hinblick auf die Eingrenzung Rußlands.
Es ist interessant, daß diese Sicht der Dinge vom spanischen Sicherheitsexperten Pedro Baños geteilt wird, dessen Buch So beherrscht man die Welt in Deutschland nach einer Kampagne vom Markt verschwand. Eine der von Baños aufgestellten »geostrategischen Regeln« ist die »Einkreisung«, eine Konstellation, die im Vorfeld des Ersten Weltkrieges von entscheidender Bedeutung war und das Deutsche Reich betraf.
Daß diese Furcht vor der Einkreisung heute als haltlos hingestellt wird, ist wenig überraschend: Deutschland sollte 1914 keinen Grund zum Krieg gehabt haben. Im Hinblick auf Rußland scheint das Gefühl, eingekreist zu werden, wieder aktuell zu sein. Baños sieht darin tatsächlich einen realen Kriegsgrund. Er zitiert Einschätzungen aus Spanien und Frankreich, die zu dem Schluß kommen, daß Rußland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion durch die USA und die NATO eingekreist worden sei, um
zu verhindern, daß das Land wieder zu einer Supermacht wird, und es auf den Status einer Regionalmacht festzulegen«.
(Pedro Baños: So beherrscht man die Welt. Die geheimen Geostrategien der Weltpolitik, München 2019, S. 121.)
Das Beispiel, das Baños anführt, ist das Engagement der USA im Kaukasus, was zu dem georgischen Versuch führte, in Südossetien einzugreifen. »Für Rußland war klar, daß es zu reagieren hatte. Ein Einlenken kam jetzt nicht mehr in Frage.« (Ebd., S. 123) Wie sich die Reaktionen der Supermächte gleichen, zeigt Baños am Beispiel der amerikanischen Reaktion auf das russische Engagement in Venezuela, das zur Reaktivierung der Vierten US-Flotte und zur Planung weiterer Stützpunkte führte. Eine Eskalation war hier aufgrund der russischen Schwäche vor Ort nicht zu befürchten, allerdings wurde seither auf Stimmen, die vor einer NATO-Aufnahme der Ukraine warnten, nicht mehr gehört.
Zu diesen bei Dohnanyi erwähnten Warnern gehörten mit Henry Kissinger und Zbigniew Brzeziński zwei Vertreter amerikanischer Vormachtstellung, die man nur schwer als Putin-Versteher diskreditieren kann. Beide plädierten für eine neutrale Stellung der Ukraine nach dem Vorbild Finnlands. Dennoch wurde im Juni 2021 bestätigt, daß die Ukraine NATO-Mitglied werden solle, was durch gemeinsame Militärübungen bekräftigt wurde.
Dohnanyi schreibt im November 2021:
Jetzt ist die NATO beunruhigt über russische Truppenansammlungen an der Ostgrenze der Ukraine. Beabsichtigt Putin den Einmarsch in die Ukraine? Putin bestreitet diese Absicht – heute! Aber was geschieht, wenn die Umsetzung der Entscheidung des NATO-Beitritts der Ukraine begonnen würde?
(Dohnanyi: Nationale Interessen, S. 105)
Jetzt, wenige Monate später, wissen wir mehr: Putin wollte es gar nicht erst soweit kommen lassen. Er hat nicht gewartet, bis er gegen die ganze NATO in den Krieg ziehen müßte.
Dohnanyi hat aufgrund der Eskalation des Konflikts bereits mediale Prügel für sein Buch einstecken müssen und ist schon ein Stück weit zurückgerudert. Das erschien insbesondere deshalb notwendig, da er der neuen Bundesregierung in dem Buch nahelegt, sich die Entspannungspolitik der 1970er Jahre zum Vorbild zu nehmen. Diese ist nun aber ganz in das Lager der Ukraine eingeschwenkt – manche bezeichnen die Nichtaufnahme der Ukraine in die NATO als Fehler – und hat den Konflikt um die Ukraine, der ja laut Dohnanyi vor allem amerikanisch provoziert ist, zu dem ihren gemacht. Das ist ohne Rücksicht auf die Ursachen dieses Konflikts fahrlässig. Außerdem (das darf nicht vergessen werden!) sind die geopolitischen Voraussetzungen, die die Ukraine zu einem Schlüsselstaat für die russische Sicherheit machen, immer die gleichen geblieben.
Franz Bettinger
"Putin hat mit seinem Regelbruch für eine Überraschung gesorgt.“ In der Tat. An die blutigen Kriege - pardon: Friedens-Missionen - der USA sind wir gewöhnt; die sind zur Regelblutung geworden. Irak? Afghanistan? Libyen? Syrien? Warum nochmal? Ach, es wird schon einen Grund gehabt haben, die zu bekriegen. Unsere Freuden wissen schon, was sie tun.