Wladimir Putin bezeichnet sich als religiösen Menschen, als engagiertes Mitglied der Russisch-Orthodoxen Kirche. Es könnte also gut sein, daß er, wenn er abends zu Bett geht, seine Gebete spricht und Gott fragt: ›Warum hast Du nicht ein paar Berge in die Ukraine gestellt?‹ (Tim Marshall: Die Macht der Geographie. Wie sich Weltpolitik anhand von 10 Karten erklären läßt, München ²2017, S. 7)
Worauf Marshall hinauswill: Ohne die landschaftlichen Voraussetzungen hätte sich Rußland, hätte sich russisches Denken anders entwickelt und würde heute vermutlich auch eine andere Politik verfolgen. Das Problem, das sich Rußland stellt, ist die nordeuropäische Tiefebene. Marshall vergleicht sie mit einem Pizzastück, das in Polen noch recht schmal ist, sich aber verbreitert, je weiter es sich in Richtung Moskau zieht.
Die russische Grenze ist über 3000 Kilometer lang und entsprechend schwer zu verteidigen. Daß Rußland aus dieser Richtung nie erobert wurde, ist der Ost-West-Ausdehnung zu verdanken, von der Grenze bis zum Ural sind es noch einmal mehr als 2000 Kilometer, bevor man dann vor den sibirischen Weiten steht. Und dennoch kamen Polen, Schweden, Franzosen und Deutsche über die nordeuropäische Tiefebene, bis die Nachschublinien zu lang wurden. Daher bestand das russische Interesse immer darin, seine Grenzen möglichst weit nach Westen zu verschieben, um eine Entfaltung des Gegners im Raum gar nicht erst zuzulassen.
Stalin gelang es schließlich, seine Truppen trotz der mittelosteuropäischen Staaten bis an die Elbe zu verteilen. Der Zusammenbruch der Sowjetunion sorgte nicht nur dafür, daß Rußland seine Vorposten in Mitteleuropa verlor, sondern daß auch alle Sowjetrepubliken selbständig wurden.
Bereits 2004, nur 15 Jahre nach 1989, war jeder einzelne ehemalige Mitgliedsstaat des Warschauer Pakts in der NATO. Aus den 15 Staaten der Sowjetunion gingen einige, die es sich leisten konnten, den Weg in die Neutralität, die von Rußland abhängigen blieben prorussisch, andere gehören heute zur EU und zur NATO. Georgien, Moldawien und die Ukraine würden diesen Weg ebenfalls gern gehen. Sie werden aber auf Abstand gehalten,
weil sie geographisch zu nah an Rußland liegen und sich auf dem Boden aller drei Länder russische Truppen oder prorussische Milizen befinden. Eine NATO-Mitgliedschaft auch nur eines dieser drei Länder könnte einen Krieg auslösen.« (Marshall, Geographie, S. 28)
Daher rühren die frühen russischen Versuche, genau das ohne Blutvergießen zu verhindern, und es ist klar, daß die Ukraine in diesem Zusammenhang eine besondere Rolle spielt. Marshall schreibt, daß eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine »für Rußland eine rote Linie« (Geographie, S. 29) überschreite. Aber neu ist diese Erkenntnis nicht.
Bereits 1956 sah Otto Maull in seinem lehrbuchartigen Werk Politische Geographie, daß Rußland nicht mehr zwingend auf die Kornkammer und die Kohlen der Ukraine angewiesen sei.
Doch wird die Sowjetunion nie auf den großen osteuropäischen Raumzusammenhang verzichten, der sich ja auch der Klammer des russischen Volkstums und der harmonischen Ergänzung erfreut und den bequemsten Zugang zum Schwarzen Meer und nach Südosteuropa sichert. (Otto Maull: Politische Geographie, Berlin 1956, S. 412)
Dementsprechend dramatisch waren die Ereignisse nach 1991:
Unter geopolitischem Aspekt stellte der Abfall der Ukraine einen zentralen Verlust dar, denn er beschnitt Rußlands geostrategische Optionen drastisch. (Zbigniew Brzeziński: Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft, Weinheim / Berlin 1997, S. 137)
Denn ohne die Ukraine sei der Versuch, so der amerikanische Geostratege Brzeziński, das eurasische Reich wiederaufzubauen, zum Scheitern verurteilt. Brzeziński sah 1997 noch die schwache Möglichkeit einer geopolitischen Wahl Rußlands, »ob es ein Teil von Europa oder ein eurasischer Außenseiter werden will, der im Grunde weder zu Europa noch zu Asien gehört«. Allerdings hätte das die Unterordnung unter die »einzige Weltmacht« USA bedeutet. Als beschleunigenden Faktor einer Bewegung nach Europa sah Brzeziński schon damals die Förderung und die Ausbreitung einer Gesellschaft, die »immer modernere und demokratischere Züge annimmt«. (Brzeziński, S. 179 f)
In diesem Sinne haben die USA versucht, die Dinge in der Ukraine zu beeinflussen. Erst 2004 durch die sogenannte Orangene Revolution, dann knapp zehn Jahre später durch den Euromaidan, um einer russisch-ukrainischen Partnerschaft einen Riegel vorzuschieben. Rußland hat schließlich mit der Besetzung der Krim reagiert, das Echo war überschaubar – auch, weil niemand wegen der überwiegend von Russen besiedelten Krim einen Krieg mit Rußland beginnen wollte, sondern auch, weil der ukrainische Staat bis zum diesjährigen Überfall eher den Eindruck erweckte, ein fragiles Gebilde zu sein.
Die Ukraine präsentiert sich dem Besucher nicht nur in zwei verschiedenen Landesteilen, dem habsburgisch geprägten Westen und dem russisch geprägten Osten, was durch die Penetranz der ukrainischen Nationalfarben im öffentlichen Raum kaschiert werden konnte; vielmehr waren Korruption und wirtschaftliche Probleme ein Dauerthema, dem auch durch umfängliche Kredite des Westens nicht abgeholfen werden konnte.
Dabei hatten die Ukrainer 1991 mit mehr als 90 Prozent für die Unabhängigkeit votiert. Für die nationale Identität gab es in der Vergangenheit allerdings keinen konkreten Staat, an dem sie sich hätten orientieren können – ein Problem, das sich auch in der mangelnden Identifikation der Bevölkerung mit ihrem Staat niederschlug. Putins Angriff hat jedoch zu einem neuen Selbstbewußtsein der ukrainischen Nation geführt: Wenn man in Frage gestellt wird, weiß man plötzlich wieder, was einen zusammenhält, und wenn es nur der äußere Feind ist.
Skeptiker
An den Texten von E.L. ist nicht nur erfreulich, dass sie in einer klaren, präzisen und damit verständlichen Sprache verfasst sind, sondern sie verzichten auch auf jegliche Polemik. Die in diesem Teil des Artikels dargestellten Hintergründe, verdeutlichen die geopolitische Relevanz der Ukraine aus russischer Sicht, sie liefern aber keinerlei Argumente für den allein vom russischen Präsidenten zu verantwortenden Angriffskrieg gegen die ukrainische Zivilbevölkerung. Vielmehr liefert er Argumente dafür, dass durch demokratische Reformen innerhalb Russlands und eine wirtschaftliche Stabilisierung der Ukraine eine Neutralität dieser anzustreben ist, wodurch sowohl das russische wie auch das ukrainische Volk gewinnen. Unter einem korupten Diktator Putin, dem es nur um die Absicherung seiner Macht und der Verdeckung der kriminellen Machenschaften der Oligarchen geht, wird dieses nicht erreichbar sein. Daher kann das Ziel nur lauten, dass das russische Volk sich endlich von diesem Präsidenten befreit.