War alles gleichgeschaltet? Hans Dieter Schäfer hatte 1981 in seinem aufsehenerregenden Buch Das gespaltene Bewußtsein die Totalität unter die Lupe genommen. Er stellte fest, daß sich das Bild eines allumfassenden Zwangstaates nicht aufrechterhalten ließ. Konsum, Zerstreuung und „neue Moden“ konnten oft unbehelligt ein Eigenleben in den dreißiger und vierziger Jahren führen, außerdem gab es einander überschneidende und widersprechende Zuständigkeiten, was umgekehrt bedeutete: Uneinheitlichkeit, Freiräume, ein mögliches Spiel mit den Behörden.
Nach Schäfer erschienen zahlreiche Publikationen über den Alltag im „Dritten Reich“: Von Kempowskis Echolot über Werner Masers Das Regime hin zu dem so billigen wie preiswerten Und morgen gibt es Hitlerwetter! Alltägliches und Kurioses aus dem III. Reich.
Nun möchte der „Journalist und Historiker“ Tillmann Bendikowski (*1965), nebenbei „Gründer und Leiter der Medienagentur Geschichte in Hamburg“ noch eins draufsetzen, und zwar auf 560 Seiten. Der Werbetext sagt:
Er erkundet das Alltagsleben der Deutschen zwischen Dezember 1938 und November 1939, als schon der Zweite Weltkrieg tobte.
Als Referenz ist dem Klappentext ein Lob aus dem Munde von „NDR 90,3“ beigegeben. Es lautet: „Unglaublich toll geschrieben.“ Leider und peinlicherweise bezieht es sich ausweislich auf Bendikowskis älteres Buch Ein Jahr im Mittelalter.
Im aktuellen Werk nun will Bendikowski „das Wissen um die Strukturen der Diktatur mit den Erlebnissen der Menschen in diesen Strukturen“ verknüpfen: „Alltag und Verbrechen kommen hier gleichermaßen vor.“ Damit sollen die berüchtigten Jahre uns Nachgeborenen „näher gerückt“ werden.
Ein netter Vorsatz. Der Autor vertieft ihn holpernd in seiner Einleitung. Er empfindet das Thema „Diktatur im Alltag“ nämlich als hochaktuell. Er meint damit nicht das logisch Naheliegende, sondern nimmt den bequemen Weg: „Auch heute werden Amtsträger diffamiert, der Staat verächtlich gemacht“. Das ist ein wenig lächerlich, weil er auf den folgenden paarhundert Seiten genau dies tut: Amtsträger zu diffamieren und einen Staat verächtlich zu machen. Er meint natürlich die bösen Amtsträger und den schlechten Staat. Wie billig! So legt er los:
„Kann es denn ein gutes Leben in einer Diktatur geben? Die nachwachsenden Generationen dürfen erwarten, auf diese Frage eine klare Antwort zu erhalten – und die Geschichtsschreibung trägt hier ihren Teil der politischen Verantwortung.“
Bereits auf Seite zehn wird es also schal und zu einem verfloskelten bundespräsidentenhaften Nullsummenspiel. Aber der Leser bleibt tapfer und dran: Für jeden Monat dieses sehr zufällig ausgesuchten Zeitraums nimmt Bendikowski sich ein eigenes Thema vor. Für den Dezember 1938 ist es die „Deutsche Weihnacht“, für Februar 1939 das Heilpraktikergesetz und mithin die fragwürdige „Pflicht, gesund zu sein“, im April ist es Hitlers 50. Geburtstag, im Mai der Muttertag (samt Mutterkreuzen, Heimchen am Herd) undsoweiter.
Wir finden in diesem Buch unendlich viel „Nice to know“. Man schrieb damals wirklich „shawl“, wenn man den (winterlichen) Schal meinte. Im Winter 1938 bedeutete die wetterbedingte Notlage tatsächlich, daß die Reichsbahn „einen Mann pro Weiche“ beauftragen mußte, um die Gleise eisfrei zu halten.
Im Rahmen der Westwall-Aktion hatte sich der Umsatz von „Aachener Printen“ verzehnfacht. Der Umsatz von „Kaffeekohle“ stieg auch rasant. Es handelte sich dabei um stark gerösteten, fast verkohlten Kaffee, der in Apotheken teuer als Allheilmittel gegen Schnupfen, Allergien, Wurmerkrankungen und Parodontose gehandelt wurde. In Parteiblättern fanden sich Tipps gegen Hohlkreuz und gegen Fettansatz an den Hüften.
Wir erfahren, daß der Durchschnittsdeutsche 1933 knapp 67 l Bier/Jahr trank, 1939 hingegen knapp 97 Liter. Der Konsum von Branntwein verdoppelte sich in dieser Zeit sogar, und Hitler hat tatsächlich, man glaubt es kaum, anläßlich seines Fünfzigsten das strikt jesuanische Lied „Ich bete an die Macht der Liebe“ spielen lassen!
Welche Geschenke wurden ihm kredenzt? Viel Selbstgebasteltes. Ein Gruppenbild mit seinen 50 Patenkindern. 6000 Socken von fleißigen Müttern des Gaues „Westfalen-Süd“. Eine selbstgebaute Geige mit 245 kleinen Hakenkreuzen an Decke und Boden. Ein auf Seidengaze geknüpftes Hakenkreuz aus Menschenhaar.
Die vielen (meist kleinformatigen) hier abgedruckten Schwarzweiß-Photos sind außerdem ein echter Gewinn. Allein das Bild, das Dutzende Bürger zeigt, die Straßenbäume erklommen haben, um die Militärparade zu Hitlers Geburtstag zu besichtigen, ist goldwert. Ein anderes Bild zeigt als Plastiktuben („Orol“, „Clorodont“) verkleidete Pimpfe. Hier geht es um das umweltgerechte und der Volkswirtschaft nützliche Sammeln wiederverwertbarer Verpackungen – FFF avant la lettre!
Nur: Bendikowski stellt gar nicht den Alltag dem Diktaturbetrieb gegenüber. Er streut Kuriosa wie die obengenannten ein und prangert daneben ausschließlich an. Das darf man, nur rennt man damit einfach offene Scheunentore ein. Trotzdem herrscht ein Ton, als sei er, Bendikowski, der erste und bislang einzige, der das schändliche Treiben der „Nazis“ (seriös, das lernen Studenten an jeder Uni, hieße es: Nationalsozialisten) benennt und enttarnt. Er tut es weitgehend im Bildzeitungstimbre, á la „Post von Wagner“. Ernsthaft interessierte Leser werden sich hier von Anfang bis Ende peinlich an die Hand genommen fühlen.
Bendikowskis Schreibstil ist grottig. Wo es um Privates/Ehe/Familie geht, ist stets im Stil verkalkter Lehrer, aber ironischseinwollend, von „der Herr Gemahl“ die Rede. (Soll wohl eine Anspielung aufs „Patriarchat“ sein.)
Fast jede „Widerlegung“ (des offenkundig längst Widerlegten) beginnt er mit leutseligem „Nun ja,“. Das beliebte, hier beliebig und dutzendfach gebrauchte Füllwort „indes“ hätte ein gnädiger Lektor mindestens zwanzigmal schlicht getilgt.
Des weiteren: Adolf Hitler lügt frech in die Mikrophone. Hitler lobte den gesunden Körper, trat aber selbst nie in Sportkleidung auf. Der „brutale Nazi-Führer“ (Göring) gibt sich jovial, dabei ist er ein „ausgemachtes Großmaul“. „Stramme Nationalsozialisten“ „schwadronieren“ und üben sich in „kollektivem Biertrinken“ – fast wirkt es, als brauchte Bendikowski diesen populistischen Kampfton, um seine Anliegen deutlich zu machen.
Zudem wird häufig „entlarvend“ geunkt, in dem Stil: Hitler, der Antialkoholiker, besucht eine Weihnachtsfeier,
„aber sicher wird noch reichlich getrunken, als er die Veranstaltung wieder verlässt. Ein weihnachtliches Prosit der Bewegung!“
Oder:
„Dem Diktator ist es nicht mal peinlich, sich an einem rhetorischen Vergleich mit Friedrich dem Großen zu versuchen.“
Oder: In einer Annonce von Wohnungssuchenden weisen die potentiellen Mieter darauf hin, daß sie kinderlos seien. Kommentar Bendikowski, naseweis:
„Kinderlosigkeit als Auszeichnung in Zeiten staatlich erwünschter Geburten? Wenn das der „Führer“ wüßte…”
In Deutschland anno 1938 gibt es bei aller Strenge immer noch Straftaten! Diebstähle, auch Mord und Totschlag. Bendikowski nennt eine Handvoll Beispiele:
„In Halle überfallen fünf Ganoven den Postwagen eines Güterzugs.“
Hehe, pläkt Bendikowski dazu kennerisch,
„Deutschland Anfang 1939? Das ist das Gegenteil von einem geordneten Land!“
Als weiteres Beispiel für die “innere Unordnung” breitet er tatsächlich aus, daß es in Dortmund im Januar 1939 heftiges Gerangel beim Winterschlußverkauf gegeben habe. Hitler sei „beileibe nicht der einzige Antisemit in Deutschland“ heißt es später weise– nachdem über Dutzende Seiten klargemacht wurde, daß für Juden 1938 „kein Ausflug, kein Spaziergang“ mehr möglich sei. Hitler, so sieht der Autor es für das Vorkriegsjahr, sei nun „unumstrittener Diktator“. Eine sehr eigentümliche und für einen „Historiker“ bemerkenswerte Interpretation der tatsächlichen Gegebenheiten.
Hinzu kommen formale Widrigkeiten: Zitate werden stets so eng gesetzt, als handele es sich um Gedichte in Reimform. Das ist unfreiwillig komisch! Überhaupt hält der Autor es lax mit dem Zitieren. Nur zwei Beispiele: „Längst liegen Ausrottung und Vernichtung in der Luft“, behauptet Bendikowski für Januar 1939. Beleg? Eine einzelne, ungefähre Seite bei Ian Kershaw. Und: „Wer eine Amtsstube betritt, kann mit einem forschen ‘Ist hier jemand?´ den verlangten Gruß umgehen“ – das klingt cool und ausgebufft – aber vor allem nach einer Witzlust der Nachgeborenen, die später nie dabeigewesen sein wollen.
Häufig streckt der Autor seine Geschichten mit Mutmaßungen. „Vielen ist sicher längst kalt geworden“, schreibt er, als es um den Fackelzug anläßlich des 6. Jahrestags der Regierungsübernahme geht.
„Schließen eigentlich evangelische Christen einen inhaftierten katholischen Priester in ihr Gebet ein?“
Geunkt wird hier viel. Bendikowski schlägt in jede einzelne Kerbe , die längst geschlagen wurde, mit fast kindlicher Freude nach: „der skrupellose Architekt Speer“; Hitler zeigt sich mit Kindern: „verstörende Bilder“; Leute werden wegen witzig gemeinten Bemerkungen inhaftiert:
“Dabei geben die Person Hitler und sein Lebensstil doch genug Anlass für despektierliche Bemerkungen und Witze, oder?”
Was für ein onkelhaftes, dürftiges Buch. Wer´s braucht: Tillmann Bendikowski: Hitlerwetter. Das ganz normale Leben in der Diktatur: Die Deutschen und das Dritte Reich 1938/39. 556 Seiten, 26 € – hier.
Ein gebuertiger Hesse
"Wer's braucht"? Nee, so ein Buch braucht keiner, allemal nicht nach diesem im besten Sinn entlarvenden Verriß. Man sollte Leichenfledderern, die witzelnd mit ihren anekdotischen Fundstücken hausieren gehen, nicht nur niemals trauen, sondern sie sofort aus der eigenen Sphäre verbannen. Sie beschämen unsere Großeltern, was allein schon eine Backpfeife mit dem Fehdehandschuh rechtfertigte.