Gemeinhin sind diejenigen, die Angst und Schrecken verbreiten, keine guten, freiheitlichen Demokraten. Man bezeichnet sie, wenn es sich um nichtstaatliche Akteure handelt, als Schwerkriminelle und Terroristen, oder, wenn sie ihre Herrschaft auf diese Weise absichern, als Diktatoren und ihre Schergen. Die Coronakrise hat die Gewißheit über diese Rollenverteilung erschüttert. Zeugnis dafür ist das mittlerweile berüchtigte Papier des Innenministeriums, das sich Ende April 2020 mit der Frage beschäftigte, wie COVID-19 unter Kontrolle zu bringen sei.
Es wurden dort die mittlerweile zur Gewohnheit gewordenen Maßnahmen empfohlen, die den in Modellrechnungen vorgestellten »worst case« von hohen Infektionszahlen, Intensivbettenmangel und hoher Sterberate verhindern sollten. Über die Bereitschaft der Bevölkerung, diese Maßnahmen zu akzeptieren, machte man sich Sorgen, so daß ein wichtiger Punkt des Papiers die Kommunikation ist: Sie müsse eine Schockwirkung hervorrufen, denn nur so könne man die zu ergreifenden Maßnahmen als alternativlos darstellen.
Daher wurden die Folgen einer Durchseuchung der Gesellschaft in den drastischsten Farben gemalt: »Viele Schwerkranke werden von ihren Angehörigen ins Krankenhaus gebracht, aber abgewiesen, und sterben qualvoll um Luft ringend zu Hause. Das Ersticken oder nicht genug Luft kriegen ist für jeden Menschen eine Urangst.«
Daß Kinder kaum von COVID-19 betroffen seien, solle als falsch dargestellt werden. Kindern würden sich leicht anstecken: »Wenn sie dann ihre Eltern anstecken, und einer davon qualvoll zu Hause stirbt und sie das Gefühl haben, schuld daran zu sein, weil sie z. B. vergessen haben, sich nach dem Spielen die Hände zu waschen, ist es das Schrecklichste, was ein Kind je erleben kann.« Außerdem dürften die vielen Fälle mit leichtem Verlauf nicht darüber hinwegtäuschen, daß es jederzeit Rückfälle geben könne, die »ständig wie ein Damoklesschwert über denjenigen schweben, die einmal infiziert waren«. Außerdem solle »historisch argumentiert werden, nach der mathematischen Formel: 2019 = 1919 + 1929«. Auch wenn das mathematisch nicht ganz einleuchten mag, ist klar, daß hier suggeriert werden sollte, COVID-19 würde bei Durchseuchung so schlimm wie Spanische Grippe und Weltwirtschaftskrise zusammen. Ein Zusammenbruch der Demokratie, so könnte man meinen, läge dann im Bereich des Möglichen.
Diese Vorhersagen haben sich bislang nicht bestätigt. Daher wurde behauptet, daß diese Angstpolitik eine Form der Prävention sei, deren Gelingen man daran ablesen könne, daß ebenjenes Szenario nicht eingetreten sei – ein Argument, nach dem, wie der Philosoph Markus Gabriel zusammenfaßt, »das Ausbleiben einer Katastrophe der Beweis für den Erfolg von Schutzmaßnahmen – und niemals Beleg für deren Überflüssigkeit« sei.
»Dies wird mit der stets unbelegten, also überhaupt nicht evidenzbasierten Behauptung gekoppelt, daß das Ausbleiben von Schreckensszenarien durch die Schreckwirkung der Modelle bewirkt wird.« Diese Argumentation behaupte Tatsachen, die weder verifizier- noch falsifizierbar seien, da man das Verhalten von Menschen und Viren nicht berechnen könne: »Es handelt sich vielmehr um Pseudowissenschaft, die im öffentlichen Diskurs unter dem Titel der Wissenschaft verkauft wird, eine Wesenheit, die es in diesem Singular nicht gibt. Die Wissenschaft ist eine mediale und politische Erfindung, auf die man sich gerne stützt, um sich gegen Kritik zu immunisieren.« Und, so wird man ergänzen können, um Angst zu erzeugen.
Für diese Angsterzeugung gibt es zwei mögliche Gründe: einmal den Glauben an die präventive Wirkung, die zwar ein Irrglaube ist (was aber für die Überzeugung der Verantwortlichen nichts bedeuten muß), und zum anderen den bewußten Einsatz der falschen Argumentation, weil man auf diese Art in jedem Fall, egal wie die Sache ausgeht, frei von Verantwortung wäre, da angesichts einer solchen Katastrophe jedes Ergebnis akzeptiert würde, solange es besser ist als das skizzierte Szenario.
Die Alternative von Aufklärung und Forschung bot in dieser Hinsicht deutlich weniger Optionen. Im Ergebnis nehmen sich beide Begründungen nicht viel, denn in jedem Fall erzeugen sie maximale Gefolgschaft in der Bevölkerung. Das bedeutet, daß nicht Vorsorge die leitende Idee hinter dem Vorgehen war, sondern die Angsterzeugung.
Das darf nicht weiter verwundern, da selbst ein so progressiver Politikwissenschaftler wie Franz L. Neumann 1954 in seinem Aufsatz »Angst und Politik« zu dem Schluß kam, daß jedes politische System auf Angst basiere. Allerdings sah er einen Qualitätsunterschied der Angst, je nachdem ob das politische System ein repressives oder freiheitliches sei. »Man kann vielleicht sagen, daß das total repressive System depressive und Verfolgungs-Angst, das halbwegs freiheitliche Realangst institutionalisiert.«
Die Systeme spekulieren damit auf verschiedene Folgen der Angst. Denn Laut Neumann kann Angst den Menschen warnen und so eine »Schutzfunktion« erfüllen, sie kann aber auch eine destruktive Wirkung haben und zur panischen Angst werden, wenn das neurotische und psychopathologische Element in ihr stark ist. Schließlich könne es einen »kathartischen Effekt« geben, der den Menschen durch eine überwundene Gefahr im Hinblick auf die gefahrvolle Zukunft stärke und so eine freie Entscheidung ermögliche.
Für Neumann war 1954 klar, daß es sich bei der Bundesrepublik Deutschland um ein freiheitliches politisches System handele, das allerdings auch nicht davor gefeit sei, einer regressiven Massenbewegung zum Opfer zu fallen. »Die Welt ist für die Ausbildung regressiver Massenbewegungen anfälliger geworden. Vielleicht nicht so sehr in Deutschland, weil die historische Erfahrung trotz aller Versuche, die Erinnerung an den Nationalsozialismus zu verdrängen, doch recht stark nachwirkt.« Zwanzig Jahre später konstatierte der Soziologe Helmut Schelsky für die Bundesrepublik die Klassenherrschaft der Sinnproduzenten und Sinnvermittler. Es war damit etwas eingetreten, das in Neumanns Kanon gar nicht vorkam.
In seinem Buch Die Arbeit tun die anderen schildert Schelsky die unvermeidliche Etablierung einer neuen sozialen Heilsreligion. Das Zwingende der Entwicklung sieht er in den technischen und sozialen Strukturveränderungen, die in ihrer Richtung unaufhaltbar seien. Diese schafften die Macht von Menschen über Menschen nicht aus der Welt oder verringerten sie im Zuge der »Demokratisierung«, sondern gäben der Herrschaft lediglich eine neue Grundlage.
Damit das funktioniert und akzeptiert wird, muß, so Schelsky, die neue Grundlage verschleiert werden. Daher würden die »neuen Herren« weiterhin betonen, daß der Mensch durch politische und wirtschaftliche Macht unterworfen und ausgebeutet werde. Hieraus zögen die neuen Eliten doppelten Nutzen, da sie so ihre eigene Herrschaft gegen Kritik immunisierten und gleichzeitig als Erlösung und Schutz vor den anderen Mächten wahrgenommen würden. Schelsky hat damals drei Herrschaftsformen unterschieden: Herrschaft durch Information oder Belehrung, durch soziale Betreuung und durch wissenschaftliche Planung.
Herrschaft durch Information oder Belehrung ist durchaus kein neues Phänomen, da die Manipulation der Menschen schon immer als Teil der Möglichkeit genutzt wurde, anderen seinen Willen aufzudrücken. Hier verschleiert eine Art von Pseudopluralität den Grundzug der Informationsherrschaft, die daraus hinausläuft, den »Menschen immer mehr und leichter von einer Führung seines Lebens aus eigener Lebenserfahrung« abschneiden zu können. Die gegenwärtigen Tendenzen an den Schulen und Hochschulen haben Schelskys griffige Formel, »wer lehrt, herrscht«, sicherlich noch einmal plausibler gemacht. Der Zusammenhang zwischen Information und Belehrung ist gerade bei Themen wie Gendern und »cancel culture« schlagend. Was die einen vorbereiten, setzen die anderen um. Der Anpassungsdruck beginnt schon im Kindergarten, der Umgang mit Abweichlern erzeugt bei Unwilligen die nötige erzieherische Angst, es ihnen nicht gleichzutun. Was zu Zeiten Schelskys der gerade begonnene Marsch der 68er durch die Institutionen war, ist heute längst vollzogen. Entscheidend ist hier nicht nur die moralische Grundierung, die es letztlich in jedem Regime gab, sondern die lückenlose Belehrung über das richtige Leben.
Die Angst wächst aber vor allem durch das zweite Herrschaftsphänomen, die soziale Betreuung, was nichts anderes bedeutet, als die Herrschaft der Betreuer über die Betreuten, wobei erstere oftmals identisch mit den Belehrern sind oder zur selben Elite gehören. Sie treiben den Ausbau der »großorganisatorischen Hilfssysteme« voran und können sich dabei des Beifalls der Betreuten je gewisser sein, desto umfassender das System etabliert ist. Gleichzeitig wird die Macht der »Sozialvormünder« gestärkt: »Wenn diese Hilfsprogramme dann aber den modernen Sozialperfektionismus einer von Intellektuellen ersonnenen Vollbetreuung annehmen, dann ist die Herrschaft der Betreuer über diese Menschen fest gegründet«.
Fürsorge führt in diesem Fall zur Unselbständigkeit und schließlich auch dazu, keine eigenen Vorstellungen vom Zusammenleben mehr zu entwickeln, da Gemeinschaft nur im Rahmen der Betreuung vorstellbar ist. Wie immer bei solcher Kritik an den Auswüchsen des Sozialstaats betont auch Schelsky, daß damit keineswegs verhindert werden soll, denjenigen Hilfe zu gewähren, die wirklich auf Hilfe angewiesen sind. Allerdings: »Die demonstrative Ausbreitung des geborgten Elends aus aller Welt und die fast einer Gehirnwäsche gleichkommende Überbetonung der Randgruppen […] schafft eine Dramaturgie der durchgehenden sozialen Ungerechtigkeit und Hilfsbedürftigkeit«. Diese bilde die Grundlage einer Herrschaft, die unhinterfragt bleibe, weil alle, Betreuer und Betreute, vermeintlich von ihr profitierten.
Das, was Schelsky damals als die neue Form des Untertanen bezeichnet hat, den betreuten Menschen, ist das Resultat dieser Bemühungen, die dafür sorgen, daß sich die Angst völlig von den Realbindungen löst. »Die sozialpsychologisch erzeugte Hilflosigkeit schafft ihrerseits erst den ängstlichen und unsicheren Menschen in einer Dimension, wie ihn die realen Verhältnisse, zumal bei uns, in keiner Weise bedingen«. Schelsky konstatiert weiter eine »Art seelisch-soziale Ohnmacht und Willensschwäche gegenüber dem Praktischen und Erreichbaren«, woraus immer öfter die Flucht ins Selbstmitleid und die »Anrufung der sozialen Abstraktheiten« folgten. Hinzu trete das »Ressentiment der Beherrschten«, das sich nicht nur in Angst, sondern auch in Neid und Zorn äußere, wenn die totale Abhängigkeit ins Bewußtsein tritt.
Diese werde durch Hinnahme der wissenschaftlichen Planung noch verstärkt. Planung ist zwar Bestandteil jeder Machtausübung, da Politik danach streben muß, das Leben im Hinblick auf die Zukunft zu bestimmen; was Schelsky allerdings damals als neues Moment auffiel, hat sich in einer Weise etabliert, die kaum noch eine Lücke für eine politische Planung erkennen läßt. Zum einen ist Planung in den Händen von Wissenschaftlern monopolisiert worden, von denen sich die Politik beraten läßt. Das ist wohl kaum jemals so augenfällig geworden wie im Verlauf der Coronakrise. Beratung hat die Politik zwar bitter nötig, weil sie kaum in der Lage ist, die vielfältigen Faktoren zu überschauen, von denen unsere Gegenwart bestimmt ist. Allerdings konstatiert schon Schelsky, daß die Beschränkung auf die Analyse immer seltener anzutreffen ist. Längst plant die Wissenschaft mit und nimmt die Politik an die Hand. Dadurch hat sich die wissenschaftliche Beratung vom Dienstleister in einen Herrscher verwandelt, »in die meist verdeckte Autonomie der Planer gegenüber den legitimen institutionellen Führungen«.
Eine Folge davon können wir gegenwärtig beobachten: Wenn der Plan nicht aufgeht, ist niemand verantwortlich. Die wissenschaftlichen Planer sind von der Verantwortung entlastet, weil sie die Durchführung des Plans den Politikern überlassen haben. »Nur in sehr seltenen Fällen ist der früher in allem politischen Handeln selbstverständliche Grundsatz, daß, wer plant, auch die Verantwortung für die Durchsetzung und Durchführung des Planes übernehmen muß, heute noch gültig.« Sollte der Plan mißlingen, sind die Durchführenden schuld, die wiederum die Verantwortung auf die Planer abschieben können, die allerdings ebensowenig haftbar zu machen sind.
Eine sinnvolle Erfolgskontrolle, die immer auch Konsequenzen beinhalten muß, ist auf diese Weise nicht möglich. Und es ist klar, daß auch das Belehren und das Betreuen Folgen auf die konkrete Ausgestaltung der Planung haben: Deren Ziel ist am Ende immer mehr soziale Gerechtigkeit und immer mehr Betreuung und Belehrung, was gerade im letzten Jahr noch einmal deutlich wurde. Die Coronakrise stellte die Akzeptanz der Herrschaft der Betreuer auf eine harte Probe, weil auf einmal sichtbar wurde, daß es sich bei der Freiheitlichkeit des politischen Systems um eine Pseudofreiheit handelt, die nur dann gewährt werden kann, wenn die Betreuten nicht aus der Reihe tanzen. Und damit ihnen die Gefolgschaft auch im eingeschränkten Leben nicht zu schwer falle, wurde der Bereich der Betreuung einfach ausgeweitet.
Nehmen wir die Kategorien von Neumann, haben wir es zweifellos mit einem regressiven System zu tun, das die Angst institutionalisiert hat. Diese Angst ist allerdings keine Realangst mehr, sondern eine neurotische Angst, die sich aus der inneren Unfreiheit der Menschen ergibt. Unter diesem Aspekt ist die von Schelsky 1975 noch aufgeworfene Frage, ob es möglich sei, die Macht der Sinnproduzenten zu kontrollieren, sinnlos.
Die Freiheitsansprüche der Menschen sind schlecht gegen die Herrschaft des Belehrens, Betreuens und Planens zur Geltung zu bringen, wenn im Grunde Einigkeit darüber besteht, daß wir noch mehr und nicht etwa weniger von dieser Herrschaft benötigen, um unsere Probleme zu lösen. Die Sucht nach immer mehr Betreuung und Versorgung hat jede riskante Tugend, zu der auch das Wissenwollen gehört, verkümmern lassen. Der Mensch der westlichen Kultur hat sich selbst hilflos gemacht, weswegen er für das Schreckensszenario der Corona-Pandemie empfänglich war.
Auch wenn die Herrschaft der Sinnproduzenten durch den offenen Einsatz der Macht keinerlei Schaden genommen hat und ihre Herrschaft vielleicht gefestigter denn je ist, muß die Frage nach einem Ausweg gestellt werden. Neumann sah ihn 1954 im Angriff gegen die Angst und für die Freiheit, zu der er die Professoren und Studenten bringen wollte. »Wir müssen reden und schreiben.« Schelsky sah die Lösung »in einer von der Wurzel der sozialen Tatbestände her neu gedachten Vorstellung der Freiheit der Person und einer soziologisch begründeten Gewaltenteilung«, in die auch die neuen Formen der sozialen Macht einzubeziehen wären.
Um dieses Problem zu lösen, braucht es aber etwas, das über das Moment der Kritik hinausgeht. Es braucht einen Sinnstifter, der der Betreuung etwas entgegenstellt. Immer wieder hat es diese Momente gegeben, in denen eine Welt zu geordnet schien, in der es nichts mehr zu erobern gab und die damit ihre Attraktivität verloren hatte. In diesen Moment machten sich die Besten zu neuen Ufern auf, stifteten etwas Neues. Allerdings waren die Betreuung und die Sekurität noch nie so groß wie heute, so daß das Loskommen vom süßen Gift der Betreuung ungleich schwerer fällt.
In der Konsequenz gleicht der betreute Mensch dem »Hund in der Sonne« (Erhart Kästner), der nur Angst vor seinem Herrchen hat und eines nicht werden kann, Sinnstifter. Er ist noch nicht einmal in der Lage, sein betreutes Dasein in Frage zu stellen. Aber ganz offensichtlich war der Mensch nicht immer so, sonst hätte es nie die starken Gefühle und Leidenschaften gegeben, von denen die Geschichte voll ist. Solch eine Haltung war immer mit Einbußen an Lebensqualität verbunden, weil ein Zerbrechen der Gehäuse nie gefahrlos ist. Aber es führt kein Weg zur Selbstbestimmung, der nicht steinig wäre. Daß nicht jeder ihn gehen kann, darf nicht dazu führen, das von der Gleichheitsideologie errichtete Verbotsschild zu akzeptieren.