Das Wort von der »Entängstigung« entnahm ich für mein kaplaken-Bändchen Selbstrettung einem Vortrag Rudolf Steiners aus dem Jahre 1923, in dem er von den Kräften des Erzengels Michael, des Schutzpatrons Deutschlands, spricht. Wir brauchten – vor hundert Jahren wie heute – dringend regelrechte »Entängstigungsfeste«, um in uns ein »freies, starkes, tapferes Wollen« zu entwickeln. Im Juni 2020 erschien an dieser Stelle ein Text mit derselben Überschrift. Damals konnte ich nur andeuten, worüber – derselben angsteinflößenden Lage ausgeliefert – nachzudenken und zu diskutieren nun ein Jahr lang Zeit war.
Auf den »Coronademos« im Laufe eines Jahres kam es mir mehrmals mittendrin so vor, als dienten diese spontanen Massenausbrüche aus den Zumutungen und Zurüstungen des neuen Maßnahmenstaates im Grunde nichts anderem als unserer Entängstigung. Endlich einmal für einen kurzen Moment aussteigen aus dem System, angstfrei und »maskenlos durch die Stadt« laufen, einander wiedertreffen und umarmen, ein Fünkchen Hoffnung, daß der Spuk doch noch aufhöre.
Vorderhand trifft diese Beschreibung der Demonstrationen als Feste der Entängstigung einen Nerv, viele Teilnehmer haben sie so empfunden. Ich teile diese Empfindungen, weiß aber, daß sie eingehender Bearbeitung bedürfen. Bei den Empfindungen dürfen wir nicht stehenbleiben. Sowohl Angst und Wut, die einen zur Demo treiben, als auch Befreiungs- oder Machtgefühle und Enthusiasmus, die man dort womöglich empfindet, sind primäre Affekte.
Die Außenwelt tritt mir immer widriger und feindlicher entgegen. Ich entwickle eine tiefgehende Furcht vor dem, was da kommen wird und worauf wir offensichtlich stufenweise konditioniert werden sollen. Ein im Netz kursierender Cartoon zeigt ein Schaf, das strampelnd angesichts einer Maske ausruft: »Hier ist meine rote Linie!« Im nächsten Bild sieht man es, bereits maskenverhüllt, dasselbe rufen angesichts der drohenden Impfspritze. Nächstes Bild: biometrischer Chip, letztes Bild: der Zug ins Internierungslager. Der »widrigen Weltgegebenheit« (Nikolai Berdjajew) will ich mich erwehren, ich will das bekämpfen und aus der Welt schaffen, was mir Angst einflößt.
Während die allermeisten Menschen in Angst vor dem Virus erstarrt sind, treibt unsereinen bisweilen eine ganz andere, aber nicht minder große Angst seelisch in die Enge. Etymologisch stammt das Wort »Angst« von »Enge« (lat. angusta) ab. Ist ein Mensch buchstäblich eng eingeschnürt, regen sich physische Abwehrreflexe: er strampelt und schreit, ringt nach Luft und versucht, die Fesseln herunterzuzerren. Das Bild einer Gebärenden, die unter die Maske gezwungen wird, dürfte hier genug Assoziationen ermöglichen. Seelische Einschnürung folgt denselben Mechanismen.
Im Affekt bin ich schon im Nahbereich und im kleinen nicht ich selbst, sondern bloß das Subjekt (lat. subiectum: das Daruntergeworfene) meiner Leidenschaften, gerate in Streit, verzweifle an meinen Nächsten oder belagere sie mit Angstszenarien. Inmitten meiner Leidenschaft kann ich meine Kräfte nicht richtig einschätzen: ich verfalle entweder in Angststarre und Depression, oder die affektive Dysbalance nimmt die umgekehrte Ausdrucksrichtung: Ich gehe in offenen äußeren Widerstand und will möglichst viele Gleichgesinnte mitreißen. Der Traum von der Macht, mit der ich das Übel vernichten kann, tritt an die Stelle wirklicher Macht.
Es ist unmöglich, etwas, das existieren soll, gegen etwas, das bereits existiert, zu manifestieren. Leide ich beispielsweise unter einer Krankheit, kann ich heftig wollen, daß diese verschwindet und ich wieder gesund bin. Dies wird in dem Maße unmöglich sein, als ich nicht bereit bin, zu akzeptieren, daß ich unter dieser Krankheit leide. Die Krankheit anzunehmen heißt also weder, sie passiv hinzunehmen (also nichts mehr gegen sie tun zu wollen), noch, sich einzureden, es gäbe weder die Krankheit noch das Leiden, ich hätte also in Wirklichkeit gar kein Problem.
Entängstigung müßte mithin als Selbst-Entängstigung auf einer höheren Ebene ansetzen, auf der der Mensch in der Lage ist, den Mechanismen, die ihn steuern und durch die er steuerbar ist, aktiv etwas entgegenzusetzen. Dabei wäre nicht allein denjenigen Reflexen, die er selbst als unangenehm erlebt (Angstgefühle, Ohnmacht, Verzweiflung), sondern auch denjenigen, die er prima facie für sein notwendiges Rüstzeug gegen die Angst hält (Wut, Aktionismus, Autosuggestion von Macht), Einhalt zu gebieten. Denn es ist für den Kampf gegen den äußeren Feind zwingend notwendig, die innere Unbeherrschtheit zu bekämpfen. Der Feind liegt also auch in mir selbst.
Diese Frontlinienverlagerung sieht für den affektiv geladenen Widerständler aus wie Rückzug, wie Schwäche und Aufgeben des Kampfes. Der deutsche Mystiker Thomas von Kempen (1380 – 1471) hat in seiner Schrift von der Nachfolge Christi diese Provokation in Worte gefaßt, die unserer gegenwärtigen Lage sehr nahekommen: »Es ist die Notwendigkeit, dir selbst abzusterben, für dich fast in keinem Stück so groß als in dem, was du täglich wider deinen Willen sehen und leiden mußt, besonders wenn dir Dinge befohlen werden, die dir widerstreben oder minder nützlich scheinen. Und weil du, deinen Obern untergeordnet, es nicht wagen willst, der höheren Gewalt zu widerstehen, so wird es dir schwer, immer nur nach dem Wink eines andern zu wandeln und stets deine eigenen Empfindungen zu verleugnen.« (Thomas von Kempen: Vier Bücher von der Nachfolge Christi, 49. Hauptstück).
Mir werden seit über einem Jahr Dinge befohlen, die mir widerstreben, die ich täglich wider meinen Willen sehen und leiden muß, ich muß dauernd nach dem Wink eines anderen wandeln. Und nun soll ich »mir selbst absterben« und meine Empfindungen verleugnen? Soll ich etwa zu einem der Obrigkeit untergeordneten Schaf werden, das es nicht wagt, der höheren Gewalt zu widerstehen? Genau hier findet das experimentum crucis statt. Hier befindet sich der Punkt, der den inneren vom äußeren Widerstand unterscheidet. Erst nach Durchgang durch diesen Punkt ist Entängstigung möglich.
Schauen wir uns die Zumutung des Thomas von Kempen einmal genauer an: Mir begegnet höhere Gewalt, der ich mich nicht beugen will. Es steht Wille gegen Willen (auch wenn der fremde Wille die Form einer überpersönlichen Machtstruktur hat, mit Max Weber gesprochen ein »stahlhartes Gehäuse der Hörigkeit« darstellt). Der fremde Wille will meinen Willen brechen und hält ihn bereits fest in seiner Hand. Ich bin ihm in dieser Konstellation von vornherein ausgeliefert – aus nichts anderem entstehen mein Engegefühl und mein Widerstandsbedürfnis. Wie verschließe ich meine Seele gegen den Zugriff des fremden Willens?
Die Angst und den ohnmächtigen Widerstandsaffekt zuzulassen, geschieht aus Schwäche. Die notwendige Stärke, um meine Seele gegen den Zugriff des fremden Willens zu verschließen, kann ich zunächst nicht allein aufbieten. Ich muß mir helfen lassen. Um aber zulassen zu können, daß mir geholfen wird, muß ich alles hinausschaffen aus meiner Seele, was dieser Hilfe im Wege steht: und das ist nun einmal der von Primäraffekten gebeutelte Wille, das niedere Selbst. Das niedere Selbst muß unterworfen werden, doch nicht vom äußeren Feind (indem ich aus Schwäche brav »nach dem Wink eines anderen wandle« und mich an die Erpressung gewöhne), sondern durch mein eigenes höheres Selbst, das den Willen in Zucht nehmen kann.
Das höhere Selbst ist mir nicht einfachhin gegeben, sondern es will errungen sein. Es kann mir nur in dem Maße Gottes Gnade zuteil werden, als ich selber darum kämpfe. Ergebenheit unter Gottes Willen ist die Voraussetzung dafür, den eigenen Willen in Zucht nehmen zu können, sich selbst führen zu können. Die christliche Tradition nennt es (neben vielen anderen Formulierungen für denselben Verwandlungsprozeß) »Sich-selbst-Absterben«: das niedere Selbst töten, damit daraus das höhere, das führende entstehen kann. Die Auferstehung Christi findet hier ihre kleine Entsprechung innerhalb der einzelnen Seele.
Unter diesem Blickwinkel betrachtet, kann sich der äußere Zwang durchaus als dienlich erweisen, um das niedere Selbst in seine Schranken zu weisen. Durch ihn erfahre ich zwar unerträgliche Kränkung, diese Kränkung scheint aber in einem gewissen Sinne notwendig zu sein, weil nur durch sie schmerzlich erfahrbar ist, daß ich vom niederen Selbst beherrscht werde, was ich andernfalls nicht bemerken würde.
Warum es überhaupt wichtig ist, daß ich »mir selbst absterbe«, kann ich vorsichtig tastend durch den folgenden Gedanken ermitteln. Nehmen wir an, daß die Hoffnung auf kurzfristige Siege und auf »eine bessere Gesellschaft« in der Zukunft eitel ist. Immer feindlicher stellt sich im Laufe der menschlichen Entwicklung die Welt um uns. Warum ist das so? Dies läßt sich teleologisch denken, wie ich in Selbstrettung bereits angedeutet habe. Die Not muß zunehmen, damit die Mühsal, sich daraus emporzuarbeiten, größer wird, damit unsere Kraft wächst. Hieraus Quietismus abzuleiten, sich also nicht mehr zu bemühen, weil alles vergebens ist, ist der falsche Schluß. Denn auf das Höherkämpfen selbst kommt es an, nicht auf die vergänglichen Ziele.
Es kann sein, daß wir in weniger als einem Jahr mit dem Rücken zur Wand stehen und uns und unsere Kinder impfen und digital kompletterfassen lassen müssen, um uns in dieser Welt noch bewegen zu können. Bis dahin gekämpft und sein eigenes Denken, Fühlen und Wollen nach Kräften geläutert zu haben, das ist erforderlich, um dies und alles weitere dann ertragen zu können und nicht innerlich gebrochen zu werden. Es gilt zu kämpfen, ohne den Sieg anzustreben – den eigenen Kampf als Opfer darzubringen. Ernst Jüngers »verlorener Posten« von 1938 drückt diese Haltung aus, ebenso Henri de Montherlants »nutzloses Dienen« oder die Haltung des Jünglings Arjuna in der Bhagavadgita, an den der göttliche Rat ergeht: Du kämpfst nicht für das Ergebnis, sondern weil das Kämpfen das richtige ist.
Was auch immer uns in den Weg gestellt wird, ist dazu angetan, in uns gedeihliche Wirkung zu entfalten. Es muß zunächst erkannt werden, sodann unterschieden werden in Dinge, deren Zugriff ich abwehren kann und Dinge, die sich vollziehen müssen. Diese Unterscheidung gelingt nur demjenigen Menschen, der ruhig durchatmen und dann von einer höheren Warte aus die innere und äußere Lage überblicken kann.
Die in der Haft verfaßten Tagebücher des evangelischen Theologen Dietrich Bonhoeffer haben vom Herausgeber den Titel Widerstand und Ergebung erhalten. Am 21. Februar 1944 notiert Bonhoeffer: »Ich habe mir hier oft Gedanken darüber gemacht, wo die Grenzen zwischen dem notwendigen Widerstand gegen das ›Schicksal‹ und der ebenso notwendigen Ergebung liegen. […] Ich glaube, wir müssen das Große und Eigene wirklich unternehmen und doch zugleich das Selbstverständlich- und Allgemein-Notwendige tun, wir müssen dem ›Schicksal‹ – ich finde das ›Neutrum‹ dieses Begriffes wichtig – ebenso entschlossen entgegentreten wie uns ihm zu gegebener Zeit unterwerfen. Von ›Führung‹ kann man erst jenseits dieses zwiefachen Vorgangs sprechen. Gott begegnet uns nicht mehr als Du, sondern auch ›vermummt‹ im ›Es‹. […] Die Grenzen zwischen Widerstand und Ergebung sind also prinzipiell nicht zu bestimmen; aber es muß beides da sein und beides mit Entschlossenheit ergriffen werden. Der Glaube fordert dieses bewegliche, lebendige Handeln. Nur so können wir die jeweilige gegenwärtige Situation durchhalten und fruchtbar machen.«
Gott begegnet uns auch »vermummt« in der widrigen Weltgegebenheit. Man könnte sagen: gerade da begegnet er uns, wo ein Schicksal uns ereilt, das wir bekämpfen wollen, dessen Notwendigkeit wir zunächst partout nicht einsehen wollen. Es ist für einen Christen jedoch nicht möglich, die gesamte Schöpfung abzüglich just derjenigen Dinge, die ihm besonders widerwärtig sind, zu lieben. »Durch das Böse hindurch«, wie Simone Weil formulierte, die Schöpfung zu lieben ist eine Grundzutat der Entängstigung.
Äußerer Kampf verhindert in den meisten Fällen den inneren Kampf, weil er von diesem ablenkt durch verführerische Nah- und Fernziele. Ausgeschlossen ist es allerdings nicht, daß er – auf Umwegen – zur Entängstigung beitragen kann. Demonstrationen beispielsweise können durchaus einen ersten Keim der Entängstigung säen, der die Leute einander erkennen und aufwachen läßt. Unter die »Coronaleugner« sortiert zu werden führt womöglich zu einem Existenzgefühl des Andersseins, das sehr viel dazu beitragen kann, daß jemand den inneren Kampf aufnimmt. Wer nicht wenigstens kleine Akte des äußeren Widerstands leistet, spürt leiblich zu wenig von der riesigen Anspannung, die derzeit die Welt in Angst und Schrecken hält. Das Herzklopfen, die Atembeklemmung, die Wut, das unmittelbare Wegschaffen- und Bekämpfenwollen des Bösen müssen zuerst da sein, um dann durchgearbeitet zu werden – nur so können sie geläutert werden. Aus Unmittelbarkeit muß Mittelbarkeit werden.
Entängstigung ist – aus allem Gesagten läßt sich dies ableiten – nicht durch heftigen Freiheitsdrang und affektiv aufgeladene Mutmachveranstaltungen zu gewinnen, genausowenig allein durch sachliche Aufklärung oder durch schönrednerisches Verstecken vor der Wirklichkeit. Wir sind aufgefordert, dem Schicksal ebenso entschlossen entgegenzutreten, wie uns ihm zu gegebener Zeit zu unterwerfen, und zwischen beiden Notwendigkeiten unterscheiden zu lernen.