Angst und Raum – Barbarossa 1941

von Stefan Scheil

PDF der Druckfassung aus Sezession 102/ Juni 2021

»Mit dem Ding woll’n Sie wohl ’nen Rus­sen piek­sen?« Der Satz riß den Lega­ti­ons­rat im Aus­wär­ti­gen Amt, Roland von zur Müh­len, aus sei­nen Gedan­ken. Eini­ge Stun­den zuvor hat­te er im Aus­wär­ti­gen Amt die Kriegs­er­klä­rung an die Sowjet­uni­on direkt mit­er­lebt. In sei­ner Gegen­wart über­reich­te Außen­mi­nis­ter Rib­ben­trop dem Sowjet­bot­schaf­ter Deka­no­sow in den frü­hen Mor­gen­stun­den des 22. Juni 1941 die ent­spre­chen­den Papie­re und gab eine kur­ze Begrün­dung. Stun­den spä­ter befand sich von zur Müh­len, immer noch in Diplo­ma­ten­uni­form, auf dem Heim­weg durch das mor­gend­li­che Ber­lin und war an einer Pla­kat­säu­le stehengeblieben.

Sie ver­kün­de­te den deut­schen Angriffs­ent­schluß, zusam­men mit einer pla­ka­ti­ven Land­kar­te. Und trotz aller Ver­su­che, das Deut­sche Reich und sei­nen aktu­el­len euro­päi­schen Macht­be­reich dabei gra­phisch auf eine Grö­ßen­ebe­ne mit der UdSSR zu heben, kam ihm die Sache bei die­sem Anblick erst­mals äußerst bedenk­lich vor. Zur deut­schen Diplo­ma­ten­uni­form eines Lega­ti­ons­rats gehör­te aber auch 1941 noch eine Stich­waf­fe, die zusam­men mit der Land­kar­te bei den Umste­hen­den den Ber­li­ner Humor auf den Plan geru­fen hat­te. Konn­te man die­ses Rie­sen­ge­biet mit den deut­schen Mit­teln mehr als nur »piek­sen«?

Am frü­hen Mor­gen hat­te Deka­no­sow eher gelas­sen reagiert, als Rib­ben­trop ihm eine kur­ze Begrün­dung für den Angriff gab und auf die »seit län­ge­rer Zeit zuneh­men­de deutsch­feind­li­che Hal­tung der Sowjet­uni­on und die Bedro­hung Deutsch­lands« ver­wies. Das sei klar und ein­deu­tig, mein­te Deka­no­sow ledig­lich und ver­ab­schie­de­te sich bald. Von der »deutsch­feind­li­chen Hal­tung« der UdSSR wuß­te er selbst genug und hat­te als Lei­ter der Ber­li­ner Bot­schaft schon seit einem Jahr den Auf­trag, die Grund­la­gen für die kom­men­de Sowje­ti­sie­rung Deutsch­lands zu legen.

Wie sich spä­ter her­aus­stell­te, war die­se Vor­ar­beit auch nicht umsonst gewe­sen, selbst wenn ihre Ergeb­nis­se letzt­lich nur in der sowje­tisch besetz­ten Zone ange­wandt wur­den. Den ganz gro­ßen Ent­wurf eines Ein­zugs der Roten Armee nicht nur in Ber­lin, son­dern auch über Köln hin­weg in Paris, soll­te der gera­de begon­ne­ne deut­sche Feld­zug letzt­lich erfolg­reich ver­hin­dern. Man wer­de es spä­ter noch ein­mal pro­bie­ren, kün­dig­te Sowjet­dik­ta­tor Sta­lin im Früh­jahr 1945 dann an.

Aber dies greift vor. Im Juni 1941 wuß­te noch nie­mand, was das Unter­neh­men Bar­ba­ros­sa brin­gen wür­de. Es wuß­te zugleich trotz aller Auf­klä­rungs­be­mü­hun­gen eben­falls noch nie­mand voll­stän­dig, was es im Detail mit dem Rie­sen­reich auf sich hat­te, das wie eine dunk­le Dro­hung am öst­li­chen Hori­zont lag und nun an Ber­li­ner Lit­faß­säu­len als Kriegs­geg­ner bezeich­net wurde.

Anfang der 1920er Jah­re hat­ten die Mel­dun­gen über die Mil­lio­nen Toten als Fol­ge der Okto­ber­re­vo­lu­ti­on und des rus­si­schen Bür­ger­kriegs die kon­ter­re­vo­lu­tio­nä­re Stim­mung über­all in Euro­pa stei­gen las­sen. Die Sowjet­union ver­kör­per­te damals das Ende von Recht­lich­keit und Bür­ger­lich­keit. Kom­mu­nis­ti­sche Ver­bre­chen tru­gen sehr dazu bei, fast über­all in Euro­pa mili­tan­te Gegen­be­we­gun­gen zu schaf­fen, die in auto­ri­tä­rer und uni­for­mier­ter Struk­tur wei­te­re Revo­lu­tio­nen ver­hin­der­ten oder rück­gän­gig mach­ten. Der ita­lie­ni­sche Faschis­mus und der deut­sche Natio­nal­so­zia­lis­mus konn­ten als pro­mi­nen­tes­te Expo­na­te die­ser Rich­tung gelten.

Den unmit­tel­ba­ren Revo­lu­ti­ons­op­fern folg­ten die Toten der ukrai­ni­schen Hun­ger­ka­ta­stro­phe und zahl­rei­cher Ver­fol­gungs­wel­len aller Art und Moti­va­ti­on, vor dem Welt­krieg zuletzt in den Mos­kau­er Schau­pro­zes­sen 1936 und 1937, als beacht­li­che Tei­le der kom­mu­nis­ti­schen Par­tei­funk­tio­nä­re ange­klagt und hin­ge­rich­tet wur­den. Was »Kom­mu­nis­mus« sein konn­te, hat­te dazu zeit­lich par­al­lel der Spa­ni­sche Bür­ger­krieg gezeigt, mit sei­ner Ver­nich­tungs­wut gegen Reli­gi­on und Kul­tur auf der offi­zi­ell repu­bli­ka­ni­schen Sei­te, die sich unter sowje­ti­schem Ein­fluß schnell radi­ka­li­sier­te. In ihrer Gewohn­heit, Poli­tik mit Mas­sen­mord zu beglei­ten, stell­te die Sowjet­uni­on in den drei­ßi­ger Jah­ren des 20. Jahr­hun­derts ein Phä­no­men dar, das man aus dem Blick­win­kel Euro­pas nur aus fer­nen his­to­ri­schen Zei­ten kann­te: die asia­ti­sche Tyran­nei, wie sie einst im Mit­tel­al­ter die berühm­ten Mon­go­len­herr­scher aus­ge­übt hat­ten. Im Ver­gleich dazu wirk­te das natio­nal­so­zia­lis­ti­sche Deutsch­land im Jahr 1939 wie ein gewöhn­li­cher Poli­zei­staat. Es bestand reich­lich Anlaß, Angst vor der UdSSR zu haben.

Um die Gedan­ken­welt der­je­ni­gen zu ver­ste­hen, die 1941 in Deutsch­land die Ent­schei­dun­gen tra­fen, muß man von dort jedoch etwa drei Jahr­zehn­te zurück­ge­hen. Es han­del­te sich näm­lich nicht um eine sowjet­rus­si­sche Spe­zia­li­tät, auf Deutsch­land als Bedro­hung zu wir­ken. Dies hat­te bereits das zaris­ti­sche Ruß­land vor 1914 immer stär­ker und schein­bar unab­wend­bar getan. Poli­ti­sche Ent­span­nungs­ver­su­che von deut­scher Sei­te grif­fen nicht, mili­tä­ri­sche Gegen­maß­nah­men schie­nen unmög­lich. Die dro­hen­de »rus­si­sche Dampf­wal­ze« wur­de jedes Jahr etwas gewich­ti­ger ausgebaut.

Im Som­mer 1914 befand sich der deut­sche Kanz­ler des­halb im Zustand rat­lo­ser Ver­zweif­lung. Ruß­lands mili­tä­ri­sche Macht wach­se schnell, und wür­de auch noch der damals zu Ruß­land gehö­ren­de Teil Polens stra­te­gisch aus­ge­baut sein, sei die Lage für Deutsch­land unhalt­bar, mein­te Beth­mann-Holl­weg Anfang Juli 1914. Dies gab eine damals ver­brei­te­te Ansicht wie­der, die sich ja auch im deut­schen mili­tä­ri­schen Ope­ra­ti­ons­plan für den Kriegs­fall nie­der­schlug, der eine Offen­si­ve Rich­tung Osten über­haupt nicht in Betracht zog. Immer­hin galt damals mehr­heit­lich noch die Über­zeu­gung, Ruß­land wür­de tat­säch­lich war­ten, und als mög­li­chen Zeit­punkt eines rus­si­schen Angriffs ver­mu­te­te man eher 1916 als 1914. Aber der Befund von Kanz­ler Beth­mann-Holl­weg lau­te­te: »Die Zukunft gehört Ruß­land, das wächst und wächst und sich als immer schwe­re­rer Alb auf uns legt.« Und ein paar Tage spä­ter: »Ruß­lands wach­sen­de Ansprü­che und unge­heu­re Spreng­kraft [sind] in weni­gen Jah­ren nicht mehr abzu­weh­ren, zumal wenn die jet­zi­ge euro­päi­sche Kon­stel­la­ti­on bleibt. […] Nur wenn Ruß­land in der ser­bi­schen Sache von den West­mäch­ten nicht bis zum letz­ten unter­stützt wird, sieht es ein, daß es sich mit uns ver­stän­di­gen muß. Aber auch dann wird Ruß­land sehr teu­er sein. Es ist zu mäch­tig gewor­den und muß schon aus innen­po­li­ti­schen Grün­den und als Gegen­ge­wicht gegen die revo­lu­tio­nä­ren Strö­mun­gen in Pan­sla­wis­mus machen.«

Wir wol­len nicht abschwei­fen, aber es sei ergän­zend erwähnt: Wäh­rend dies am 20. Juli 1914 gesagt wur­de, traf gera­de die fran­zö­si­sche Staats­füh­rung in St. Peters­burg ein, um Ruß­land nicht nur ihre rest­lo­se Unter­stüt­zung in der »ser­bi­schen Sache« zuzu­si­chern, son­dern um im Gegen­teil noch vor­han­de­ne rus­si­sche Beden­ken gegen den Krieg aus­zu­räu­men. Zeit­ge­nös­si­sche Kari­ka­tu­ren grif­fen das auf und zeig­ten den fran­zö­si­schen Staats­prä­si­den­ten, wie er dem rus­si­schen Zaren aufs Kriegs­roß half. Ab dem 25. Juli began­nen dann jene rus­si­schen gehei­men Mobil­ma­chun­gen, deren Exis­tenz man dem deut­schen Kai­ser gegen­über in den fol­gen­den Tagen auch auf Nach­fra­ge geflis­sent­lich bestritt und die unter dem Stich­wort »Mobil­ma­chung ist Krieg« lan­ge vor­be­rei­tet wor­den waren. Die Ber­li­ner Ängs­te wur­den wahr.

Man­che Ele­men­te die­ser Situa­ti­on kehr­ten 1941 wie­der. Da war zum einen der erneut ste­ti­ge und stra­te­gi­sche Aus­bau von rus­sisch-sowje­ti­schem Mili­tär­po­ten­ti­al. Das geschah unter mar­xis­ti­schen Vor­zei­chen, aber es ver­setz­te die inzwi­schen in Mos­kau statt an der Ost­see resi­die­ren­den Macht­ha­ber nun ein­mal wie ihre Vor­gän­ger in die Lage, eine zumin­dest zah­len­mä­ßig über­wäl­ti­gend star­ke Streit­macht zu mobi­li­sie­ren. Das taten sie 1941 dann unüber­seh­bar. Wenn auch der bis nach Asi­en rei­chen­de Gesamt­um­fang der Marsch­ko­lon­nen der Roten Armee ver­bor­gen wer­den konn­te, beur­teil­te der jet­zi­ge Kanz­ler des Deut­schen Reichs den sowje­ti­schen Auf­marsch im Juni 1941 intern als den »größ­ten der Geschich­te«, also auch natür­lich als grö­ßer als den eigenen.

Da gab es zum ande­ren die stei­gen­den und anschei­nend gren­zen­lo­sen sowjet­rus­si­schen Ansprü­che. Nun lag die Gren­zen­lo­sig­keit natür­lich im mar­xis­ti­schen Grund­satz­pro­gramm, und das sowje­ti­sche Staats­wap­pen zeig­te fol­ge­rich­tig ganz pro­gram­ma­tisch die Kon­ti­nen­te der gesam­ten Welt in Rot. Den­noch ging man in Ber­lin vor 1941 wie vor 1914 lan­ge Zeit davon aus, auf staat­li­cher Ebe­ne über gewis­se Ver­hand­lungs­spiel­räu­me und die Mög­lich­keit zum Abschluß von Ver­trä­gen wenigs­tens auf Zeit zu ver­fü­gen. Es erwies sich aber erneut, daß es die­se Mög­lich­kei­ten nicht gab, weil weder das zaris­ti­sche noch das sowje­ti­sche Ruß­land bereit waren, in der Ver­fol­gung ihrer staat­li­chen Inter­es­sen auf deut­sche Befind­lich­kei­ten Rück­sicht zu nehmen.

Der Auf­tritt des sowje­ti­schen Außen­mi­nis­ters Molo­tow in Ber­lin im Novem­ber 1940 besei­tig­te hier­an jeden Zwei­fel, ver­lang­te er doch von dem damals auf der Höhe sei­ner Macht­ent­fal­tung ste­hen­den Deut­schen Reich eben­so exis­ten­ti­el­le wie unmög­li­che Zuge­ständ­nis­se und erklär­te das erst vor kaum einem Jahr geschlos­se­ne Abkom­men über die gegen­sei­ti­gen Inter­es­sensphä­ren für erle­digt. Mit ande­ren Wor­ten, er stell­te Bedin­gun­gen, die eigent­lich schon von einer siche­ren deut­schen Nie­der­la­ge aus­gin­gen und die Stel­lun­gen für einen kom­men­den Kon­flikt mit den West­mäch­ten sichern sollten.

Um nun ande­rer­seits den gewis­sen Opti­mis­mus zu ver­ste­hen, mit dem die Wehr­macht 1941 in den Krieg gegen die UdSSR zog, muß man eben­falls zwei­ein­halb Jahr­zehn­te zurück­ge­hen. Wir haben gese­hen, daß die Füh­rung des kai­ser­li­chen Deutsch­land den öst­li­chen Nach­barn vor 1914 als mehr oder weni­ger unüber­wind­lich abge­bucht hat­te. Für den Kriegs­fall war daher vor­ge­se­hen, in einem schnel­len Feld­zug jede mili­tä­ri­sche Dro­hung im Wes­ten zu besei­ti­gen und gegen Ruß­land einen hin­hal­ten­den Krieg zu füh­ren, der dann irgend­wann in einen Kom­pro­miß­frie­den mün­den sollte.

Es kam jedoch alles ganz anders, und es stell­te sich her­aus, daß am Ende nicht Frank­reich, son­dern Ruß­land in einer Ket­te von Offen­si­ven nicht nur weit zurück­ge­drängt, im Jahr 1917 letzt­lich besiegt und zum staat­li­chen Zusam­men­bruch gebracht wer­den konn­te. Für einen geschicht­li­chen Wim­pern­schlag lag danach in den Jah­ren 1917 / 18 tat­säch­lich eine deut­sche Welt­macht­stel­lung in greif­ba­rer Nähe, mit einer öko­no­misch, mili­tä­risch und poli­tisch domi­nie­ren­den Stel­lung in Ost­eu­ro­pa. Über die Grün­de, war­um die­se Opti­on inner­halb eines Jah­res ver­spielt wur­de, kann an die­ser Stel­le nur wenig gesagt wer­den. Innen­po­li­tisch jeden­falls ver­sank das kai­ser­lich-preu­ßi­sche Sys­tem im Streit dar­über, wel­che Dynas­tie nun wel­chen Thron im Osten bekom­men soll­te, wäh­rend die Reichs­tags­op­po­si­ti­on ernst­haft dem Glau­ben anhing, die Haupt­fra­ge des Welt­kriegs sei die Par­la­men­ta­ri­sie­rung Deutschlands.

Aber es ist anzu­mer­ken, daß die­ses Erfolgs­er­leb­nis der rus­si­schen Nie­der­la­ge für die nächs­ten drei­ßig Jah­re nach­wirk­te. Die Sowjet­uni­on gab sich pha­sen­wei­se als Part­ner der Schwar­zen Reichs­wehr, nach 1933 zuneh­mend als Geg­ner, aber sie galt bis 1941 in deut­schen Mili­tär­krei­sen nicht mehr als unüber­wind­li­che Macht. Auch die­je­ni­gen, die vom frü­her oder spä­ter bevor­ste­hen­den Angriff der Roten Armee über­zeugt waren, gin­gen von einer guten Sieg­chan­ce aus, soll­te Deutsch­land dage­gen zu einem selbst­ge­wähl­ten Zeit­punkt im Som­mer prä­ven­tiv vor­ge­hen. Es dau­er­te aller­dings nur Wochen, bis die­se Ansicht durch die Erkennt­nis über das gan­ze Aus­maß der sowje­ti­schen Rüs­tung erschüt­tert wurde.

Mit Erschüt­te­rung reagier­ten die deut­schen Augen­zeu­gen auch auf die Bestä­ti­gung der schlimms­ten Befürch­tun­gen hin­sicht­lich der Bru­ta­li­tät des sowje­ti­schen Sys­tems. Das galt für die Kampf­wei­se der Roten Armee, die kei­ne Gefan­ge­nen mach­te, soweit sie 1941 die Gele­gen­heit dazu bekam. Das galt noch viel mehr für die Lei­chen­ber­ge, die man beim Vor­rü­cken auf den Stra­ßen und in den Kel­lern der erober­ten Städ­te fand. Wer dort ein­saß, und das waren Zehn­tau­sen­de, wur­de kurz vor der Ankunft deut­scher Trup­pen noch erschos­sen oder auf ande­re Wei­se ums Leben gebracht. Fas­sungs­lo­se Wehr­machts­sol­da­ten stan­den vor manns­ho­hen Hau­fen von Toten. Es sind Film­auf­nah­men dar­über erhal­ten geblie­ben. Die­ses Mate­ri­al kön­ne man aber nicht ein­mal für die Pro­pa­gan­da ver­wen­den, notier­te in Ber­lin der zustän­di­ge Minis­ter für die­ses Res­sort. Am 15. Juli 1941 wur­den Joseph Goeb­bels Auf­nah­men sowje­ti­scher Mas­sa­ker gezeigt, und er befand, daß sie »so unge­fähr das Grau­en­er­re­gends­te« dar­stell­ten, was er jemals gese­hen habe. Es sei »unmög­lich, die­se Bil­der für die Öffent­lich­keit frei­zu­ge­ben; es wür­de eine Panik in den Kino­thea­tern geben.«

Auch in die­sem Fall bestä­tig­ten sich Befürch­tun­gen, die Goeb­bels schon lan­ge vor­her geäu­ßert hat­te, etwa im August 1940 unter dem Ein­druck der sowje­ti­schen Okku­pa­ti­on Litau­ens. »Die Rus­sen hau­sen schau­der­haft in Kow­no. Alles, was etwas über den Durch­schnitt her­aus­ragt, wird einen Kopf klei­ner gemacht. Das ist der Bol­sche­wis­mus, wovor wir unser Volk bewah­ren müssen.«

In Zusam­men­hang mit die­sen Ängs­ten und dem mög­li­chen »kau­sa­len Nexus« einer Radi­ka­li­sie­rung und Bru­ta­li­sie­rung natio­nal­so­zia­lis­ti­scher Regie­rungs­pra­xis unter dem Ein­druck sowje­ti­scher Unta­ten hat der deut­sche His­to­ri­ker Ernst Nol­te auf das Stich­wort »Rat­ten­kä­fig« hin­ge­wie­sen. In die­sem Fall geht es um eine Epi­so­de, die nach Nol­tes Mei­nung den deut­schen Staats- und Par­tei­chef per­sön­lich umtrieb. Für Fol­ter­zwe­cke soll der sowje­ti­sche Inlands­ge­heim­dienst dem­nach hung­ri­ge Rat­ten in Käfi­ge gesperrt haben, deren ein­zi­ger Aus­weg dar­in bestand, sich durch die Men­schen zu fres­sen, denen man die Käfi­ge auf­ge­bun­den hat­te. Die­se unmensch­li­che Idee ging spä­ter in die Welt­li­te­ra­tur ein, in Geor­ge Orwells Tota­li­ta­ris­mus­dys­to­pie 1984 etwa wird der Prot­ago­nist letzt­lich mit die­ser Fol­ter­me­tho­de gebro­chen. Nol­te fand es bemer­kens­wert, daß Hit­ler nach der Nie­der­la­ge von Sta­lin­grad geäu­ßert hat­te, der gefan­gen­ge­nom­me­ne Gene­ral­feld­mar­schall Pau­lus wer­de sicher auch bald in den Rat­ten­kä­fig gesteckt und danach alles Gewünsch­te sagen. Ob Rat­ten­kä­fig oder nicht, Fried­rich Pau­lus wech­sel­te tat­säch­lich bald als eine Art Kron­zeu­ge ins sowje­ti­sche Lager und prä­sen­tier­te vor dem Nürn­ber­ger Nach­kriegs­tri­bu­nal auf­trags­ge­mäß die Legen­de vom unpro­vo­zier­ten deut­schen »Über­fall« auf die UdSSR. Dies aller­dings, wäh­rend er gleich­zei­tig in abge­hör­ten Gesprä­chen mit ande­ren Gefan­ge­nen wahr­heits­ge­mäß berich­te­te, 1941 an einem Prä­ven­tiv­krieg mit­ge­wirkt zu haben.

Daß Hit­ler sich jeden­falls noch 1943 an die Geschich­te vom Rat­ten­kä­fig erin­ner­te, die aus den 1920er Jah­ren stamm­te, zeig­te für Ernst Nol­te anschau­lich sei­ne Kon­ti­nui­tät in der Furcht vor dem Bol­sche­wis­mus und des­sen bru­ta­li­sie­ren­den Ein­fluß auf ihn und den Natio­nal­so­zia­lis­mus ins­ge­samt. Der kom­men­de Krieg gegen das Sowjet­re­gime sei wegen des­sen dro­hen­der Angriffs­be­reit­schaft und erwie­se­ner Grau­sam­kei­ten eben­so unver­meid­lich, wie er kein gewöhn­li­cher sein wer­de, führ­te Hit­ler vor der deut­schen Gene­ra­li­tät in einer berüch­tig­ten Rede im Früh­jahr 1941 aus. Er über­zeug­te nicht jeden, ins­be­son­de­re nicht davon, daß als Kon­se­quenz schon vor Kriegs­be­ginn Tei­le des gel­ten­den Kriegs­rechts außer Kraft zu set­zen sei­en. Das lehn­ten vie­le Offi­zie­re ab und grif­fen zu ori­gi­nel­len Metho­den, um die Anord­nun­gen teil­wei­se zu umge­hen. Gene­ral­quar­tier­meis­ter Edu­ard Wag­ner leg­te in Ver­hand­lun­gen mit der SS-Füh­rung bei­spiels­wei­se Wert dar­auf, daß die Aus­füh­rung des Befehls zur Erschie­ßung aller gefan­gen­ge­nom­me­nen Polit­kom­mis­sa­re der Roten Armee der Wehr­macht über­las­sen blei­be. Das sei der ein­zi­ge Weg, den Befehl in der Pra­xis zu umgehen.

Am Ende stand im Som­mer 1941 eine natio­nal­so­zia­lis­tisch-deut­sche und sowjet­rus­si­sche Gewalt­ex­plo­si­on. Bei einem in der For­schung wenig beach­te­ten Front­be­such mach­te Hit­ler sich Anfang August auch von den dunk­len Sei­ten die­ses Feld­zugs ein per­sön­li­ches Bild. »Juden­er­schie­ßun­gen. Mie­se Stim­mung«, notier­te sein Ver­bin­dungs­mann zum Aus­wär­ti­gen Amt, Wal­ter Hewel, für den 7. August 1941. Was der »Füh­rer« dazu ange­merkt hat­te, ver­merk­te er in einem deutsch-indo­ne­si­schen Kau­der­welsch, das er sich bei einem jahr­zehn­te­lan­gen Auf­ent­halt in Süd­ost­asi­en ange­eig­net hat­te. Es ist nicht ein­deu­tig übersetzbar.

»Welch ein gro­ßes Volk«, sag­te Charles de Gaul­le bewun­dernd, als man ihm in der Nach­kriegs-UdSSR die Stel­le des öst­lichs­ten deut­schen Vor­drin­gens zeig­te – und mein­te damit die Deut­schen. In der Tat wur­de die Sowjet­uni­on durch die Wehr­macht schwer ange­schla­gen. An den Rand der Nie­der­la­ge kam sie jedoch nicht, anders als das Zaren­reich. Für eini­ge Jahr­zehn­te wur­den zwi­schen 1945 und 1989 die deut­schen Ängs­te von 1914 und 1941 wahr, und die Beden­ken, die Roland von zur Müh­len zu Kriegs­be­ginn gehabt hat­te, bestä­tig­ten sich.

 

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