Die Angstbewältiger

PDF der Druckfassung aus Sezession 102/ Juni 2021

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

Eine Typen­leh­re von Ellen Kositza, Mar­tin Licht­mesz und Caro­li­ne Sommerfeld

 

Teilt man die mensch­li­che Psy­che wie der Wie­ner Psych­ia­ter Rapha­el Bonel­li in die drei Berei­che »Kopf«, »Herz« und »Bauch« ein, so ist die Angst als Funk­ti­on des Selbst­er­hal­tungs­trie­bes im Bauch zu ver­or­ten. Der Kopf muß die von der Angst aus­ge­lös­ten Affek­te unter Kon­trol­le brin­gen und die Gefah­ren­si­tua­ti­on mög­lichst nüch­tern abwä­gen, wäh­rend das »Herz« die Auf­ga­be hat, »die Ord­nung, die der Kopf erkannt hat, gegen den chao­ti­schen Bauch durch­zu­set­zen« (Bonel­li). Wenn das gelingt, dann hat es ein Mensch geschafft, mutig zu sein.

Angst­be­wäl­ti­gung kann aber auch miß­lin­gen: Ent­we­der die Bauch-Angst obsiegt und man wird kopf­los, oder aber der Kopf flüch­tet sich in die »Ratio­na­li­sie­rung«, die eine erkennt­nis­ab­schir­men­de Pseu­do-Ord­nung simu­liert. Im schlimms­ten Fall führt eine miß­glück­te Angst­be­wäl­ti­gung zu Zwangs­neu­ro­sen oder gar Psy­cho­sen. Man­che Men­schen erstau­nen uns, weil sie Din­ge, die uns bedrü­cken, völ­lig unbe­rührt las­sen, ob aus Affekt­ar­mut, Infor­ma­ti­ons­man­gel oder unter­schied­li­chen Wert­ur­tei­len und Gewich­tun­gen – und umge­kehrt geht es ihnen mit uns genauso.

Frei von Angst ist nie­mand, denn Mut ist nicht Abwe­sen­heit von Angst, son­dern deren Über­win­dung oder Kon­fron­ta­ti­on durch eine bewuß­te Ent­schei­dung. Lao-Tse beschreibt im Tao-te-king die »Meis­ter der alten Zei­ten« als »vor­sich­tig wie der­je­ni­ge, der durch einen win­ter­li­chen Fluß watet«, und »wach­sam wie der der­je­ni­ge, der sich vom Fein­de umge­ben weiß.« Sie waren »frei und sehend«, nicht wie Hei­mi­to von Dode­rers »App­er­zep­ti­ons­ver­wei­ge­rer«, der sei­nen Kopf in den Sand steckt und dadurch erst recht zum Gefan­ge­nen der Lage wird. Wie ein Mensch sei­ne Angst – und damit letz­ten Endes das Wis­sen um sei­ne Ver­wund­bar­keit und Sterb­lich­keit – bewäl­tigt, ist ein ent­schei­den­der Schlüs­sel zu sei­nem Charakter.

 

 

Der Norm­o­path

Der Psych­ia­ter Hans-Joa­chim Maaz hat in Das fal­sche Leben (2017) einen sich mas­siv aus­brei­ten­den Sozi­al­ty­pus cha­rak­te­ri­siert, den er nicht ohne Bit­ter­keit den »Norm­o­pa­then« nennt, also den Über­an­ge­paß­ten, den krank­haf­ten Mit­läu­fer, den­je­ni­gen, der unbe­dingt nor­mal sein will. Die Gefolg­schaft durch Anpas­sung stel­le, so Maaz bereits vor vier Jah­ren, eine Rie­sen­ge­fahr für die Gesell­schaft dar, da »das unge­lieb­te und abhän­gi­ge Selbst sich nicht befrei­en kann; so wird es eher ›bis in den Tod‹ mit­mar­schie­ren als den Auf­stand wagen«.

Der Norm­o­path bewäl­tigt sei­ne inne­re Not (unleug­bar hat er der­zeit Angst vor Anste­ckung, vor Job­ver­lust oder Zurück­wei­sung durch sei­ne peer group) durch eine äuße­re Fas­sa­de, und die­se zunächst gespiel­te Fas­sa­de wirkt dann auf sein Inne­res zurück. So kann er sich damit brüs­ten, »voll gut klar­zu­kom­men« im »neu­en Nor­mal«. Da die­se Klar­kom­mer-Pose von sei­ner Umwelt posi­tiv sank­tio­niert wird, wird sie ihm zur zwei­ten Natur. Der Norm­o­path ist kei­nes­wegs debil und stumpf, son­dern ein per­fek­ter Bewäl­ti­gungs­stra­te­ge – dies gereicht ihm in der Zukunft womög­lich zum sozi­al­dar­wi­nis­ti­schen Vorteil.

Der Norm­o­path nimmt am liebs­ten Zuflucht in sei­ne gelieb­te Medi­en­bla­se und hält die Ver­laut­ba­run­gen des Regie­rungs­kom­mu­ni­qués in der Tages­schau für beson­ders wirk­lich­keits­nah: Die »Pan­de­mie« erzeugt aller­or­ten »schlim­me Bil­der«, doch man muß sich dar­über »infor­mie­ren« und der schwe­ren Lage ins Auge sehen. Sein Cre­do ist #trust­the­sci­ence – er befin­det sich auf der siche­ren Sei­te »der Wis­sen­schaft«. Die klei­nen Ein­schrän­kun­gen des All­tags wer­den durch deren Fort­schrit­te bald über­wun­den sein, er jeden­falls freut sich schon auf den Urlaub mit »grü­nem Paß«, auf den neu­en Job im staats­sub­ven­tio­nier­ten Betrieb mit durch­ge­impf­ter Beleg­schaft und auf den prak­ti­schen digi­ta­len Zugang zu allem. All­tags­mas­ke? »Null problemo!«.

Der Norm­o­path traut der nor­ma­len Wahr­neh­mung nicht (Wie fühlt es sich an, durch­zu­at­men? Wo sind die Seu­chen­to­ten? Bin ich gesund?) und ist des­halb nicht mehr bereit, ele­men­tars­te For­men mensch­li­chen Mit­ein­an­ders (Besuch, Berüh­rung, Kran­ken­pfle­ge, Gesich­ter) für das Nor­ma­le zu hal­ten, son­dern will sie vehe­ment erset­zen durch sozia­le Kon­tra­zep­ti­va: Mit­tel, die die Emp­fäng­lich­keit für den Mit­men­schen ver­hin­dern. Er ist dem­entspre­chend unemp­fäng­lich für jede Form von Angst sei­tens derer, die sei­ne Impf­ge­wiß­heit und sei­nen Glau­ben an Wis­sen­schaft und »Schö­ne Neue Welt« nicht tei­len. Oft­mals ist er nicht nur unemp­fäng­lich, son­dern, da er ja ein Norm­o­path ist, aus­ge­spro­chen aggres­siv ein­ge­stellt gegen­über frem­den Nöten, die nicht sei­ner Wahr­neh­mungs­bla­se ent­stam­men. Daß einer Angst vor der Imp­fung hät­te? Kin­disch! Daß einer Angst vor der Zukunft hät­te? Ver­schwö­rungs­theo­re­ti­ker! Daß einer Angst vor der Dik­ta­tur hät­te? Antidemokrat!

Die Angst­be­wäl­ti­gungs­stra­te­gie des Normo­pathen kann einem wirk­lich angst machen. Sie wird noch gestei­gert durch die Beob­ach­tung, daß es sich um einen sich ende­misch aus­brei­ten­den Typus Mensch han­delt. (CS)

 

 

Die Täti­ge

Waaas? Die wol­len jetzt auch Kin­der imp­fen? Wie bit­te? Die schlie­ßen Hun­der­te Kran­ken­häu­ser und bekla­gen zugleich einen Man­gel an Inten­siv­bet­ten? Kann nicht wahr sein: Als »gene­sen« soll man nur ein paar Mona­te lang gel­ten? Die Täti­ge hört’s, schüt­telt den Kopf und geht an die Arbeit. Das Kind muß ja gewi­ckelt, das Huhn gerupft und die Saat gegos­sen wer­den. Auf dem Schreib­tisch war­tet die Arbeit, der Klei­ne muß um vier abge­holt wer­den, und mor­gen erwar­tet der Chef die Ent­wür­fe. Bis Frei­tag muß die­ser Antrag in der Post sein. Heu­te ist heu­te, mor­gen hab ich das zu erle­di­gen und über­mor­gen jenes. Danach wird man sehen. Kann sein, daß es dann eine neue Devi­se gibt. Wenn es soweit ist, wird man reagie­ren müs­sen. Vor­he­ri­ge Spe­ku­la­tio­nen kos­ten nur Kraft und len­ken ab. Und, hilft ja alles nichts: Die Büsche brau­chen Was­ser, das Kind die Brust, und wem der Sonn­tag gehört, ist ohne­hin nicht dis­po­ni­bel.            (EK)

 

 

Der Ver­nunft­ex­tre­mist

Angst, so äußer­te sich schon vor län­ge­rem die lin­ke Kämp­fe­rin »gegen den Haß«, Caro­lin Emcke, ver­en­ge den Blick und unter­gra­be die Ver­nunft. Dies pas­se auf alle »illi­be­ra­len Phä­no­me­ne«, die unse­re libe­ra­len Gesell­schaf­ten zum Vor­schein bräch­ten. Von der Angst pro­fi­tier­ten dann extre­mis­ti­sche Mei­nungs­ma­cher links wie rechts. In der Mit­te sitzt dick und fett die unbe­irr­ba­re Ver­nunft. Der Ver­nunft­ex­tre­mist deu­tet die aris­to­te­li­sche Leh­re vom Maß­hal­ten in Bequem­lich­keit und Über­heb­lich­keit um. In der Mit­te liegt die gol­de­ne Tugend des Maßes, nach bei­den Sei­ten gibt es für ihn gleich gro­ße, maß­lo­se und gefähr­li­che Abwei­chun­gen. Erblickt er Angst auf bei­den Sei­ten des poli­ti­schen Spek­trums, ist dies ein Spek­ta­kel für den Ver­nünf­ti­gen, der für sich den Sitz­platz in der Mit­te mit Aus­sichts­platt­form reser­viert hat.

Maß­hal­ten ist das Fun­da­ment aller Tugen­den und hilft aus­ge­zeich­net gegen Angst. Aris­to­te­les eig­net sich also treff­lich als phi­lo­so­phi­scher See­len­füh­rer – nur darf man ihn nicht umdeu­ten zu eige­nen Guns­ten und ein­fach behaup­ten, man befin­de sich selbst­ver­ständ­lich in der Mitte.

Emcke ist ein beson­de­rer Lecker­bis­sen in Sachen Umdeu­tung zu eige­nen Guns­ten: Ihren eige­nen Extre­mis­mus prä­sen­tiert sie stolz als »libe­ral«, dabei liegt er im Huf­ei­sen in Wirk­lich­keit erheb­lich weit links. Ihre Angst­lo­sig­keit und Haß­lo­sig­keit sind rei­ne Pro­jek­ti­on der eige­nen Irra­tio­na­li­tät auf Anders­den­ken­de, denn vor nichts hat sie mehr Angst als vor die­sen. Wider jede Ver­nunft quält Leu­te ihres Schla­ges näm­lich gro­ße Angst vor dem »Rechts­extre­mis­mus«. Aus der Sicht der rei­nen Ver­nunft erschei­nen »Ängs­te« (immer im Plu­ral) als unver­nünf­ti­ge Stö­run­gen des Gleich­ge­wichts. Bei Emcke han­delt es sich um will­kür­li­che, frei flot­tie­ren­de Ängs­te, die nichts mit etwa­igen Wirk­lich­kei­ten zu tun haben.

Der Ver­nunft­ex­tre­mist hält das »Panik­pa­pier« der Bun­des­re­gie­rung und die ­Dop­pel- und Tri­pel­mas­ke für im sel­ben Maße lach­haft wie die »Kata­stro­phen­sehn­sucht« der Verschwörungs­theoretiker, denn in der Ruhe liegt ja bekannt­lich die Kraft der Ver­nunft. Er ver­kennt dabei, daß bewuß­tes Panik­schü­ren, Holz­ham­mer­maß­nah­men und offen kon­zer­tier­te Welt­um­bau­plä­ne sei­tens der poli­tisch Ver­ant­wort­li­chen über­haupt erst als Reak­ti­on die Angst vor einer weit grö­ße­ren Kata­stro­phe als der COVID-19-­In­fek­ti­on auf der einen Sei­te des Huf­ei­sens erzeugt haben. »Ver­nunft« wird dann zum extre­mis­ti­schen Tot­schlag­ar­gu­ment, wenn von ihrer ange­maß­ten War­te aus jeg­li­che (auch berech­tig­te) Angst und Sor­ge für »irra­tio­nal« und der poli­ti­sche Dis­kurs über deren Grün­de von vorn­her­ein für been­det erklärt wird.          (CS)

 

 

Die Bla­sen­be­woh­ne­rin

Sie ist Aka­de­mi­ke­rin, im fort­ge­schrit­te­nen Alter, hat kei­ne Kin­der (wenn auch einen müt­ter­li­chen Habi­tus), einen wohl­ha­ben­den Mann, gehört der gebil­de­ten grü­nen Bour­geoi­sie an und lebt in einem schmu­cken Wie­ner Stadt­teil, in dem Kir­chen und Kin­der­gär­ten mit Regen­bo­gen­fah­nen geschmückt wer­den. Sie ist zwar der Ansicht, daß »Coro­na« ein biß­chen mehr ist als ein Hus­ten, hat aber per­sön­lich kei­ne über­mä­ßi­ge Angst davor. Sie ist Impf­be­für­wor­te­rin, hält Wider­stand dage­gen für reak­tio­när und aber­gläu­bisch und sieht kei­ner­lei »Zwang« am Werk – ihr Freun­des­kreis und sie selbst haben sich doch alle schon frei­wil­lig imp­fen las­sen, ohne grö­ße­re Fol­ge­pro­ble­me! Neu­lich haben sie und ihr Mann ein Haus außer­halb der Stadt erwor­ben. Dort kön­nen sie jeder­zeit Son­nen­schein, Blu­men, Pflan­zen, Kräu­ter und Bäu­me genie­ßen, wenn ihnen der Groß­stadt­tru­bel mal wie­der zuviel wird. Ihr Leben ist größ­ten­teils angst­frei, und sie bewäl­ti­gen auch die Coro­na­kri­se mit hei­te­rer Resi­li­enz.       (ML)

 

 

Der Gläu­bi­ge

»Man steht hier in Got­tes Hand, wie sonst auch; aber man fühlt deren war­men Grund, man bekommt ihn all­mäh­lich unter die Füße, nach dem Zusam­men­bre­chen des dün­nen Bret­ter­bo­dens einer absur­den Seku­ri­tät, deren zwei­fel­haf­te Prä­senz uns die größ­ten Stre­cken des Lebens hin­durch doch not­wen­dig tra­gen muß­te« (Hei­mi­to von Dode­rer: Tan­gen­ten, 22. Juni 1942).

Es brauch­te eigent­lich nicht erst der Erfah­run­gen des ver­gan­ge­nen Jah­res, um das »Zusam­men­bre­chen des dün­nen Bret­ter­bo­dens einer absur­den Seku­ri­tät« zu bemer­ken – wir Deut­schen haben das Kna­cken bereits seit mehr als hun­dert Jah­ren wahr­neh­men kön­nen. Man­cher bemerk­te es des­halb so spät, weil er sich auf die Sicher­heit des Staa­tes, des Sozi­al- und Gesund­heits­sys­tems, der frei­heit­li­chen demo­kra­ti­schen Grund­ord­nung und der funk­tio­nie­ren­den Wirt­schaft ver­las­sen hat, auf die gleich­ge­sinn­ten Freun­de und die Fami­li­en­ban­de. Die »zwei­fel­haf­te Prä­senz« die­ser Rund­um­ver­sor­gung hat ihn getra­gen, so kam es ihm jeden­falls vor. Bricht die­ser Bret­ter­bo­den nun end­gül­tig zusam­men, tra­gen also die Stüt­zen eine nach der ande­ren nicht mehr, sieht man sich plötz­lich aller Sicher­heit beraubt, selbst vor­her halt­ge­ben­de Bezie­hun­gen zer­bre­chen. Namen­lo­se Angst vor dem frei­en Fall, vor der Exis­tenz­ver­nich­tung kann einen dann packen, oft beglei­tet vom Gefühl der Sinn­lo­sig­keit aller lebens­lan­gen Mühen der Existenzsicherung.

Wie wäre es, wenn dies alles geschieht, damit man bemerkt, daß es unter dem »dün­nen Bret­ter­bo­den« der irdi­schen Exis­tenz noch einen zwei­ten, wesent­lich trag­fä­hi­ge­ren Boden gibt? Daß einem die für sicher gehal­te­nen Stüt­zen sogar ent­zo­gen wer­den müs­sen? Für den Gläu­bi­gen kommt die­se Erfah­rung einem Got­tes­be­weis gleich, er ist des­halb in einem wirk­li­chen Sin­ne ohne Angst. Tu autem, Deus, in aeter­nam per­ma­nes, heißt es in den Kla­ge­psal­men. Wer im Glau­ben gefes­tigt ist, weiß sich in Got­tes Hand, wer es noch nicht ist, bekommt, ängst­lich stram­pelnd und sich an Bret­ter­res­te klam­mernd, den war­men Grund erst all­mäh­lich unter die Füße. Doch erreicht der Gläu­bi­ge, wäh­rend er auf Erden wan­delt, jemals wirk­lich die­sen Boden? Muß er nicht stän­dig dar­um rin­gen? »Wir­ket euer Heil in Furcht und Zit­tern«, schreibt Pau­lus an die Phil­ip­per. (CS)

 

 

Die Gene­se­ne

Sie ist durch­aus eine tra­gi­sche Figur. Sie hat­te die­se und jene Angst. Nichts Unnor­ma­les. Vor der fie­sen Kol­le­gin. Nachts allein im Haus. Oder vor Sprit­zen und Gewit­tern. Dann brach der ech­te Hor­ror in ihr Leben. Krebs. Ein über­leb­ter schwe­rer Auto­un­fall. Tod des Kin­des. Abge­brann­tes Haus. Jeden­falls: ein exis­ten­ti­el­les Dra­ma. Der Ter­mi­nus »Trau­ma« wird heu­te miß­bräuch­lich und infla­tio­när ver­wen­det. Trau­ma­ti­siert ist nicht eine, die obs­zö­ne Anfra­gen im sozia­len Netz­werk erhal­ten hat, und auch kei­ne, die von ihrer Mut­ter frü­her zu Höchst­leis­tun­gen ange­trie­ben wur­de. Eine ech­te trau­ma­ti­sche Belas­tungs­stö­rung kann nur dann ein­tre­ten, wenn das (Über-) Leben selbst auf der Kip­pe stand. Das Trau­ma ist eine Mög­lich­keit der Reak­ti­on. Eine ande­re ist, die Din­ge fort­an zu rela­ti­vie­ren. Eine Fra­ge, die Psy­cho­the­ra­peu­ten gewöhn­lich ihren Angst­pa­ti­en­ten auf­ge­ben, lau­tet: »Wenn das Befürch­te­te nun ein­trä­te – was wäre die ärgs­te Kon­se­quenz? Den­ken Sie es mal bis zum Ende durch.« Han­dels­üb­li­che Ängs­te kön­nen dann rasch »nich­tig und klein« (Rein­hard Mey) erschei­nen. Ein ähn­li­cher Effekt kann bei denen ein­tre­ten, die das Äußers­te durch­ha­ben. »Wer das ver­lor / Was du ver­lorst, macht nir­gends Halt«, besang Nietz­sche die­je­ni­ge, die nichts mehr zu ver­lie­ren hat­te. Das muß nicht not­wen­dig eine Hal­tung der Aus­sichts­lo­sig­keit sein. Hin­ge­gen viel­leicht die Gewiß­heit, nie­mals mehr tie­fer fal­len zu kön­nen.   (EK)

 

 

Die Psy­cho­lo­gen

»Kraft fin­den in der Kri­se: Mit Dum­ble­do­re und Beppo Stra­ßen­keh­rer gegen Coro­na-Erschöp­fung« war der Titel eines Arti­kels, der Ende April im Netz­werk des Main­stream­rie­sen 1&1 Mail & Media GmbH (GMX, web.de) kur­sier­te. Unter Beru­fung auf zwei »Exper­tin­nen« ver­such­te die Autorin prak­ti­sche Tips zu geben, wie man mit der see­li­schen Belas­tung in der Coro­na­vi­rus­kri­se (»hohe Infek­ti­ons­zah­len, wei­ter Lock­down, erneu­ter Frust«) umge­hen könn­te, unter ande­rem nach dem Vor­bild von Cha­rak­te­ren aus Har­ry Pot­ter oder Momo.

»Kraft­quel­len« könn­te man sich dem­nach durch Musik­hö­ren, Tan­zen, »Übun­gen der Acht­sam­keit und Lang­sam­keit, etwa durch Yoga oder Medi­ta­ti­on«, oder das Füh­ren eines »Dank­bar­keits­ta­ge­buchs« erschlie­ßen. Dabei soll man frei­lich nicht »die Umstän­de aus­blen­den«, son­dern »es neh­men, wie es ist«, wie die Fami­li­en­the­ra­peu­tin Anet­te Fran­ken­ber­ger »betont«: »Ja, es ist anstren­gend und schwie­rig gera­de. Ja, ich bin trau­rig – oder viel­leicht wütend. Und jedes Gefühl, das ich des­we­gen habe, hat sei­ne Berech­ti­gung«. Die Ant­wort lau­tet also: Gefühls­ma­nage­ment und Wohlfühlthera­peutik. Man soll »durch­hal­ten«, gleich­sam die Beru­hi­gungs­pil­le schlu­cken, um sei­ne Gefüh­le krei­sen (Angst wird übri­gens gar nicht erwähnt), und dabei mög­lichst wenig in Fra­ge stel­len, was sie aus­ge­löst hat (die »Infek­ti­ons­zah­len« oder doch eher die Bericht­erstat­tung darüber?).

Tie­fer bohrt hier der ein­gangs erwähn­te Rapha­el Bonel­li, eine kri­ti­sche Stim­me seit Beginn der Kri­se: »Was psy­cho­dy­na­misch jetzt geschürt wird, ist die­ses stän­di­ge The­ma der Angst«, kon­sta­tier­te er in einem Inter­view mit der Zei­tung Wochen­blick, die ihn als »Mut-Psych­ia­ter« titu­lier­te. Dadurch sei unse­re Gesell­schaft in den Bann einer »kol­lek­ti­ven Zwangs­neu­ro­se« mit wach­sen­dem Lei­dens­druck gera­ten. Die Maß­nah­men wer­den von vie­len als Demü­ti­gung wahr­ge­nom­men, wodurch auch Wut und Aggres­sio­nen stei­gen, ins­be­son­de­re bei Men­schen auf der ande­ren Sei­te des Mei­nungs­spek­trums. Für aus psych­ia­tri­scher Hin­sicht beson­ders fatal hält er die Mas­ken­tra­ge­pflicht, die Beklem­mun­gen und Kom­mu­ni­ka­ti­ons­stö­run­gen aus­löst und von vie­len als »Geß­ler­hut« emp­fun­den wird.

Bonel­li plä­diert hier für »Gelas­sen­heit« auf der Basis von stoi­scher Lebens­klug­heit, aber auch rea­lis­ti­scher Ein­schät­zung der Lage: So the­ma­ti­siert er immer wie­der die tat­säch­li­che Gefähr­lich­keit des Virus im Ver­hält­nis zu sei­ner media­len und poli­ti­schen Reprä­sen­ta­ti­on. Die klas­si­schen psy­cho­lo­gi­schen Mecha­nis­men Ver­drän­gung und Ver­leug­nung sieht er auch in bezug auf die Dys­funk­tio­na­li­tät der Maß­nah­men am Werk: Vie­le woll­ten die pro­ble­ma­ti­schen Neben­wir­kun­gen der Impf­stof­fe, bis hin zu Todes­fäl­len, nicht wahr­ha­ben und reagie­ren mit akti­vem Wegschauen.

Aber auch auf sei­ten der Angst­ma­schi­ne­rie gibt es Psych­ia­ter, die ihr Arse­nal ver­wen­den, um Ein­wän­de gegen die Ein­däm­mungs­po­li­tik zu psy­cho­ana­ly­sie­ren: So kon­sta­tier­te einer, frei­lich auf pri­va­ter Ebe­ne und nicht als behan­deln­der Arzt, ich befän­de mich im Sta­di­um der »Ver­leug­nung« und wol­le die Gefähr­lich­keit des Virus nicht wahr­ha­ben. Mei­ne »idio­ti­schen« Argu­men­te habe er wort­wört­lich aus dem Mun­de von Pati­en­ten gehört. Offen­bar gebe es hier eine gemein­sa­me Quel­le, deren Phra­sen nun auch ich »nach­plap­pe­re«. Ich sol­le statt des­sen lie­ber lesen, was das Deut­sche Ärz­te­blatt schreibt. Ansons­ten ist die­ser Psych­ia­ter pri­vat und beruf­lich am Ende sei­ner Kräf­te, glü­hen­der Befür­wor­ter von Impf­zwang, grü­nen Päs­sen und Frei­heits­ein­schrän­kun­gen für Umge­impf­te und Unge­tes­te­te. Die Mas­sen­imp­fun­gen betrach­tet er als ein­zi­gen Aus­weg aus der Kri­se – des­halb weni­ger Angst vor Neben­wir­kun­gen, son­dern mehr Mut und »Pio­nier­geist«, bit­te­schön!            (ML)

 

 

Der Neo-Neo­stoi­ker

Mit der phi­lo­so­phi­schen Schu­le der Stoa ver­bin­den wir eine alt­grie­chi­sche Weis­heits­leh­re, die um 300 v. Chr. ent­wi­ckelt wur­de. Tugen­den der Gelas­sen­heit, der »See­len­ru­he« und der emo­tio­na­len Unbe­tei­ligt­heit wur­den groß­ge­schrie­ben. Zen­on von Kiti­on, Sene­ca und Marc ­Aurel zähl­ten zu den Ver­tre­tern. Den­ker wie Plut­arch, Plo­tin und Galen wand­ten sich dezi­diert gegen die­se Atti­tü­de des »Gesche­hen­las­sens«.

Im 16. Jahr­hun­der­te, wir reden vom Späthumanis­mus, faß­te dann der soge­nann­te Neo­stoi­zis­mus Fuß. »Erfin­der« bezie­hungs­wei­se Haupt­ver­tre­ter war der Fla­me Jus­tus Lip­si­us, der mit sei­nen Schrif­ten eine Art popu­lis­ti­sche früh­ba­ro­cke Neo­stoa vor­an­trieb. Eine noch publi­kums­nä­he­re Neo-Neo­stoa ist neu­er­dings im Main­stream ver­brei­tet. Aktu­el­le best­ver­kauf­te Titel lau­ten etwa: Stoi­zis­mus – Tag für Tag: Wie du in 30 Tagen eiser­ne Dis­zi­plin, inne­re Stär­ke, umfas­sen­de Selbst­kennt­nis und stoi­sche Ruhe erlangst.

Oder schau­en wir in den Kalen­der Stoi­sche Lebens­weis­hei­ten für jeden Tag (2021): »Hier war­ten 365 Zita­te von den wich­tigs­ten Stoi­kern auf dich, mit deren Hil­fe du dein Leben gelas­se­ner und erfolg­rei­cher gestal­ten kannst. Stoi­zis­mus ist in aller Mun­de: Die Rück­be­sin­nung auf stoi­sche Tugen­den wird von Stu­den­ten, Berufs­ein­stei­gern und Chefs prak­ti­ziert, von der Haus­frau bis zur Spit­zen­ma­na­ge­rin: Jeder möch­te von den Stoi­kern ler­nen. Doch war­um eigent­lich?« Rhe­to­ri­sche Ver­kaufs­fra­ge! Denn, na klar: Wir alle hät­ten gern eine dicke­re Haut.

In neu­rech­ten Krei­sen lau­tet die (per Anste­cker oder Auf­kle­ber ver­brei­te­te) Losung »Me ne fre­go«, was frei mit »inter­es­siert mich nicht« oder »geht mir am A*** vor­bei« über­setzt wer­den kann. Man kann eine sol­che Hal­tung tat­säch­lich zu ver­in­ner­li­chen ler­nen – dann ist sie mehr als ein Pfei­fen im Wal­de. Wer es weni­ger säku­lar haben möch­te, nimmt als stoi­sches Man­tra das ortho­do­xe Her­zens­ge­bet.   (EK)

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

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