Angstmacher und Kassandra

PDF der Druckfassung aus Sezession 102/ Juni 2021

Martin Lichtmesz

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

Am 30. Janu­ar 2020 über­goß der Baye­ri­sche Rund­funk im Rah­men der Rei­he quer in zwei Bei­trä­gen »Men­schen aus dem rech­ten Spek­trum« mit Spott, die in den sozia­len Medi­en Angst vor einem Virus aus Chi­na machen woll­ten:  »Das Virus ist mutiert!«, feix­te die Mode­ra­to­rin Ste­pha­nie Probst: »Und zwar von einem Virus zu einem psy­cho­lo­gi­schen Mas­sen­phä­no­men: Panik. Denn die brei­tet sich in Deutsch­land der­zeit schnel­ler aus als das Virus selbst. Die ers­ten lau­fen sogar schon mit Mund­schutz durch die Städ­te«, wäh­rend sich in den sozia­len Medi­en »Fake News, Ver­schwö­rungs­theo­rien und Berich­te« häuf­ten, »die Angst vor dem Coro­na­vi­rus machen sollen«.

Psy­cho­lo­gisch sei klar, was hier pas­siert: Das Virus »ist fremd, und das Frem­de macht uns angst«. Die Angst­ma­cher ver­folg­ten jedoch neben dem Angeln nach »Klicks« ein noch viel sinis­te­res Ziel: »Desta­bi­li­sie­rung. Die Bevöl­ke­rung soll beun­ru­higt wer­den, was das Ver­trau­en in den Staat und des­sen Glaub­wür­dig­keit erschüt­tern soll.« So näh­men sie das Virus zum Anlaß, um Grenz­schlie­ßun­gen zu for­dern: »Vor frem­den ›Kil­ler­vi­ren‹ haben wahr­schein­lich noch mehr Men­schen Angst als vor frem­den Men­schen aus frem­den Ländern.«

In die­sel­be Ker­be schlug Chris­toph Süß, der einen Tweet von Mar­tin Sell­ner zitier­te: »Das Wuhan-Virus ver­brei­tet sich rasend schnell. Offe­ne Gren­zen bedeu­ten auch offe­ne Gren­zen für Viren.« Wäh­rend ein rie­si­ges, über­trie­ben gro­tes­kes Coro­na­vi­rus durchs Bild schweb­te, kom­men­tier­te Süß süf­fi­sant: Wer wie Sell­ner »die Apo­ka­lyp­se zur Basis sei­nes Den­kens macht, der schlägt Maß­nah­men zu deren Ver­wirk­li­chung vor. Was wäre, wenn man die Gren­zen schlie­ßen wür­de? Vor­teil: Kei­ne Aus­län­der kom­men mehr her­ein, juhu! Nach­teil: Kein Ver­kehr mehr, Flug­zeu­ge blei­ben am Boden, Züge fah­ren nicht, qua­si Gene­ral­streik, die Wirt­schaft erlahmt, Kri­se, und schon hät­te man genau das, was man drau­ßen hal­ten will: das Desas­ter. Natür­lich betei­ligt sich auch der Asth­ma­an­fall für Deutsch­land, kurz AfD, an der Para­noia­pro­duk­ti­on und rech­te You­Tuber krie­gen sich vor lau­ter End­zeit­psy­cho­sen gar nicht mehr ein.«

Tat­säch­lich schie­nen wir uns zu die­sem Zeit­punkt in einem Film zu befin­den, der uns aus der Flücht­lings­kri­se von 2015 oder aus dem Heer­la­ger der Hei­li­gen ver­traut war, mit den »Rech­ten« in der Rol­le der hell­sich­ti­gen Kas­san­dra, der nie­mand Glau­ben schen­ken will, und den »Main­stream­m­e­di­en« als ernst­fall­blin­de, infan­ti­le Beschwich­ti­ger. Einen Monat spä­ter lau­te­te die Bot­schaft der öffent­lich-recht­li­chen Sen­der, daß man das neu­ar­ti­ge Coro­na­vi­rus sehr ernst neh­men müs­se, und am 22. März ver­häng­te die deut­sche Regie­rung einen »Lock­down«, der stark dem Sze­na­rio ähnel­te, das Süß als siche­res Rezept für ein »Desas­ter« aus­ge­macht hat­te. Par­al­lel setz­te sich im rech­ten Spek­trum die Ansicht durch, daß die Gefähr­lich­keit des Virus sys­te­ma­tisch über­trie­ben wer­de, um ein poli­ti­sches Süpp­chen unge­heu­ren Aus­ma­ßes zu kochen. In einem Punkt blieb das Framing des Main­streams unver­än­dert: »Fake News« und »Ver­schwö­rungs­theo­rien« waren wei­ter­hin aus­schließ­lich Sache der sozia­len und alter­na­ti­ven Medi­en, und die »Rechts­extre­men« ver­folg­ten nach wie vor den Zweck, »das Ver­trau­en in den Staat und des­sen Glaub­wür­dig­keit« zu erschüt­tern. Dies­mal aller­dings nicht, indem sie Angst­ma­che vor dem Virus betrie­ben, son­dern indem sie die Angst­ma­che des Staa­tes vor dem Virus kritisierten.

Das schwin­den­de Ver­trau­en gro­ßer Bevöl­ke­rungs­grup­pen in Staat und Medi­en wur­de zum ent­schei­den­den poli­ti­schen The­ma der nächs­ten Mona­te. Wie im Jahr 2015 unter­stell­ten die geg­ne­ri­schen Lager ein­an­der spie­gel­bild­lich ­ethi­sche Defek­te, Ver­ant­wor­tungs­lo­sig­keit und Ver­blen­dung. Grob gesagt teilt sich die Gesell­schaft seit letz­tem Jahr in jene, die mehr Angst vor einer Pan­de­mie, und jene, die mehr Angst vor der Pan­de­mie­be­kämp­fung haben, bis hin zu einer bevor­ste­hen­den oder sogar schon teil­wei­se umge­setz­ten »Pan­de­mie­dik­ta­tur«.

Die Pan­de­mie­gläu­bi­gen sehen tum­be, rück­sichts­lo­se Lem­min­ge auf die Klip­pe zura­sen, die ande­ren sehen gehirn­ge­wa­sche­ne »Schlaf­scha­fe«, die sich zur Schlacht­bank füh­ren las­sen. Die einen freu­en sich auf ihren Impf­ter­min wie auf Weih­nach­ten, die ande­ren fürch­ten den Tag, an dem man sie und ihre Kin­der dazu zwin­gen wird, die Nadel zu emp­fan­gen, womög­lich in trü­ge­ri­scher und böser Absicht, im Rah­men eines Plans zur Bevöl­ke­rungs­kon­trol­le, aus ruch­lo­sem Pro­fit­stre­ben oder um die staat­li­che Macht über den Kör­per des ein­zel­nen aus­zu­wei­ten. In einer Zwi­schen­zo­ne befin­den sich jene, die vor allem Ord­nungs­stra­fen und sozia­le Exklu­si­on fürch­ten, wenn sie sich nicht »kor­rekt« verhalten.

In die­ser Lage erwei­sen sich die Kri­te­ri­en nütz­lich, anhand derer Caro­li­ne Som­mer­feld und ich die aus der Flücht­lings­kri­se erwach­se­ne »Spal­tung der Gesell­schaft« ana­ly­sier­ten. In unse­rem Buch Mit Lin­ken leben (2017) kamen wir zu dem Ergeb­nis, daß die ent­schei­den­den Bruch­li­ni­en nicht unmit­tel­bar mit »rechts« und »links« zu tun haben. Sie lau­ten: a) Ver­trau­en vs. Miß­trau­en in die Main­stream- und Mas­sen­me­di­en, b.) Rea­lis­mus vs. Uto­pis­mus und c.) glo­ba­lis­ti­sche vs. anti­glo­ba­lis­ti­sche Positionen.

Für die sozia­le Dyna­mik der »Coro­na­vi­rus­kri­se« ist vor allem Punkt a) von Bedeu­tung, aber auch b) im Sin­ne der Fra­ge, wo die wis­sen­schaft­li­che Ver­nunft nun »wirk­lich« ste­he. Der Ver­lust des Ver­trau­ens in die Leit­me­di­en beruht auf der Wahr­neh­mung, daß die­se immer ein­sei­ti­ger bestimm­ten poli­ti­schen Inter­es­sen die­nen, immer weni­ger Wider­spruch zulas­sen und immer dreis­te­re Mani­pu­la­tio­nen vor­neh­men. Die­se Wahr­neh­mung, die aus der Sicht des Staa­tes »desta­bi­li­sie­rend« wirkt, war im rech­ten Spek­trum schon vor 2020 vor­herr­schend und hat seit­her wei­te Tei­le auch des lin­ken und des libe­ra­len Lagers erfaßt.

Die Kom­men­ta­re von Süß und Probst illus­trie­ren zwei wei­te­re Beob­ach­tun­gen aus Mit Lin­ken leben: zum einen das »Licht­mesz-Som­mer­feld-Gesetz« der Pro­jek­ti­on eige­ner Absich­ten und Sen­ti­ments auf den »Rech­ten«, zum ande­ren die Dis­sens-For­mel »Ich seh etwas, was du nicht siehst«. Die dar­aus ent­ste­hen­den Mus­ter ähneln sich: Die »alte« Spal­tung war etwa dadurch gekenn­zeich­net, daß die einen sich eher vor Ein­wan­de­rungs­wel­len und isla­mi­schen Ter­ror­an­schlä­gen fürch­te­ten, die ande­ren mehr vor »Nazis« und »Rechts­po­pu­lis­ten«, die die­se Ein­wan­de­rungs­wel­len und Anschlä­ge »instru­men­ta­li­sie­ren« könn­ten. Aus dem Phä­no­men des App­er­zep­ti­ons­dis­sen­ses ergibt sich eine alte Gene­ral­deu­tung rech­ter Posi­tio­nen: Rech­te sind dem­nach vor allem Men­schen, die von irra­tio­na­len Affek­ten wie »Haß« und »Angst« ange­trie­ben wer­den. Sie sind »Angst­ma­cher« (so der Titel eines Buches über die »Neue Rech­te«), sie brin­gen »Angst für Deutsch­land« (so der Titel eines Buches über die AfD) und wer­den von aller­lei »Pho­bien« heim­ge­sucht: vor Homo­se­xu­el­len, Mus­li­men oder Ausländern.

Das Sys­tem, das die­se Deu­tung pro­pa­giert, benutzt gleich­zei­tig Angst vor sozia­ler Äch­tung, um Anders­den­ken­de zu beherr­schen. Es geht also weni­ger dar­um, wer Angst hat und wer nicht, son­dern wer Angst vor den »rich­ti­gen« Din­gen hat, wer Rea­list und wer Rea­li­täts­ver­wei­ge­rer oder ‑ver­zer­rer ist. Daß »Angst ein schlech­ter Rat­ge­ber« sei und man die Gesell­schaft vor »Angst­ma­chern« schüt­zen müs­se, war vor 2020 Teil der übli­chen Rhe­to­rik des Establishments.

Spä­tes­tens seit dem Leak des inter­nen »Panik­pa­piers« des Bun­des­in­nen­mi­nis­te­ri­ums wis­sen wir, daß »Angst­ma­che« auch den herr­schen­den Preis­de­mo­kra­ten als legi­tim erscheint, wenn sie der Ansicht sind, daß sie einem »guten Zweck« dient. Die trä­ge, unein­sich­ti­ge Her­de muß zu ihrem eige­nen Schutz erschreckt wer­den. Und wer sich nicht vor dem Virus fürch­tet, soll sich eben vor Geld­stra­fen und ande­ren Sank­tio­nen fürch­ten. »Ich will, daß ihr in Panik gera­tet!« sag­te Gre­ta Thun­berg, eine ver­zwei­fel­te Kas­san­dra, die nicht fas­sen kann, daß immer noch kei­ne tota­le Mobil­ma­chung gegen den bevor­ste­hen­den Kli­ma-Holo­caust im Gan­ge ist – ein Gefühl, das man­chem ver­traut ist, der in den letz­ten Jah­ren enor­me Ener­gien inves­tiert hat, um die Öffent­lich­keit vor der »Isla­mi­sie­rung« und dem »Gro­ßen Aus­tausch« zu war­nen: Die Töne wer­den schril­ler, wenn man den Ein­druck hat, kein Gehör zu finden.

Als Rech­ter fühlt man sich zuwei­len wie Ste­fan Geor­ge: »Was euch erschüt­tert ist mir lang ver­traut«, oder auch wie C. G. Jung, der ein­mal schrieb: »Ach, die­se bra­ven, tüch­ti­gen, gesun­den Men­schen, sie kom­men mir immer vor wie jene opti­mis­ti­schen Kaul­quap­pen, die in einer Regen­was­ser­pfüt­ze dicht­ge­drängt und freund­lich schwän­zelnd an der Son­ne lie­gen, im seich­tes­ten aller Gewäs­ser, und nicht ahnen, daß schon mor­gen die Pfüt­ze aus­ge­trock­net ist.«

Wer hin­ge­gen nicht an die Heim­tü­cke der Grie­chen glaubt, neigt zu dem Glau­ben, daß die Kas­sand­ren in Wahr­heit selbst nicht an ihre War­nun­gen glau­ben und viel­mehr Ver­füh­rer und Dem­ago­gen sind. Über ein Jahr nach Beginn der »Coro­na­vi­rus­kri­se« glaubt ver­mut­lich nie­mand mehr im »maß­nah­men­kri­ti­schen« Lager, daß die herr­schen­den Poli­ti­ker immer noch bona fide han­deln, und wir sind erschro­cken über unse­re Zeit­ge­nos­sen, die uns am einen Pol zu hys­te­risch und angst­er­füllt und am ande­ren zu blind und gut­gläu­big erscheinen.

 

Martin Lichtmesz

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

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