Am 30. Januar 2020 übergoß der Bayerische Rundfunk im Rahmen der Reihe quer in zwei Beiträgen »Menschen aus dem rechten Spektrum« mit Spott, die in den sozialen Medien Angst vor einem Virus aus China machen wollten: »Das Virus ist mutiert!«, feixte die Moderatorin Stephanie Probst: »Und zwar von einem Virus zu einem psychologischen Massenphänomen: Panik. Denn die breitet sich in Deutschland derzeit schneller aus als das Virus selbst. Die ersten laufen sogar schon mit Mundschutz durch die Städte«, während sich in den sozialen Medien »Fake News, Verschwörungstheorien und Berichte« häuften, »die Angst vor dem Coronavirus machen sollen«.
Psychologisch sei klar, was hier passiert: Das Virus »ist fremd, und das Fremde macht uns angst«. Die Angstmacher verfolgten jedoch neben dem Angeln nach »Klicks« ein noch viel sinisteres Ziel: »Destabilisierung. Die Bevölkerung soll beunruhigt werden, was das Vertrauen in den Staat und dessen Glaubwürdigkeit erschüttern soll.« So nähmen sie das Virus zum Anlaß, um Grenzschließungen zu fordern: »Vor fremden ›Killerviren‹ haben wahrscheinlich noch mehr Menschen Angst als vor fremden Menschen aus fremden Ländern.«
In dieselbe Kerbe schlug Christoph Süß, der einen Tweet von Martin Sellner zitierte: »Das Wuhan-Virus verbreitet sich rasend schnell. Offene Grenzen bedeuten auch offene Grenzen für Viren.« Während ein riesiges, übertrieben groteskes Coronavirus durchs Bild schwebte, kommentierte Süß süffisant: Wer wie Sellner »die Apokalypse zur Basis seines Denkens macht, der schlägt Maßnahmen zu deren Verwirklichung vor. Was wäre, wenn man die Grenzen schließen würde? Vorteil: Keine Ausländer kommen mehr herein, juhu! Nachteil: Kein Verkehr mehr, Flugzeuge bleiben am Boden, Züge fahren nicht, quasi Generalstreik, die Wirtschaft erlahmt, Krise, und schon hätte man genau das, was man draußen halten will: das Desaster. Natürlich beteiligt sich auch der Asthmaanfall für Deutschland, kurz AfD, an der Paranoiaproduktion und rechte YouTuber kriegen sich vor lauter Endzeitpsychosen gar nicht mehr ein.«
Tatsächlich schienen wir uns zu diesem Zeitpunkt in einem Film zu befinden, der uns aus der Flüchtlingskrise von 2015 oder aus dem Heerlager der Heiligen vertraut war, mit den »Rechten« in der Rolle der hellsichtigen Kassandra, der niemand Glauben schenken will, und den »Mainstreammedien« als ernstfallblinde, infantile Beschwichtiger. Einen Monat später lautete die Botschaft der öffentlich-rechtlichen Sender, daß man das neuartige Coronavirus sehr ernst nehmen müsse, und am 22. März verhängte die deutsche Regierung einen »Lockdown«, der stark dem Szenario ähnelte, das Süß als sicheres Rezept für ein »Desaster« ausgemacht hatte. Parallel setzte sich im rechten Spektrum die Ansicht durch, daß die Gefährlichkeit des Virus systematisch übertrieben werde, um ein politisches Süppchen ungeheuren Ausmaßes zu kochen. In einem Punkt blieb das Framing des Mainstreams unverändert: »Fake News« und »Verschwörungstheorien« waren weiterhin ausschließlich Sache der sozialen und alternativen Medien, und die »Rechtsextremen« verfolgten nach wie vor den Zweck, »das Vertrauen in den Staat und dessen Glaubwürdigkeit« zu erschüttern. Diesmal allerdings nicht, indem sie Angstmache vor dem Virus betrieben, sondern indem sie die Angstmache des Staates vor dem Virus kritisierten.
Das schwindende Vertrauen großer Bevölkerungsgruppen in Staat und Medien wurde zum entscheidenden politischen Thema der nächsten Monate. Wie im Jahr 2015 unterstellten die gegnerischen Lager einander spiegelbildlich ethische Defekte, Verantwortungslosigkeit und Verblendung. Grob gesagt teilt sich die Gesellschaft seit letztem Jahr in jene, die mehr Angst vor einer Pandemie, und jene, die mehr Angst vor der Pandemiebekämpfung haben, bis hin zu einer bevorstehenden oder sogar schon teilweise umgesetzten »Pandemiediktatur«.
Die Pandemiegläubigen sehen tumbe, rücksichtslose Lemminge auf die Klippe zurasen, die anderen sehen gehirngewaschene »Schlafschafe«, die sich zur Schlachtbank führen lassen. Die einen freuen sich auf ihren Impftermin wie auf Weihnachten, die anderen fürchten den Tag, an dem man sie und ihre Kinder dazu zwingen wird, die Nadel zu empfangen, womöglich in trügerischer und böser Absicht, im Rahmen eines Plans zur Bevölkerungskontrolle, aus ruchlosem Profitstreben oder um die staatliche Macht über den Körper des einzelnen auszuweiten. In einer Zwischenzone befinden sich jene, die vor allem Ordnungsstrafen und soziale Exklusion fürchten, wenn sie sich nicht »korrekt« verhalten.
In dieser Lage erweisen sich die Kriterien nützlich, anhand derer Caroline Sommerfeld und ich die aus der Flüchtlingskrise erwachsene »Spaltung der Gesellschaft« analysierten. In unserem Buch Mit Linken leben (2017) kamen wir zu dem Ergebnis, daß die entscheidenden Bruchlinien nicht unmittelbar mit »rechts« und »links« zu tun haben. Sie lauten: a) Vertrauen vs. Mißtrauen in die Mainstream- und Massenmedien, b.) Realismus vs. Utopismus und c.) globalistische vs. antiglobalistische Positionen.
Für die soziale Dynamik der »Coronaviruskrise« ist vor allem Punkt a) von Bedeutung, aber auch b) im Sinne der Frage, wo die wissenschaftliche Vernunft nun »wirklich« stehe. Der Verlust des Vertrauens in die Leitmedien beruht auf der Wahrnehmung, daß diese immer einseitiger bestimmten politischen Interessen dienen, immer weniger Widerspruch zulassen und immer dreistere Manipulationen vornehmen. Diese Wahrnehmung, die aus der Sicht des Staates »destabilisierend« wirkt, war im rechten Spektrum schon vor 2020 vorherrschend und hat seither weite Teile auch des linken und des liberalen Lagers erfaßt.
Die Kommentare von Süß und Probst illustrieren zwei weitere Beobachtungen aus Mit Linken leben: zum einen das »Lichtmesz-Sommerfeld-Gesetz« der Projektion eigener Absichten und Sentiments auf den »Rechten«, zum anderen die Dissens-Formel »Ich seh etwas, was du nicht siehst«. Die daraus entstehenden Muster ähneln sich: Die »alte« Spaltung war etwa dadurch gekennzeichnet, daß die einen sich eher vor Einwanderungswellen und islamischen Terroranschlägen fürchteten, die anderen mehr vor »Nazis« und »Rechtspopulisten«, die diese Einwanderungswellen und Anschläge »instrumentalisieren« könnten. Aus dem Phänomen des Apperzeptionsdissenses ergibt sich eine alte Generaldeutung rechter Positionen: Rechte sind demnach vor allem Menschen, die von irrationalen Affekten wie »Haß« und »Angst« angetrieben werden. Sie sind »Angstmacher« (so der Titel eines Buches über die »Neue Rechte«), sie bringen »Angst für Deutschland« (so der Titel eines Buches über die AfD) und werden von allerlei »Phobien« heimgesucht: vor Homosexuellen, Muslimen oder Ausländern.
Das System, das diese Deutung propagiert, benutzt gleichzeitig Angst vor sozialer Ächtung, um Andersdenkende zu beherrschen. Es geht also weniger darum, wer Angst hat und wer nicht, sondern wer Angst vor den »richtigen« Dingen hat, wer Realist und wer Realitätsverweigerer oder ‑verzerrer ist. Daß »Angst ein schlechter Ratgeber« sei und man die Gesellschaft vor »Angstmachern« schützen müsse, war vor 2020 Teil der üblichen Rhetorik des Establishments.
Spätestens seit dem Leak des internen »Panikpapiers« des Bundesinnenministeriums wissen wir, daß »Angstmache« auch den herrschenden Preisdemokraten als legitim erscheint, wenn sie der Ansicht sind, daß sie einem »guten Zweck« dient. Die träge, uneinsichtige Herde muß zu ihrem eigenen Schutz erschreckt werden. Und wer sich nicht vor dem Virus fürchtet, soll sich eben vor Geldstrafen und anderen Sanktionen fürchten. »Ich will, daß ihr in Panik geratet!« sagte Greta Thunberg, eine verzweifelte Kassandra, die nicht fassen kann, daß immer noch keine totale Mobilmachung gegen den bevorstehenden Klima-Holocaust im Gange ist – ein Gefühl, das manchem vertraut ist, der in den letzten Jahren enorme Energien investiert hat, um die Öffentlichkeit vor der »Islamisierung« und dem »Großen Austausch« zu warnen: Die Töne werden schriller, wenn man den Eindruck hat, kein Gehör zu finden.
Als Rechter fühlt man sich zuweilen wie Stefan George: »Was euch erschüttert ist mir lang vertraut«, oder auch wie C. G. Jung, der einmal schrieb: »Ach, diese braven, tüchtigen, gesunden Menschen, sie kommen mir immer vor wie jene optimistischen Kaulquappen, die in einer Regenwasserpfütze dichtgedrängt und freundlich schwänzelnd an der Sonne liegen, im seichtesten aller Gewässer, und nicht ahnen, daß schon morgen die Pfütze ausgetrocknet ist.«
Wer hingegen nicht an die Heimtücke der Griechen glaubt, neigt zu dem Glauben, daß die Kassandren in Wahrheit selbst nicht an ihre Warnungen glauben und vielmehr Verführer und Demagogen sind. Über ein Jahr nach Beginn der »Coronaviruskrise« glaubt vermutlich niemand mehr im »maßnahmenkritischen« Lager, daß die herrschenden Politiker immer noch bona fide handeln, und wir sind erschrocken über unsere Zeitgenossen, die uns am einen Pol zu hysterisch und angsterfüllt und am anderen zu blind und gutgläubig erscheinen.