Der Österreicher Christoph Ransmayr (1954) ist unter den Schriftstellern einer der Großmeister postmoderner Selbstermächtigung. Gemäß einer von Ovid übernommenen, poetischen Maxime (»Keinem bleibt seine Gestalt«) bedeutet das: Nichts ist je zu Ende, in Stein gemeißelt, so und nicht anders erzählbar. Alles ist vielmehr im Fluß, nicht nur die Gestalt jedes einzelnen und der Dinge, die sich unablässig ändern, abschleifen, auftürmen, umschichten, in anderem Licht erscheinen. Es steht in der Macht des Erzählers, wie er das, was war, ist und sein mag, in die Hand nimmt, formt, erzählend erschafft und dann in den Fluß zurückfallen läßt, der es wieder in den Grundstoff auflöst, ins Ungeformte.
Wir sind damit mitten im neuen Roman Ransmayrs. In Der Fallmeister. Eine kurze Geschichte vom Töten (Frankfurt a. M.: Fischer 2021. 224 S., 22 €) handeln Szenen vom kindlichen Spiel, aus dem Lehm an den Schwemminseln des Flusses Gestalten zu formen, angelnd, schlafend, kauernd, und die Kanufahrer zu täuschen und zu verblüffen. Aber alles hält immer nur einen Sommer lang, dann überspült das Hochwasser die Werke. Später wird der Vater diese Spielform benutzen, sich selbst nachbilden und über den Wasserfall in einen Tod schicken, an den die anderen lange glauben werden.
Der Vater des Ich-Erzählers ist der Fallmeister – ein pathetisches Wort für einen Schleusenwärter, wie es ihn am Traunfall in Oberösterreich tatsächlich gab: Er bemaß ab dem 16. Jahrhundert die Wassermenge, mit der die salzbeladenen Boote durch einen fast vierhundert Meter langen Holzkanal geschickt wurden. Der Fluß war dadurch schiffbar, die Kanalpassage jedoch gefährlich, das Schleuseramt verantwortungsvoll. In Ransmayrs Roman dient der Fallmeister nur noch museal. Kanufahrer lassen sich schleusen, und einmal passiert es: zu viel Wasser schießt ein, das Boot kentert, fünf Kanuten ertrinken. Ein Jahr danach inszeniert der Vater seinen Selbstmord, aber es ist eben nur eine Lehmgestalt, die wie versteinert in den Fall treibt.
Ransmayr siedelt seine Geschichte in einer hochinteressanten Zukunftsszenerie an: Klimaverwerfungen haben Land und Trinkwasser rar gemacht. Die Nationen sind zerfallen, Kleinststaaten zerfleischen sich, streben Homogenität an, schieben ab (auch die kroatische Gattin des Fallmeisters, trotz der zwei Kinder), kämpfen um Zugänge zu Flüssen, um den Besitz von Quellen – und werden doch alle beherrscht und überformt von Syndikaten, die ein Netz aus Wasserbewirtschaftung, Überwachung, Ressourcenkontrolle und Privileg über die Welt gelegt haben und noch aus dem Untergang ihren Profit schlagen.
Der Erzähler stammt aus der winzigen Grafschaft Bandon, die Traun wird zum Weißen Fluß und erinnert eher an die Donau. Den Vater ärgert das Museale, aber die Freiheit einer Kindheit mit Booten, Angeln, Inseln, einer abgeschiedenen Wasserwelt und anderen ganz authentischen, analogen Gestalten wirkt sowieso wie stehengeblieben, wie aus der Zeit gefallen. Lieblos ist sie, als die Mutter abgeschoben wird, schwül, als Schwester und Bruder ihre ob der Enge der Grafschaften nicht mehr geächtete inzestuöse Zuneigung ahnen.
Das sind Nebenstränge, die das chaotische Bild einer Welt ohne zurechnungsfähige Staaten und Sicherheit zugleich verwirren und bedeutungsvoll in jeder Einzelheit machen sollen. Darin liegt Ransmayrs große Schwäche im schönen Doppelsinn der Bedeutung: Er kann kaum mehr etwas schildern, ohne es unter der Last der Bedeutung an den Kippunkt zu schieben – dorthin, wo aus Pathos ein Zuviel wird. Fast alle Rezensenten haben das vermerkt und mit Zitaten veranschaulicht. Wer das selbst studieren möchte, sollte den Roman Morbus Kitahara von 1995 und eben den Fallmeister aus diesem Jahr gleich hintereinander lesen – die Übersteuerung des Typischen, die Überbeanspruchung des eigentümlichen Handwerkszeugs ist unverkennbar.
Leider. Denn nach wie vor findet Ransmayr großartige Bilder, um Sinn und Form dessen, was er denkt oder ahnt, zu prägen. Diesmal ist es der Tonle Sap, jener Fluß in Kambodscha, der immer dann umkehrt und wieder zur Quelle fließt (in das bereits Zurückgelegte, in die Vergangenheit), wenn ihn dort, wohin er münden soll, etwas zurückstaut. Die Vorfahren der beiden Männer, die mit dem Erzähler den Tonle Sap hinunterfahren, Vater und Sohn, haben die Roten Khmer überlebt, sie selbst die Weißen Khmer, eine Erfindung Ransmayrs, die zeigen soll, daß sich das grausame Rad der Geschichte nicht immer weiterdreht, sondern hin und wieder zurückrollt. Die Geschichte: kein Fortschritt.
Solche Kapitel trösten über den ausgeschlachteten Ton hinweg, aber der Trost ist im selben Moment keiner mehr, wenn man eines der Interviews liest, die Ransmayr, der Austro-Apokalyptiker, in den vergangenen Wochen und Monaten gab. Es lohnt nicht, zu lesen, was Ransmayr zusammenplaudert, während er auf seiner Hütte im Salzkammergut mit einer Kiste voller Schnelltests die Gäste abpaßt, die aus den Todeszonen der Ebene sich zu ihm hinaufschleppen. Unten die Pandemie, oben der Achtsame, der ängstliche Mann, der Nichtgefährder, der Weltverantwortungsträger. Da kapiert einer nicht, daß er sich ausleben konnte, weil eben Europa, Österreich das erschufen und noch immer bereitstellen, was einer wie Ransmayr brauchte, um hundert Länder oder mehr besuchen zu können. Schade, schade.
Steffen Kopetzky (1971) ist da bescheidener. Er erzählt einfach bloß, macht aus Banalitäten keinen schicksalhaften Vorgang, macht überhaupt nicht alles bedeutungsvoll. Sein vor zwei Jahren vorgelegter Roman Propaganda war ein großer Erfolg. Er beschreibt darin die Allerseelenschlacht im Hürtgenwald, in deren Verlauf zwei, drei unerfahrene US-amerikanische Divisionen von Wehrmachtseinheiten unter der Führung General Models aufgerieben wurden. Ins Zentrum stellt Kopetzky den Wehrmachtsarzt Günter Stüttgen, dem es tatsächlich gelang, mehrmals für einige Stunden einen Waffenstillstand auszuhandeln und deutsche und amerikanische Verwundete zu bergen und ihnen damit das Leben zu retten.
Dieser Günter Stüttgen spielt auch in Kopetzkys neuem Roman Monschau (Berlin: Rowohlt 2021. 351 S., 22 €) eine Hauptrolle: Er war einer der Ärzte, die 1962 freiwillig dabei halfen, den Brandherd einer aus Indien eingeschleppten Pockenepidemie auszutreten – eben rund um Monschau, einem Eifelstädtchen nahe der belgischen Grenze. Man führte schon damals die Epidemie auf einen Patienten »Null« zurück, einen Monteur der Firma Riether, die Hochtemperaturöfen in alle Welt verkaufte, eben auch nach Indien. Von »Null« aus verfolgte man jeden Kontakt, jede mögliche Infektion, und das führte beinahe zur Schließung der Fabrik, deren Geschäftsführer Richard Seuss war. Seuss wiederum hatte 1944 für seine hinhaltende Verteidigung der Küstenstadt Saint-Malo in der Bretagne das Ritterkreuz und später das Eichenlaub verliehen bekommen. In seinem Auftrag soll nun sein früherer Adjutant (im Hürtgenwald als Baumschütze eingesetzt) Stüttgen erschießen, den Arzt, der zuviel weiß und zu sehr stört. Nebenbei entwickelt die Firmenerbin, eine junge Kunststudentin, Gefühle für einen an der Seite Stüttgens gegen die Pocken kämpfenden griechischen Studenten, und so weiter.
Kopetzky kann erzählen, kann Erzählstränge ineinander weben, und wenn das Feuilleton sein Werk mit den Begriffen »Kolportage« und »gehobene Unterhaltung« beschreibt, dann klingt das nach Lesernähe. Es ist unglaublich, wie die Figuren aus Kopetzkys Propaganda auch in Monschau wieder sichtbar werden, ohne daß er viel dazuerfinden müßte. So etwas gehört eben zur Stimmigkeit einer gelingenden Arbeit.
Noch eines: Einen Epidemie-Roman in eine pseudopandemische Zeit zu plazieren, geht das ganz ohne Botschaft? Bei Kopetzky steht sie zwischen den Zeilen, ob er will oder nicht: Die Pocken sind furchtbar ansteckend, der Krankheitsverlauf ist kraß, und ohne Behandlung sterben fast zehn Prozent aller Erkrankten. Isolation, Impfung, Ausgangssperre, Firmenschließungen waren in Monschau notwendig und angemessen. Während man das liest, denkt man aber immer an die Verläufe, die wir seit einem Jahr beobachten, und an die Maßnahmen, unter denen wir seit einem Jahr zu leben haben.
Bleiben für Christian Krachts Eurotrash (Köln: KiWi 2021. 224 S., 22 €) genau drei Sätze: Der Schriftsteller, der mit Faserland einen Generationenroman und mit 1979 einen über die Sehnsucht nach Wiederbelastung und Härte vorgelegt hat, ist zur Heulsuse geworden (1). Kracht trampelt in Eurotrash auf der stinkreichen, aber natürlich in allerhand Nazi- und Kolonialismus- und überhaupt Weißseinsschuld verstrickten Familie herum und meint, damit verstehbar zu machen, warum er ist, wie er ist (2). Wir dürfen uns von einem verabschieden, den wir gern lasen, stets empfahlen, und der nun besser nicht mehr schriebe, denn: es war wirklich eine Qual (3).