Vom Großmeister zum Fallmeister – drei Romane

PDF der Druckfassung aus Sezession 102/ Juni 2021

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

Der Öster­rei­cher Chris­toph Rans­mayr (1954) ist unter den Schrift­stel­lern einer der Groß­meis­ter post­mo­der­ner Selbst­er­mäch­ti­gung. Gemäß einer von Ovid über­nom­me­nen, poe­ti­schen Maxi­me (»Kei­nem bleibt sei­ne Gestalt«) bedeu­tet das: Nichts ist je zu Ende, in Stein gemei­ßelt, so und nicht anders erzähl­bar. Alles ist viel­mehr im Fluß, nicht nur die Gestalt jedes ein­zel­nen und der Din­ge, die sich unab­läs­sig ändern, abschlei­fen, auf­tür­men, umschich­ten, in ande­rem Licht erschei­nen. Es steht in der Macht des Erzäh­lers, wie er das, was war, ist und sein mag, in die Hand nimmt, formt, erzäh­lend erschafft und dann in den Fluß zurück­fal­len läßt, der es wie­der in den Grund­stoff auf­löst, ins Ungeformte.

Wir sind damit mit­ten im neu­en Roman Rans­mayrs. In Der Fall­meis­ter. Eine kur­ze Geschich­te vom Töten (Frank­furt a. M.: Fischer 2021. 224 S., 22 €) han­deln Sze­nen vom kind­li­chen Spiel, aus dem Lehm an den Schwemm­in­seln des Flus­ses Gestal­ten zu for­men, angelnd, schla­fend, kau­ernd, und die Kanu­fah­rer zu täu­schen und zu ver­blüf­fen. Aber alles hält immer nur einen Som­mer lang, dann über­spült das Hoch­was­ser die Wer­ke. Spä­ter wird der Vater die­se Spiel­form benut­zen, sich selbst nach­bil­den und über den Was­ser­fall in einen Tod schi­cken, an den die ande­ren lan­ge glau­ben werden.

Der Vater des Ich-Erzäh­lers ist der Fall­meis­ter – ein pathe­ti­sches Wort für einen Schleu­sen­wär­ter, wie es ihn am Traun­fall in Ober­ös­ter­reich tat­säch­lich gab: Er bemaß ab dem 16. Jahr­hun­dert die Was­ser­men­ge, mit der die salz­be­la­de­nen Boo­te durch einen fast vier­hun­dert Meter lan­gen Holz­ka­nal geschickt wur­den. Der Fluß war dadurch schiff­bar, die Kanal­pas­sa­ge jedoch gefähr­lich, das Schleu­ser­amt ver­ant­wor­tungs­voll. In Rans­mayrs Roman dient der Fall­meis­ter nur noch muse­al. Kanu­fah­rer las­sen sich schleu­sen, und ein­mal pas­siert es: zu viel Was­ser schießt ein, das Boot ken­tert, fünf Kanu­ten ertrin­ken. Ein Jahr danach insze­niert der Vater sei­nen Selbst­mord, aber es ist eben nur eine Lehm­ge­stalt, die wie ver­stei­nert in den Fall treibt.

Rans­mayr sie­delt sei­ne Geschich­te in einer hoch­in­ter­es­san­ten Zukunfts­sze­ne­rie an: Klima­verwerfungen haben Land und Trink­was­ser rar gemacht. Die Natio­nen sind zer­fal­len, Kleinst­staa­ten zer­flei­schen sich, stre­ben Homo­genität an, schie­ben ab (auch die kroa­ti­sche Gat­tin des Fall­meis­ters, trotz der zwei Kin­der), kämp­fen um Zugän­ge zu Flüs­sen, um den Besitz von Quel­len – und wer­den doch alle beherrscht und über­formt von Syn­di­ka­ten, die ein Netz aus Was­ser­be­wirt­schaf­tung, Über­wa­chung, Ressour­cenkontrolle und Pri­vi­leg über die Welt gelegt haben und noch aus dem Unter­gang ihren Pro­fit schlagen.

Der Erzäh­ler stammt aus der win­zi­gen Graf­schaft Ban­don, die Traun wird zum Wei­ßen Fluß und erin­nert eher an die Donau. Den Vater ärgert das Musea­le, aber die Frei­heit einer Kind­heit mit Boo­ten, Angeln, Inseln, einer abge­schie­de­nen Was­ser­welt und ande­ren ganz authen­ti­schen, ana­lo­gen Gestal­ten wirkt sowie­so wie ste­hen­ge­blie­ben, wie aus der Zeit gefal­len. Lieb­los ist sie, als die Mut­ter abge­scho­ben wird, schwül, als Schwes­ter und Bru­der ihre ob der Enge der Graf­schaf­ten nicht mehr geäch­te­te inzes­tuö­se Zunei­gung ahnen.

Das sind Neben­strän­ge, die das chao­ti­sche Bild einer Welt ohne zurech­nungs­fä­hi­ge Staa­ten und Sicher­heit zugleich ver­wir­ren und bedeu­tungs­voll in jeder Ein­zel­heit machen sol­len. Dar­in liegt Rans­mayrs gro­ße Schwä­che im schö­nen Dop­pel­sinn der Bedeu­tung: Er kann kaum mehr etwas schil­dern, ohne es unter der Last der Bedeu­tung an den Kip­punkt zu schie­ben – dort­hin, wo aus Pathos ein Zuviel wird. Fast alle Rezen­sen­ten haben das ver­merkt und mit Zita­ten ver­an­schau­licht. Wer das selbst stu­die­ren möch­te, soll­te den Roman Mor­bus Kita­ha­ra von 1995 und eben den Fall­meis­ter aus die­sem Jahr gleich hin­ter­ein­an­der lesen – die Über­steue­rung des Typi­schen, die Über­be­an­spru­chung des eigen­tüm­li­chen Hand­werks­zeugs ist unverkennbar.

Lei­der. Denn nach wie vor fin­det Rans­mayr groß­ar­ti­ge Bil­der, um Sinn und Form des­sen, was er denkt oder ahnt, zu prä­gen. Dies­mal ist es der Ton­le Sap, jener Fluß in Kam­bo­dscha, der immer dann umkehrt und wie­der zur Quel­le fließt (in das bereits Zurück­ge­leg­te, in die Ver­gan­gen­heit), wenn ihn dort, wohin er mün­den soll, etwas zurück­staut. Die Vor­fah­ren der bei­den Män­ner, die mit dem Erzäh­ler den Ton­le Sap hin­un­ter­fah­ren, Vater und Sohn, haben die Roten Khmer über­lebt, sie selbst die Wei­ßen Khmer, eine Erfin­dung Rans­mayrs, die zei­gen soll, daß sich das grau­sa­me Rad der Geschich­te nicht immer wei­ter­dreht, son­dern hin und wie­der zurück­rollt. Die Geschich­te: kein Fortschritt.

Sol­che Kapi­tel trös­ten über den aus­ge­schlach­te­ten Ton hin­weg, aber der Trost ist im sel­ben Moment kei­ner mehr, wenn man eines der Inter­views liest, die Rans­mayr, der Aus­tro-Apo­ka­lyp­ti­ker, in den ver­gan­ge­nen Wochen und Mona­ten gab. Es lohnt nicht, zu lesen, was Rans­mayr zusam­men­plau­dert, wäh­rend er auf sei­ner Hüt­te im Salz­kam­mer­gut mit einer Kis­te vol­ler Schnell­tests die Gäs­te abpaßt, die aus den Todes­zo­nen der Ebe­ne sich zu ihm hin­auf­schlep­pen. Unten die Pan­de­mie, oben der Acht­sa­me, der ängst­li­che Mann, der Nicht­ge­fähr­der, der Welt­ver­ant­wor­tungs­trä­ger. Da kapiert einer nicht, daß er sich aus­le­ben konn­te, weil eben Euro­pa, Öster­reich das erschu­fen und noch immer bereit­stel­len, was einer wie Rans­mayr brauch­te, um hun­dert Län­der oder mehr besu­chen zu kön­nen. Scha­de, schade.

 

Stef­fen Kopetz­ky (1971) ist da beschei­de­ner. Er erzählt ein­fach bloß, macht aus Bana­li­tä­ten kei­nen schick­sal­haf­ten Vor­gang, macht über­haupt nicht alles bedeu­tungs­voll. Sein vor zwei Jah­ren vor­ge­leg­ter Roman Pro­pa­gan­da war ein gro­ßer Erfolg. Er beschreibt dar­in die Aller­see­len­schlacht im Hürt­gen­wald, in deren Ver­lauf zwei, drei uner­fah­re­ne US-ame­ri­ka­ni­sche Divi­sio­nen von Wehr­machts­ein­hei­ten unter der Füh­rung Gene­ral Models auf­ge­rie­ben wur­den. Ins Zen­trum stellt Kopetz­ky den Wehr­machts­arzt Gün­ter Stütt­gen, dem es tat­säch­lich gelang, mehr­mals für eini­ge Stun­den einen Waf­fen­still­stand aus­zu­han­deln und deut­sche und ame­ri­ka­ni­sche Ver­wun­de­te zu ber­gen und ihnen damit das Leben zu retten.

Die­ser Gün­ter Stütt­gen spielt auch in Kopetz­kys neu­em Roman Mon­schau (Ber­lin: Rowohlt 2021. 351 S., 22 €) eine Haupt­rol­le: Er war einer der Ärz­te, die 1962 frei­wil­lig dabei hal­fen, den Brand­herd einer aus Indi­en ein­ge­schlepp­ten Pocken­epidemie aus­zu­tre­ten – eben rund um Mon­schau, einem Eifel­städt­chen nahe der bel­gi­schen Gren­ze. Man führ­te schon damals die Epi­de­mie auf einen Pati­en­ten »Null« zurück, einen Mon­teur der Fir­ma Rie­t­her, die Hoch­tem­pe­ra­tur­öfen in alle Welt ver­kauf­te, eben auch nach Indi­en. Von »Null« aus ver­folg­te man jeden Kon­takt, jede mög­li­che Infek­ti­on, und das führ­te bei­na­he zur Schlie­ßung der Fabrik, deren Geschäfts­füh­rer Richard Seuss war. Seuss wie­der­um hat­te 1944 für sei­ne hin­hal­ten­de Ver­tei­di­gung der Küs­ten­stadt Saint-Malo in der Bre­ta­gne das Rit­ter­kreuz und spä­ter das Eichen­laub ver­lie­hen bekom­men. In sei­nem Auf­trag soll nun sein frü­he­rer Adju­tant (im Hürt­gen­wald als Baum­schüt­ze ein­ge­setzt) Stütt­gen erschie­ßen, den Arzt, der zuviel weiß und zu sehr stört. Neben­bei ent­wi­ckelt die Fir­men­er­bin, eine jun­ge Kunst­stu­den­tin, Gefüh­le für einen an der Sei­te Stütt­gens gegen die Pocken kämp­fen­den grie­chi­schen Stu­den­ten, und so weiter.

Kopetz­ky kann erzäh­len, kann Erzähl­strän­ge inein­an­der weben, und wenn das Feuil­le­ton sein Werk mit den Begrif­fen »Kol­por­ta­ge« und »geho­be­ne Unter­hal­tung« beschreibt, dann klingt das nach Leser­nä­he. Es ist unglaub­lich, wie die Figu­ren aus Kopetz­kys Pro­pa­gan­da auch in Mon­schau wie­der sicht­bar wer­den, ohne daß er viel dazu­er­fin­den müß­te. So etwas gehört eben zur Stim­mig­keit einer gelin­gen­den Arbeit.

Noch eines: Einen Epi­de­mie-Roman in eine pseu­do­pan­de­mi­sche Zeit zu pla­zie­ren, geht das ganz ohne Bot­schaft? Bei Kopetz­ky steht sie zwi­schen den Zei­len, ob er will oder nicht: Die Pocken sind furcht­bar anste­ckend, der Krank­heits­ver­lauf ist kraß, und ohne Behand­lung ster­ben fast zehn Pro­zent aller Erkrank­ten. Iso­la­ti­on, Imp­fung, Aus­gangs­sper­re, Fir­men­schlie­ßun­gen waren in Mon­schau not­wen­dig und ange­mes­sen. Wäh­rend man das liest, denkt man aber immer an die Ver­läu­fe, die wir seit einem Jahr beob­ach­ten, und an die Maß­nah­men, unter denen wir seit einem Jahr zu leben haben.

 

Blei­ben für Chris­ti­an Krachts Euro­trash (Köln: KiWi 2021. 224 S., 22 €) genau drei Sät­ze: Der Schrift­stel­ler, der mit Faser­land einen Gene­ra­tio­nen­ro­man und mit 1979 einen über die Sehn­sucht nach Wie­der­be­las­tung und Här­te vor­ge­legt hat, ist zur Heul­su­se gewor­den (1). Kracht tram­pelt in Euro­trash auf der stink­rei­chen, aber natür­lich in aller­hand Nazi- und Kolo­nia­lis­mus- und über­haupt Weiß­seins­schuld ver­strick­ten Fami­lie her­um und meint, damit ver­steh­bar zu machen, war­um er ist, wie er ist (2). Wir dür­fen uns von einem ver­ab­schie­den, den wir gern lasen, stets emp­fah­len, und der nun bes­ser nicht mehr schrie­be, denn: es war wirk­lich eine Qual (3).

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

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