Am vergangenen Sonntag fand in Frankreich die erste Runde der französischen Präsidentschaftswahl statt. Mit einiger Spannung und Erwartung blickte das rechte Lager vor allem auf das Abschneiden der beiden Kandidaten Eric Zemmour und seiner Partei „Reconquete“ sowie auf Marine Le Pen als Frontfrau des „Rassemblement National“. Die Ergebnisse der beiden liegen im Erwartungsspektrum der jüngsten Umfragen vor der Wahl.
Le Pen zieht mit 23,2% als Zweitplatzierte in die Stichwahl am 24. April gegen den Amtsinhaber Emanuel Macron, der im ersten Wahlgang auf 27,6% kam. Eric Zemmour schnitt am Ende schwächer ab als sich viele erhofften und landete mit 7,1% auf dem vierten Platz, hinter dem linken Kandidaten Jean-Luc Mélenchon, der mit 22% Dritter wurde. Damit ist Mélenchon auch die große Überraschung des Wahlabends. Umfragen verorteten ihn immer konstant unter 20%. Bei einem Ergebnis von 22% wird es jetzt insbesondere seine Wählerschaft sein, die Macron und Le Pen mobilisieren müssen.
Das restliche Kandidatenfeld blieb jeweils unter 5% der Wählerstimmen. Bemerkenswert ist vor allem der Absturz einst wichtiger Parteien, die vor der Macron-Ära sogar den Präsidenten stellten. Die republikanische Partei mit der Spitzenkandidatin Valerie Pécresse kam auf 4,8% der Stimmen und musste somit einen katastrophalen Verlust von 15% konstatieren. Über eine Pressemitteilung verbreitete sie schon einen Spendenaufruf an ihre Unterstützer, da sie sich um mehr als 5 Millionen Euro verschuldet haben soll und mit den nicht erreichten 5% aus der staatlichen Wahlkampfkostenerstattung fällt.
Dieser Niedergang der republikanischen Partei schwächt auch die Wählerpotentiale für den zweiten Wahlgang bei Macron. Noch 2017 konnte er aus dem 20%-Gesamtergebnis der bürgerlichen Konservativen fast die Hälfte der Wählerschaft abschöpfen. 30% der republikanischen Wähler blieben 2017 im zweiten Wahlgang zu Hause und 27% gaben Marine Le Pen die Stimme.
2022 dürfte das republikanische Wählerpotential für Macron kaum mehr eine Rolle für die Mobilisierung spielen. Macrons Wählerreserven sind somit für den zweiten Wahlgang im Vergleich zu 2017 geschrumpft, während die von Le Pen durch die neue Konkurrenz von rechts mit Zemmour gestiegen sind.
Viele Beobachter befürchteten mit dem Aufkommen von Zemmour eine Aufspaltung des rechten Wählerpotentials, wodurch sich die Qualifikationschancen für die Stichwahl beider Kandidaten gegenseitig aufgehoben hätten. Am Ende könnte Zemmour aber auch ein Glücksfall für Le Pen gewesen sein. Im Verlauf des Wahlkampfes lag Le Pen zwischenzeitlich sogar nur auf Platz 3 und lieferte sich noch Ende letzten Jahres mit ihm ein Kopf-an-Kopf-Rennen.
Prominente Akteure und Abgeordnete des Rassemblement National wechselten inmitten des Wahlkampfes die Seiten und traten als Fürsprecher von Zemmour auf, so auch Le Pens eigene Nichte Marion Marachel. Le Pen musste ihre Kampagne also umdisponieren und überließ Zemmour das thematische Feld der Migrationspolitik, während sie selbst den Schwerpunkt auf die soziale Frage und klassische Arbeiterthemen lenkte. Zugleich war Zemmour eine Art Blitzableiter, wodurch Le Pen ihre sogenannte „Entdämonisierungsstrategie“ authentischer verkörpern konnte – ein riskantes Unterfangen, da es das strukturelle und personelle Zentrum ihrer Kampagne fast zerrissen hätte.
Doch am Ende holte sie das historisch beste Ergebnis für den RN und geht nun mit deutlich aussichtsreicheren Chancen in den zweiten Wahlgang gegen Macron. In zwei Projektionen, die noch am Wahlabend über die Umfrageinstitute veröffentlicht wurden, könnte Le Pen auf 48 oder gar 49% der Stimmen kommen und wäre damit um bis zu 16% stärker als ihr Ergebnis im zweiten Wahlgang 2017.
Das Phänomen Zemmour hat das rechte Wählerpotential in Frankreich also nicht zerstreut, sondern erweitert. Wo Le Pen ihre Dominanz in den ländlichen Regionen und den Arbeitermilieus halten und ausbauen konnte, eröffnete Zemmour neue Potentialräume in bürgerlich-intellektuellen Schichten, was den Niedergang der republikanischen Milieus zusätzlich verstärkt haben dürfte. Zemmour hat diese Wählergruppen an rechte politische Angebote herangeführt, die jetzt auf das Konto von Le Pen überwiesen werden können.
Ein Blick auf die geographische Wählerverteilung zeigt nochmals sehr deutlich, wie stark das rechte Lager in Frankreich gewachsen ist. Doch wie auch schon die Wahlniederlage 2020 von Donald Trump gezeigt hat, gewinnt die Dominanz in der Fläche keine Wahlen. In den urban-kosmopolitisch und migrantisch geprägten Großstadtregionen performt Le Pen nach wie vor unterdurchschnittlich.
Weitere Gemeinsamkeiten zu anderen europäischen Rechtsparteien zeigen sich in den Altersverteilungen und sozioökonomischen Milieus. Wo Le Pen auf einen starken Altersmittelbau zurückgreifen kann, ist Macron besonders stark bei der Generation 65+.
Auch hinsichtlich der Berufsgruppen stehen die Arbeiter und Angestellten weiterhin treu zu Le Pen. Hier hat sie sich über die Jahre ein authentisches sozialpatriotisches Profil aufgebaut. Le Pen weiß, wie sie starke Kampagnen mit vielen Präsenzterminen in ländlichen Räumen und Industrieregionen fährt, um so effektive Stammwählerpflege zu betreiben. Nicht umsonst blieb der befürchtete Wählerexodus in Richtung Zemmour-Lager durch eine glaubwürdige Positionierung in sozialen Fragen aus. Über alle Umfragen hinweg hatte Le Pen die prozentual größte Stammwählerschaft im Vergleich zu allen anderen Kandidaten.
Wie hoch sind die Chancen für Le Pen?
Macron gilt für den zweiten Wahlgang nach wie vor als Favorit. Dennoch ist Le Pens Lage weder aussichts- noch hoffnungslos. Aus drei Gründen:
1.) Zemmour hat noch am Wahlabend offensiv für Le Pen im zweiten Wahlgang geworben. Die Stimmen für Zemmour aus dem ersten Wahlgang können voraussichtlich nahezu vollständig auf Le Pens Anteile addiert werden. Le Pen hat also erstmals ein ganzheitlich erschlossenes und klar definiertes Wählermilieu, aus dem sie schöpfen kann. Die Migrationskritik wird in größter Vehemenz stellvertretend durch die Zemmour-Unterstützer vorgetragen, während sie parallel dazu sozialpolitische Fragen zu einem Schwerpunkt der Kampagne machen kann.
2.) Die große Herausforderung wird die Mobilisierung des linken Mélenchon-Lagers sein. Dieser rief noch am Wahlabend das Credo „Keine Stimme für Le Pen“ aus, vermied es aber auch, sich klar für Macron zu positionieren. Anders als noch 2017 wird sich die linke Wählerschaft kaum als geschlossener Block hinter Macron stellen. In den Wahlpräferenzen gaben 35% des Mélenchon-Lagers an, daß sie für Macron stimmen würden und 31% für Le Pen. 34% sind noch unentschlossen oder könnten der Wahl fernbleiben.
Die Linke in Frankreich steht mit Macron auf Kriegsfuß. Die Wut entströmt aus den zahlreichen sozialen Protestbewegungen der letzten Jahre wie den bekannten Gelbwesten, die zwar nicht mehr die mediale Dauerpräsenz haben wie vor zwei Jahren, aber immer noch existent und organisiert sind.
Zugleich bewegt sich die Wählerschaft von Mélenchon und Le Pen in ähnlich sozioökonomischen Milieus und hat auch hinsichtlich der Wahlmotive (steigende Lebenshaltungskosten, problematische Arbeitsmarktpolitik etc.) stärkere Überschneidungen als zu Macron, der auch in linken Milieus als Präsident des ökonomischen und politischen Establishments wahrgenommen wird.
Noch am Wahlabend rief Le Pen in einem Gestus der Überparteilichkeit dazu auf, den zweiten Wahlgang zu einem Referendum des Protestes gegen Macron zu machen. Le Pens Strategie könnte also darin bestehen, den harten Protestkern des Mélenchon-Lagers für sich zu gewinnen und die nur geringfügig Unzufriedenen zu demobilisieren und von der Wahl fernzuhalten. Kommunikativ und politisch dürfte dies für Le Pen eine einfachere Aufgabe sein als für Macron, der hier einen größeren Kompromiß anbieten müßte.
56% der Wähler verbinden mit Le Pen einen grundsätzlichen politischen Wandel. Bei Macron sind es nur noch 35% und damit ein Minus von 10% im Vergleich zu 2017. Auch bei der Glaubwürdigkeit hat Le Pen den Amtsinhaber bereits überholt. Waren es 2017 noch 58%, die Macron für glaubwürdig hielten, sind es 2022 nur noch 43%. Im Vergleich dazu hat Le Pen hier 14% dazugewonnen und konnte sich von 32% auf 46% steigern. Es ist also nicht unwahrscheinlich, daß sich das Mélenchon-Lager eher für ein „Anti-Macron“ als für ein „Anti-Le Pen“- Referendum begeistern läßt.
3.) Das thematische Momentum liegt weiterhin auf Le Pens Seite. Als die Krise in der Ukraine begann, konnte Macron in allen Umfragen deutliche Anstiege verzeichnen. Der Krieg dominierte auch die französische Öffentlichkeit. Wenig später flachte die Kurve jedoch wieder ab und die gesellschaftlichen und ökonomischen Folgen der Krise wurden deutlicher. Steigende Lebenshaltungskosten wurde mit Abstand zum wichtigsten Thema des Wahlkampfs.
Letztlich hat dies auf den letzten Metern die Kampagnendynamik von Le Pen befördert. Sollte sich dieser Trend auch in den kommenden 14 Tagen fortsetzen, wäre es Le Pen, die hier als die Repräsentationsfigur der stark belasteten Mittelschicht und ökonomisch geradezu erdrückten Arbeiterschicht auftreten, und somit auch die polarisierenden Zuspitzungen im kulturellen und ökonomischen Bereich offenlegen kann.
In 14 Tagen wird es also ernst. Sollte Le Pen also das scheinbar Unmögliche möglich machen, wäre dies natürlich ein kraftvoller symbolischer Sieg für das europäische rechte Lager. Wenn es jedoch zu einem Sieg für Macron kommt, dürfte Le Pen abgemeldet sein. Die letzten fünf Jahre hat sie ehrgeizig darauf hingearbeitet, in dieser Präsidentschaftswahl ihr Lebenswerk zu vervollkommnen.
Benedikt Kaiser schrieb bereits, daß die französische Rechte nach dieser Wahl ohnehin in Inventur gehen muß und das Phänomen Zemmour nicht so einfach abgehakt werden kann. Worin sich aber das rechte Lager in Frankreich einig sein sollte, ist die Tatsache, daß es durchaus potentielle Mehrheiten zur Eröffnung politischer Gestaltungsräume gibt. Sowohl Le Pen als auch Zemmour haben hier Meilensteine gesetzt.
Es gilt daher selbst bei einer erneuten Niederlage Le Pens nicht in defätistische Depressionen zu verfallen und wieder einmal nur die Übermacht unserer Gegner zu bedauern, sondern konkrete Fehler und nicht genutzte Chancen zu analysieren und dabei stets neue Angriffspunkte unserer Gegner zu identifizieren. Trotz mancher Rückschläge muß die politische Handlungsfähigkeit aufrecht erhalten werden.
Maiordomus
Dass die Star-Politikerin Anne Hidalgo, Bürgermeisterin von Paris, auf nur 2% gekommen ist, wurde hier bei der Analyse vergessen, zeigt aber, dass in Frankreich, siehe Zemmour, Medien- und Fernsehpräsenz weniger wichtig zu sein scheinen als bei uns, was als geradezu wohltuend einzuschätzen ist. Würde indes le Pen nicht überschätzen, sie würde gewiss schon wegen der Situation im Parlament einen höchst domestizierten Kurs führen bzw. führen müssen; die Frage ist, ob sie sogar im Wahlkampf mit der Option Nato-Austritt so etwas wie eine Flucht nach vorn wagen möchte; das wäre selbst bei der zu erwartenden Niederlage keine Kleinigkeit.