Die Mythenbildung vollzog sich auf ganz unterschiedliche Weise. In Deutschland war und ist die Schlacht um Stalingrad an der Wolga nicht Gegenstand staatlich geförderter Identitätsstiftung, sondern ein Untergang, dessen Ausmaß und dessen Dröhnen wie Schemen und Laute einer Saga wirken: Etzels Saal und Stalingrad. Man kann sich kaum vorstellen, mit welchem Grauen und welcher Hilflosigkeit zu Hause in Deutschland diese Schlacht verfolgt wurde. Sie führte Hunderttausende Männer in einen Raum gigantischen Ausmaßes, dessen Wände sich zusammenschoben, um alles zu zermalmen, was nicht mehr entkommen konnte.
Das offizielle Deutschland spricht heute von der sinnlosen Opferung der 6. Armee und dem notwendigen und selbstverschuldeten Wendepunkt eines verbrecherischen Feldzugs. Diese Bewertung kommt der sowjetischen recht nahe, in der das Ringen um die Stadt mit dem Namen des Diktators zu einer der mythischen Szenen des Großen Vaterländischen Krieges stilisiert wurde.
Zu Recht: Die Stadt war im September 1942 schon fast verloren, und es waren tatsächlich geringe Kräfte, die letzte Positionen der Roten Armee am Westufer der Wolga hielten, in die hinein unter unvorstellbaren Verlusten alles an Mensch und Material geworfen wurde, was die Rote Armee aufbieten konnte. Auf deutscher Seite hingegen reichten die Bemühungen nicht aus, den Gegner endgültig zu vernichten und seinen Nachschub über den Fluß zu kappen.
Diese Schlacht wird erst im letzten Drittel des Romans Stalingrad von Wassili Grossman (1905 – 1964) geschildert. Grossman war Kriegsberichterstatter und sammelte sein Material an vorderster Front. Nach der Schlacht um Moskau und der Winteroffensive der Roten Armee erlebte er die Verteidigung Stalingrads und die Vernichtung der 6. Armee mit, 1943 dann die Panzerschlacht bei Kursk und zuletzt die Eroberung Berlins.
Grossman war Stalinist und verstand seine Arbeit als Teil einer Propagandamaschinerie, die den Maßstab eines sozialistischen Realismus an jede Form der Kunst anlegte. Darin liegt Grossmans Meisterschaft: innerhalb des Rahmens eines ganz eindeutigen, sogar begeisterten Engagements für den Sowjetmenschen, den »neuen Menschen«, doch glaubwürdige, also nicht nur eindimensionale Menschen zu schildern und sie durch einen Trichter auf den Ort Stalingrad zurutschen zu lassen, um den sich am Ende alles drehen wird.
Grossmans Roman konnte 1952 in der Sowjetunion erscheinen. Weil aber Stalingrad längst zum identitätsstiftenden Ort gemacht worden war, hatte sich Grossmann einer akribischen Zensur zu unterwerfen. Sein Roman erschien in zwar nicht gefledderter, aber doch merklich zurechtgeklopfter Fassung. Die nun vorliegende Fassung ist das Ergebnis einer Rekonstruktion der Originalversion, wobei wir es keinesfalls mit einem totalitarismuskritischen Grossmann zu tun haben.
Diese Lehre, die Grossmann aus den stalinistischen Jahren gezogen habe, wird im Vorwort und in vielen Rezensionen überbetont. Sie mag für seinen zweiten Stalingrad-Roman zutreffen: Leben und Schicksal, das den Faden im Dezember 1942 aufnimmt, konnte in der Sowjetunion erst unter Gorbatschow 1988 erscheinen, es ist deutlich kritischer als Stalingrad und machte den Autor zur Unperson, die einsam und ohne jede Hoffnung darauf verstarb, daß man dieses Werk je würde lesen können.
Stalingrad: Die Kunst Grossmanns besteht darin, einen Sog zu entwickeln. Noch ist der Krieg fern, aber seine Mechanik beginnt in die Städte, Dörfer, Familien einzugreifen. Das Tableau an Personen ist überwältigend groß, wird ineinander verwoben, verstrickt sich, geht gemeinsam unter oder kommt davon. Die Männer werden einberufen und wissen bald mehr als die Frauen und Kinder, die zu Hause ackern, um die Früchte der Revolution nicht verderben zu lassen. Überhaupt sind alle rücksichtlos gegen sich selbst. Dort, wo geschossen wird, ist das eigene Leben bloß die Fingerkuppe des Volkskörpers und wird nicht ohne Gefühl für das Schicksalhafte daran dreingegeben.
Das ist schon ein Buch, in dem man lesend verschwinden kann, sich abmelden von den Debatten um Dieselpreis, Corona, Ukraine und Verfassungsschutz. Stalingrad ist Epik, ist ein Bilderteppich, ein Zeitgewebe. Es ist Propaganda, und die Deutschen kommen nicht gut weg, nicht im großen, nicht im kleinen.
Aber das weiß man, und man kann das herausfiltern, darin sind wir geübt. Deshalb kann man dieses große Werk lesen und würdigen. Es lohnt sich.
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Wassili Grossmann: Stalingrad. Roman, Berlin: Claassen Verlag 2021. 1280 S., 35 €.
Maiordomus
Ich frage mich, wer in der deutschen Regierung, aber auch nur im rein personell überdotierten deutschen Bundestag eine analytisch fundierte Buchrezension dieser Qualität hingekriegt hätte wie der von ignoranten Nichtslesern nach Urteilen des VS und Wikipedia jeweils abqualifizierte Verfasser dieser Rezension. Gilt überdies als Bestellung. Freue mich auf nächstes Buchgespräch mit Lehnert oder so.
PS. Auch Eisensteins Filme galten, bei ihrer anerkennenswerten Qualität, vielfach als Propaganda, was im Einzelfall, immerhin nicht generell, auch zutraf. Für Karfreitag empfehle ich Eisensteins Filme, bei youtube auffindbar mit Stichwort "Eisenstein/Mexiko" über den Totenkult in jenem mittelamerikanischen katholischen Land.