Im deutschen Großfeuilleton fand das Buch wenig Beachtung, und dann eher negativ. Sogenannte Kundenrezensionen hingegen: dutzendfach, fast alle jubelnd. Für eine Trivialgeschichte wäre das nichts Neues. Wir haben es hier aber mit ganz ausgezeichneter Literatur zu tun. Die Autorin, Jahrgang 1972, ist studierte Juristin, und zur Hälfte ist dieses Meisterwerk auch ein Justizroman.
Der hier mit all seinen Ambivalenzen verhandelte Fall basiert lose auf der »Causa Stanford«, die 2016 in den USA für Aufsehen sorgte. Damals wurde dem jungen Leistungssportler und Elitestudenten Brock Turner die Vergewaltigung einer schwerbetrunkenen Frau vorgeworfen. Er hingegen gab an, von Einvernehmlichkeit ausgegangen zu sein: ein nahezu klassischer Fall von »Party-Rape«, worüber Camille Paglia bereits in den 1990er Jahren Wesentliches geschrieben hatte. Im Roman hier geht es vor allem um die Familie Farel. Er, Jean, aus prekären Verhältnissen stammend, ist ein prominenter Fernsehjournalist. Er bespielt eine abendliche Talkshow. Die Siebzig hat er bereits überschritten – ein Kind von Traurigkeit war er nie gewesen. Neben anderen Affären unterhielt er eine lange, sehr innige Beziehung zu einer nur wenig jüngeren Kollegin, die nun recht früh und überaus jäh in die Demenz abgleitet. Mit seiner Ehefrau Claire, einer feministischen Publizistin, unterhält er ein so auf- wie abgeklärtes Verhältnis. Sie haben sich »arrangiert«. Nach außen stimmt der Schein.
Ihr Sproß Alexandre ist hochbegabt, ein Wunderkind. Er startet einfach durch, hat beste Noten, ist daneben erfolgreicher Marathonläufer. Kämpfer, der er ist, besiegt er auch seine Depressionen. Dann aber wankt diese ganze hochempfindliche Konstruktion, um schließlich mit einem Knall zu implodieren: Claire lebt mittlerweile – die Öffentlichkeit soll es nicht wissen – mit einer neuen Liebe, dem jüdischen Lehrer Adam, zusammen. Claire steht gerade unter Beschuß, weil sie sich streitbar (nämlich so, daß man ihre Einlassung als migrationskritisch auffassen könnte) zu den Silvestervorfällen auf der Kölner Domplatte geäußert hat.
Adam hat für Claire – die flüchtige Übermacht des Eros, Tuil beschreibt sie bravourös! – seine geliebte, aber immer frommer, orthodoxer werdende Frau verlassen. Die jüdisch-konservativ erzogene Tochter Mila, eben volljährig geworden, geht nun mit Alexandre aus. Es wird zu sexuellen Handlungen kommen. Ende des ersten Teils – ein Zündeln, Beginn der Katastrophe.
Im deutlich umfänglicheren zweiten Teil, »Das Territorium der Gewalt«, geht es um die Frage, ob Alexandre Mila vergewaltigt hat. War es einvernehmlich oder nicht? Hat sie NEIN gesagt oder nicht – und wäre ein vernehmliches NEIN überhaupt die Richtschnur? Falls man die Rede vom Geschlechterkrieg wörtlich nehmen sollte, so zeigt uns Karine Tuil hier sämtliche denkbaren Waffen, Kampfstrategien, Hinterhalte und Partisanentaktiken auf. Sie schildert nur, stellt ihr Personal in all seiner Ambivalenz dar, malt uns eine Art Wimmelbild auf, bei dessen Betrachtung man sich in Details und schillernden Farbgebungen verlieren kann. Hat er nicht Pornos konsumiert? Hat sie nicht eine heimliche Affäre mit einem verheirateten Mann gehabt? Warum lügt sie hier und da? Warum er? Und wie steht es mit der sogenannten Wertewelt, in der er und sie aufgewachsen sind? Wie wird »Gelegenheitssex« bewertet? Wer ist hier Opfer der eigenen Erziehung? Der Anwalt des Angeklagten zitiert einmal Nietzsche: »Tatsachen gibt es nicht, nur Interpretationen.«
Dieser Roman packt das ganze Dilemma, das weit über den konkreten Justizfall hinausgeht, in eine Nußschale. Hier wird eigentlich das ganze Drama der spätmodernen Welt verhandelt. Neben dem Prozeß läuft ja alles andere, nämlich das Leben, weiter: Jean wird erneut Vater. Er wickelt nun ein Kind, während er – längst in den Medien als egomaner Narzißt entblößt – im verborgenen ähnliches mit seiner verfallenen Dauergeliebten tut. Er wird von seinem Programmchef gekündigt. Kurz darauf stolpert auch dieser über eine #metoo-Sache. Die Karten werden neu gemischt, immer wieder, und alle hier Handelnden pokern hoch und riskant. Man liest das gleichsam atemlos und mit Gewinn.
Zusätzlich: Übersetzungen aus dem Französischen eignet häufig etwas Gravitätisches, das dem üblichen deutschen Sprachfluß zuwiderläuft. Hier nicht. Daher ein Sonderlob für die Tuil-Übersetzerin Maja Ueberle-Pfaff.
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Karine Tuil: Menschliche Dinge, Berlin: Claassen 2020. 384 S., 22€
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