Er handelt von selbstgerechten Linken, identitären Zuschreibungen und dem mittlerweile berühmten »Riß«, der durch Freundeskreise und Paarbeziehungen geht. Die Handlung spielt in München – da, wo die vielen »Nazibauten« immer noch stehen (mal nachdenken drüber). Berichtet wird – nicht immer personal – aus der Perspektive dreier Protagonisten, deren Lebensfäden sich zufällig kreuzen. Zum einen wäre das Benedikt, der tiefes Blech professionell bespielt. Tuba, Sousaphon etc. – eine professionelle Orchesterkarriere stünde ihm offen. Er schwankt noch. Eigentlich tritt er sehr gern mit seiner coolen Kombo BrassXpress auf, die das traditionelle Bläserœuvre gewagt durchbricht. Benedikt schwankt ohnehin. Seine Freundin Anna-Lena geht völlig in der Beschäftigung mit Geflüchteten auf. Es kommt zur »Beziehungskrise«, weil Benedikt – eigentlich ein weltoffener, toleranter, guter etc. Mensch – gelegentlich Zweifel äußert, ob diese Menschen wirklich alle aus äußerster Not nach Deutschland kommen. Die beiden geben ein echtes Klischeepärchen, das sicher tatsächlich in hundertfacher Ausführung existiert!
Zweitens haben wir Korbinian Moser, in leitender Position für die »wichtigste Zeitung Bayerns« tätig. Mit einigem Aufwand wird hier bedeutsam verschwiemelt, daß es sich dabei um die Süddeutsche handeln soll. Moser, arrivierter Patchworkfamilienvater, gibt hier mit seiner Gattin, der etwas weniger prominenten Fotografin Eva, den Bobo. Auch sie sind bei Schweikle papierne Gestalten, gleichsam am Reißbrett entworfen: Die beiden »Kreativen« preisen die multikulturelle Idee so lange und so vehement, bis sie ihnen konkret auf die Pelle rückt. Das geschieht hier mehrfach: einmal in Form einer Flüchtlingsunterkunft, die in Kindergartennähe eingerichtet werden soll. Daneben wird eine Kunstausstellung besucht, in der das Leid der Flüchtlingsfrauen kommerziell ausgeschlachtet und somit pervertiert wird. Außerdem geht es um eine redaktionell unterdrückte Reportage. Hier wird der Roman kurz ernsthaft brisant: Eine angehende Journalistin sollte für Mosers Blatt über Flüchtlingsschleuser berichten, die es gut meinen und aus Idealismus handeln.
Nur: Der porträtierte philanthrope Schleuser ist, wie die junge Frau herausfindet, ein Schwuler, der die Not seiner Schützlinge zum sexuellen Lustgewinn mißbraucht. Mist! Korbinian Moser rast: »Warum meint die Praktikantin, ihre gute Geschichte kaputtrecherchieren zu müssen?«
Die dritte Perspektive faßt Victor Akbunike ins Auge. Der Mann aus Nigeria ist Stürmer bei Bavaria München. (Wer die Anspielung auf einen tatsächlich existierenden Verein verstanden hat, darf sich auf die Schulter klopfen.) Der schwarze Held wird geliebt, solange er erfolgreich kickt. Natürlich sind die Schlagzeilen schon da arg »rassistisch«: »Die Natur hat ihn zum Torjäger bestimmt«, »Die Maschine mit den Killerfüßen«, titeln die Blätter. Schweikle läßt nach solchen Aussagen gern seine Kapitel enden. Es ist, als wolle er sagen: »Denkt mal nach, bevor ihr umblättert. Merkt ihr was?«
Zum Fahrplan des Romans paßt es, daß Akbunike nicht nur sportlich nachläßt, sondern zudem gegen Regeln der politischen Korrektheit verstößt. Er äußert sich uneindeutig über Homosexuelle, er fährt einen exaltierten Porsche, er erklärt öffentlich, in Deutschland keinen Rassismus erlebt zu haben. So geht es nicht! Es gibt Ärger. An allen Fronten übrigens.
Autor Schweikle wollte sichtbar einen »ausgewogenen« Roman schreiben, der das heute relevante »Einerseits« ebenso beleuchtet wie das »Andererseits«. Er hat übersehen, daß ein Roman kein Debattierclub ist, wo man Pappkameraden beliebig plazieren kann, um sie dann als irgendwie tragische Figuren zu nutzen.
Was sind nun die titelgebenden »Groben Nähte«? Man könnte mit etwas Mühe allerlei assoziieren: nur flüchtig Angeschneidertes; ein Provisorium; etwas, das nicht lange halten wird. Bei Schweikle allerdings lesen wir einen poetisch scheiternden Versuch: Beschrieben werden die »strahlend weißen Wolken« über München, die nicht das »frische Blau« verschmieren, »in dem sogar die breiten Straßen freundlich wirken. Keiner kann sagen, ob diese groben Nähte die guten Viertel unserer Stadt mit den anderen verbinden. Oder ob es Trennlinien sind.« Die Poetologie dieses flott durchzulesenden Romans ist damit in ein Wort zu gießen: Bedeutungshuberei.
Es bleibt noch, folgende ängstliche Vorbemerkung des Autors festzuhalten: »In diesem Buch treten fiktive Figuren auf [äußerst ungewöhnlich für einen Roman, der sich wirklich ausgedacht liest; EK]. Sie stellen Widersprüche dar und sollten deshalb weder von links denunziert noch von rechts vereinnahmt werden.«
Daß der Verlag kein Rezensionsexemplar an diese Zeitschrift senden wollte, paßt zu dieser Angst. Hinten gipfelt der Roman in Pornoszenen, die vermutlich selbst Liebhabern dieses Genres als peinlich mißlungen erscheinen dürften. Die Botschaft dahinter: So geht Deutschland mit seinen Altenpflegerinnen um; sie müssen sich verkaufen, um auf einen grünen Zweig zu kommen! Welch ein erbarmungswürdiger Aufschrei. Sicher gut gemeint, das Ganze – aber mäßig gemacht.
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Johannes Schweikle: Grobe Nähte. Roman einer deutschen Stadt, Stuttgart: Kröner 2021. 239 S., 22 €
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