Was der Frankfurter Philosoph 1993 nicht wissen konnte: Die »Ästhetik des totalen Scheins« hat sich im Zeitalter der Plattformökonomie ad nauseam potenziert; sie bestimmt das Leben einer Generation von Digital Natives, für die der Griff zum Smartphone, das Öffnen des (2010 gestarteten) Online-Dienstes »Instagram« (von instant, sofort) und der kontinuierliche Bild- und Informationsfluß obligat sind. Auf die vermeintlichen und tatsächlichen Bedürfnisse überwiegend junger Menschen zugeschnitten sind dabei die Werbemethoden sogenannter Influencer. Die Autoren der ersten ideologiekritischen Analyse über »eine der wichtigsten Sozialfiguren des digitalen Zeitalters« legen diese zur rechten Zeit vor; die tägliche Dauer für Smartphone-Nutzung (und Instagram ist explizit hierfür ausgelegt) ist in den anhaltenden Corona-Zeiten weiter gestiegen. Die Autoren – das sind der Student der Soziologie und Wirtschaftswissenschaften Ole Nymoen und der Ideenhistoriker und Filmkritiker Wolfgang M. Schmitt. Wer deren gemeinsamen Podcast »Wohlstand für alle« kennt, weiß um das ungleiche Paar. Hier Schmitt, der umfassend und sprachgewandt in Ideologiekritik, politische Ökonomie und Literatur einführt; dort Nymoen, der rezipierende Schüler.
Die Relevanz ihres Untersuchungsgegenstandes erklärt sich dabei von alleine: Während der klassische Anzeigenmarkt rückläufig ist, TV-Spots in Zeiten von Spulfunktion und Netflix spurlos verhallen, expandiert das Influencer-Marketing. Nymoen und Schmitt untersuchen dies, indem sie wirtschaftliche, ideologische und kulturelle Faktoren verknüpfen. Wichtig für den Laien unter den Lesern ist die Begriffsdefinition. Ein Influencer ist keineswegs jeder, der ein bestimmtes Publikum adressiert. Er ist vielmehr eine Person, »die in den sozialen Medien zu Bekanntheit gelangt ist und sowohl eigene Inhalte als auch Werbe-Content für Produkte aller Art veröffentlicht«, wobei er dies »möglichst eng mit der eigenen Person verknüpft« und »Authentizität« darzustellen versucht.
Der Konsum von Werbung sieht sich in die »Auf-du-und-du-Kommunikation« von Instagram transformiert: Wollte man TV-Clips ignorieren, schaut man sich als Nutzer die Videos und Fotos der Influencer, die ihr Ich zur wechselnden Ware werden lassen, in der Regel freiwillig an – oder mißinterpretiert Influencer-Werbung schlichtweg als offerierten Content (Inhalt). Man sieht sein virtuelles »Vorbild« beim Joggen, beim Kochen oder beim Entspannen zu – und erhält Hinweise, welche Konsumgüter das Leben angeblich besser werden lassen. Hier kommt die »Ästhetik des totalen Scheins« ins Spiel, denn der Influencer als vergegenständlichter »Werbekörper« der postmodernen Konsumgesellschaft wird in der Regel dafür bezahlt, neue Bedürfnisse beim Nutzer zu kreieren, die dieser zu stillen trachtet, indem er jene Waren erwirbt, die durch den Influencer (oft mit Rabattcode) angepriesen werden. Ebendiese stete Bedarfsweckung der digitalen Gegenwart stellte schon in der Zwischenkriegszeit für den »konservativen Revolutionär« Otto Strasser den künftigen Wesenskern einer nahenden, konsumgüterzentrierten Kapitalismusphase dar. Die Realisation seines Gegenmodells, einer an Bedarfsdeckung orientierten Wirtschaftsweise, erscheint im Zeitalter des digital universalisierten Hedonismus ferner denn je.
Personalisierte Werbung und das Versprechen, sich durch den Konsum bestimmter Produkte besonders individuell zu verhalten, können freilich nicht darüber hinwegtäuschen, daß das Gegenteil der Fall ist: Man ist als bereitwilliger Jungkonsument Teil einer konformistischen Masse, und als ein solcher Teil wird man nutzbar gemacht und verwertet. Daß die Autoren an Theodor W. Adorno und Max Horkheimer geschult sind, wird hier offensichtlich. »Kultur heute schlägt alles mit Ähnlichkeit«, stellten die skeptischen Denker in ihrem Standardwerk Dialektik der Aufklärung (DdA) fest, und in eine entsprechende Richtung greifen auch Nymoen und Schmitt aus. Ihr Vorhaben – materialisiert im Buch Influencer, vertont in diversen Podcastformaten – kann (auch) als Bemühen gefaßt werden, die Kultur- und Kapitalismuskritik der DdA unter den Bedingungen des Online-Kapitalismus fortzusetzen. Daß es hierbei Überschneidungen zu einer genuin rechten Kulturkritik gibt, wird nicht zuletzt in jenen Passagen manifest, die sich der »progressiv-neoliberalen Identitätspolitik« widmen. Es verwundert daher nicht, daß man sich pflichtschuldig »gegen rechts« abzusichern versucht, indem man aus heiterem Himmel, bei der Analyse des Verhältnisses zwischen Tourismus und Influencer-Existenzen, auf die Nichtinfluencer-Existenzen Kositza und Kubitschek verweist, die noch beim Reisen »die Markierung des Anderen« vornähmen und »eine Geste der Überlegenheit« vorbrächten. Ein solches Abweichen Nymoens und Schmitts vom eigenen Denk- und Schreibniveau wirkt peinlich.
Trotz dieser Bruchstelle bleibt Influencer ein verdienstvolles Buch. Den Autoren gelingt es, den Schleier von den Charaktermasken des digitalen Konsumismus, den Influencern, abzustreifen. Da dies so humorvoll wie geistreich, eloquent wie qualifiziert geschieht, ist das Buch mit (fast) jeder Zeile empfehlenswert.
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Ole Nymoen, Wolfgang M. Schmitt: Influencer. Die Ideologie der Werbekörper, Berlin: Suhrkamp 2021. 192 S., 15 €
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