Das Buch erlebte rasch drei Auflagen und wird mittlerweile durch die Bundeszentrale für politische Bildung für einen symbolischen Preis unter das Volk gebracht. Kollegen von Richter nahmen diesen Erfolg zum Anlaß, das Buch in zwei wissenschaftlichen Rezensionsforen zu verreißen, ohne mit der dabei eingesetzten Mischung aus berechtigter Kritik und ideologischer Verblendung durchdringen zu können.
Richter hat sich davon zumindest nicht beirren lassen und legt mit einem schmalen Band nach. Obwohl dieser in der theorielastigen edition suhrkamp erschienen ist, bleibt Richter ihrem assoziativen Erzählstil treu. Anhand ihrer wissenschaftlichen Schwerpunkte, Wahlen und Frauenemanzipation, will Richter das deutsche Kaiserreich um 1900 als ein von Reformwillen, im Sinne einer planvollen Umgestaltung des Bestehenden, geprägtes Staatswesen und den Beginn der modernen Massendemokratie beschreiben.
Sie gliedert diese Erzählung in vier Kapitel, die sich den politischen Voraussetzungen der Epoche (Reichsgründung 1871 und Folgen), den ökonomischen und sozialen Auswirkungen in Deutschland, den globalen Parallelphänomenen und weltweiten Vernetzungen sowie der Ausweitung der Partizipation bis hin zum unmittelbar nach Kriegsende eingeführten Frauenwahlrecht widmen. Wirklich neue Erkenntnisse hat Richter nicht zu bieten, weshalb sie den Essay in der Einleitung als eine Ergänzung der »breiten Forschung, die längst das Bild vom quasiabsolutistischen Obrigkeitsstaat aufgegeben hat«, charakterisiert.
So begegnen dem Leser altbekannte Dinge wie Lebensreformbewegung, sozialer Wandel, Machtstaat und »Zeitalter der Massen« in neuen Vokabeln, die Richter vor allem vom Standpunkt der weiblichen Emanzipation als »Disziplinierung der Männlichkeit« zusammenfaßt. Hinzu kommen Details, die Richter einstreut. So beispielsweise die Skandalisierung städtischer Elendsviertel durch Sichtbarmachung mittels Blitzlichtfotografie, die im wahrsten Sinne des Wortes ganz neue Einblicke in das Elend ermöglicht habe. Auch der Hinweis, daß alleinwirtschaftende weiße Farmerinnen in Windhuk, dem Verwaltungssitz der Kolonie Deutsch-Südwest, seit 1913 das Kommunalwahlrecht wahrnehmen konnten, ist solch ein Detail (wobei unklar bleibt, wie viele Frauen die notwendigen Voraussetzungen erfüllten).
Eine Schwäche Richters bleiben die Literaturnachweise, bei denen man vor allem zu etwas problematischen Behauptungen in der Regel keine Aufklärung findet. Etwa, wenn sie die Industrialisierung als ein »unfaßbares Vernichtungswerk« nebst Treibhauseffekt charakterisiert und dabei pauschal (ohne Seitenangabe) auf Joachim Radkaus Natur und Macht verweist, das immerhin 438 Seiten hat. Daß Bismarck das Sozialistengesetz nicht in seinen Memoiren erwähnte, ist nicht richtig. Und wenn Georg Simmel beklagt, daß das Männliche als das Objektive verabsolutiert werde, kann man ihm nicht einfach unterstellen, daß er der Meinung sei, die Geschlechterrollen seien konstruiert. Das Wort »Neger« darf schließlich nicht einmal in zeitgenössischen Zitaten vorkommen, jedenfalls ersetzt es Richter dort durch »N*«.
In der Bewertung des Kaiserreichs ist Richter ambivalent. Einerseits heißt es: »Zwar befeuerte der Erfolg den Stolz der Deutschen auf parvenühaft unangenehme Weise.« Gleich der anschließende Satz relativiert die Aussage sympathisch: »Der aristokratische Nationalismus Großbritanniens freilich und der imperialistisch-chauvinistische Nationalstolz Frankreichs waren nicht unbedingt angenehmer.« Richter weist auch darauf hin, daß »Demokratie« in der damaligen Zeit nicht der ideologische Maßstab war, an dem man staatliches Handeln gemessen hätte, und daß das alliierte Kriegsziel »Demokratie« der Ursprung der Legende vom antidemokratischen Deutschland sei. Unangenehme Konsequenzen der Massenpolitisierung wie Kriegsbegeisterung und Chauvinismus habe es nicht nur in Deutschland gegeben.
Eine gewisse Unbedarftheit Richters ist insofern bemerkenswert, weil sie zu politisch unkorrekten Aussagen führt, so wenn sie beispielsweise das emanzipatorische Loblied des Krieges singt: »Der Krieg befestigte die Gleichheit, er riß regionale Mauern nieder, relativierte die Klassenschranken und befreite die Einzelnen aus dem Korsett lokaler Kulturen und Ordnungen«. Die kalte Dusche folgt aber unweigerlich, wenn es heißt, daß man Versailles nicht auf seine Härten reduzieren solle, der Vertrag habe zahlreiche Chancen für einen Neuanfang geboten, was natürlich Unsinn ist.
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Hedwig Richter: Aufbruch in die Moderne. Reform und Massenpolitisierung im Kaiserreich, Berlin: Suhrkamp 2021. 176 S., 16 €
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