Hedwig Richter: Aufbruch in die Moderne

 Die Historikerin Hedwig Richter (Jg. 1973) sorgte mit ihrem im letzten Jahr erschienenen Buch Demokratie. Eine deutsche Affäre für eine lebhafte Debatte.

Erik Lehnert

Erik Lehnert ist promovierter Philosoph.

Das Buch erleb­te rasch drei Auf­la­gen und wird mitt­ler­wei­le durch die Bun­des­zen­tra­le für poli­ti­sche Bil­dung für einen sym­bo­li­schen Preis unter das Volk gebracht. Kol­le­gen von Rich­ter nah­men die­sen Erfolg zum Anlaß, das Buch in zwei wis­sen­schaft­li­chen Rezen­si­ons­fo­ren zu ver­rei­ßen, ohne mit der dabei ein­ge­setz­ten Mischung aus berech­tig­ter Kri­tik und ideo­lo­gi­scher Ver­blen­dung durch­drin­gen zu können.

Rich­ter hat sich davon zumin­dest nicht beir­ren las­sen und legt mit einem schma­len Band nach. Obwohl die­ser in der theo­rie­las­ti­gen edi­ti­on suhr­kamp erschie­nen ist, bleibt Rich­ter ihrem asso­zia­ti­ven Erzähl­stil treu. Anhand ihrer wis­sen­schaft­li­chen Schwer­punk­te, Wah­len und Frau­en­eman­zi­pa­ti­on, will Rich­ter das deut­sche Kai­ser­reich um 1900 als ein von Reform­wil­len, im Sin­ne einer plan­vol­len Umge­stal­tung des Bestehen­den, gepräg­tes Staats­we­sen und den Beginn der moder­nen Mas­sen­de­mo­kra­tie beschreiben.

Sie glie­dert die­se Erzäh­lung in vier Kapi­tel, die sich den poli­ti­schen Vor­aus­set­zun­gen der Epo­che (Reichs­grün­dung 1871 und Fol­gen), den öko­no­mi­schen und sozia­len Aus­wir­kun­gen in Deutsch­land, den glo­ba­len Par­al­lel­phä­no­me­nen und welt­wei­ten Ver­net­zun­gen sowie der Aus­wei­tung der Par­ti­zi­pa­ti­on bis hin zum unmit­tel­bar nach Kriegs­en­de ein­ge­führ­ten Frau­en­wahl­recht wid­men. Wirk­lich neue Erkennt­nis­se hat Rich­ter nicht zu bie­ten, wes­halb sie den Essay in der Ein­lei­tung als eine Ergän­zung der »brei­ten For­schung, die längst das Bild vom qua­si­ab­so­lu­tis­ti­schen Obrig­keits­staat auf­ge­ge­ben hat«, charakterisiert.

So begeg­nen dem Leser alt­be­kann­te Din­ge wie Lebens­re­form­be­we­gung, sozia­ler Wan­del, Macht­staat und »Zeit­al­ter der Mas­sen« in neu­en Voka­beln, die Rich­ter vor allem vom Stand­punkt der weib­li­chen Eman­zi­pa­ti­on als »Dis­zi­pli­nie­rung der Männ­lich­keit« zusam­men­faßt. Hin­zu kom­men Details, die Rich­ter ein­streut. So bei­spiels­wei­se die Skan­da­li­sie­rung städ­ti­scher Elends­vier­tel durch Sicht­bar­ma­chung mit­tels Blitz­licht­fo­to­gra­fie, die im wahrs­ten Sin­ne des Wor­tes ganz neue Ein­bli­cke in das Elend ermög­licht habe. Auch der Hin­weis, daß allein­wirt­schaf­ten­de wei­ße Far­me­rin­nen in Wind­huk, dem Ver­wal­tungs­sitz der Kolo­nie Deutsch-Süd­west, seit 1913 das Kom­mu­nal­wahl­recht wahr­neh­men konn­ten, ist solch ein Detail (wobei unklar bleibt, wie vie­le Frau­en die not­wen­di­gen Vor­aus­set­zun­gen erfüllten).

Eine Schwä­che Rich­ters blei­ben die Literatur­nachweise, bei denen man vor allem zu etwas pro­ble­ma­ti­schen Behaup­tun­gen in der Regel kei­ne Auf­klä­rung fin­det. Etwa, wenn sie die Indus­tria­li­sie­rung als ein »unfaß­ba­res Ver­nich­tungs­werk« nebst Treib­haus­ef­fekt cha­rak­te­ri­siert und dabei pau­schal (ohne Sei­ten­an­ga­be) auf Joa­chim Rad­kaus Natur und Macht ver­weist, das immer­hin 438 Sei­ten hat. Daß Bis­marck das Sozia­lis­ten­ge­setz nicht in sei­nen Memoi­ren erwähn­te, ist nicht rich­tig. Und wenn Georg Sim­mel beklagt, daß das Männ­li­che als das Objek­ti­ve ver­ab­so­lu­tiert wer­de, kann man ihm nicht ein­fach unter­stel­len, daß er der Mei­nung sei, die Geschlech­ter­rol­len sei­en kon­stru­iert. Das Wort »Neger« darf schließ­lich nicht ein­mal in zeit­ge­nös­si­schen Zita­ten vor­kom­men, jeden­falls ersetzt es Rich­ter dort durch »N*«.

In der Bewer­tung des Kai­ser­reichs ist Rich­ter ambi­va­lent. Einer­seits heißt es: »Zwar befeu­er­te der Erfolg den Stolz der Deut­schen auf par­venüh­aft unan­ge­neh­me Wei­se.« Gleich der anschlie­ßen­de Satz rela­ti­viert die Aus­sa­ge sym­pa­thisch: »Der aris­to­kra­ti­sche Natio­na­lis­mus Groß­bri­tan­ni­ens frei­lich und der impe­ria­lis­tisch-chau­vi­nis­ti­sche Natio­nal­stolz Frank­reichs waren nicht unbe­dingt ange­neh­mer.« Rich­ter weist auch dar­auf hin, daß »Demo­kra­tie« in der dama­li­gen Zeit nicht der ideo­lo­gi­sche Maß­stab war, an dem man staat­li­ches Han­deln gemes­sen hät­te, und daß das alli­ier­te Kriegs­ziel »Demo­kra­tie« der Ursprung der Legen­de vom anti­de­mo­kra­ti­schen Deutsch­land sei. Unan­ge­neh­me Kon­se­quen­zen der Mas­sen­po­li­ti­sie­rung wie Kriegs­be­geis­te­rung und Chau­vi­nis­mus habe es nicht nur in Deutsch­land gegeben.

Eine gewis­se Unbe­darft­heit Rich­ters ist inso­fern bemer­kens­wert, weil sie zu poli­tisch unkor­rek­ten Aus­sa­gen führt, so wenn sie bei­spiels­wei­se das eman­zi­pa­to­ri­sche Lob­lied des Krie­ges singt: »Der Krieg befes­tig­te die Gleich­heit, er riß regio­na­le Mau­ern nie­der, rela­ti­vier­te die Klas­sen­schran­ken und befrei­te die Ein­zel­nen aus dem Kor­sett loka­ler Kul­tu­ren und Ord­nun­gen«. Die kal­te Dusche folgt aber unwei­ger­lich, wenn es heißt, daß man Ver­sailles nicht auf sei­ne Här­ten redu­zie­ren sol­le, der Ver­trag habe zahl­rei­che Chan­cen für einen Neu­an­fang gebo­ten, was natür­lich Unsinn ist.

Hed­wig Rich­ter: Auf­bruch in die Moder­ne. Reform und Mas­sen­po­li­ti­sie­rung im Kai­ser­reich, Ber­lin: Suhr­kamp 2021. 176 S., 16 €

 

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Erik Lehnert

Erik Lehnert ist promovierter Philosoph.

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