zwei Lesergruppen in seinen Bann ziehen: Zum einen werden jene begeistert sein, die George Packers dichtes Reportagewerk Die Abwicklung. Eine innere Geschichte des neuen Amerika (Frankfurt a. M. 2014) verschlungen haben, legt Friedrichs doch ein Pendant für die Arbeits- und Lebenswelt der Bundesrepublik Deutschland vor, das in mancherlei Hinsicht (quantitativ wie qualitativ) »abgespeckter« als das US-Original erscheinen mag, aber doch viele von dessen Vorzügen in sich birgt. Zum anderen drängt sich das Buch all denjenigen auf, die nach dem »normalen Leben« in der zeitgenössischen Gesellschaft Ausschau halten. Friedrichs zeigt anhand verschiedener Personenporträts auf, wie die gesellschaftliche Realität aussieht und was von der viele Jahre vertrauten »Normalität« der Bundesrepublik vermißt wird.
Wie bei Packer wird der Leser literarisch eingebunden; auch als nüchtern veranlagter Mensch fühlt bzw. denkt man nach wenigen Seiten mit den (anonymisierten) Charakteren mit. So unterschiedlich diese ausgewählt sind, ob studierte freiberufliche Musiklehrerin oder Reinigungskraft in der Berliner U‑Bahn: Es eint sie die Trias der Abstiegsangst der krisenreichen Gegenwart: »Es darf bei keinem etwas passieren«, »Es darf niemand krank werden«, »Es müssen alle funktionieren«. Das schält sich jedenfalls heraus als die große Differenz zur Zeit des gesamtgesellschaftlichen Aufstiegs bis in die 1980er Jahre hinein: Das Berufsleben (und damit auch: die familiäre Planung) war für die arbeitende Mehrheit relativ berechenbar, die Karriere verlief, wenn man tätig und pflichtbewußt seine beruflichen Aufgaben erfüllte, einigermaßen linear: Ausbildung oder Studium, Festanstellung, gegebenenfalls diverse Beförderungen, Pensionierung, begleitet von angemessen verzinsten Spar- und Festgeldkonten, Urlauben, eingebettetem Gesellschaftsleben – und das alles im Regelfall bei einem einzigen Elternteil als Vollzeitbeschäftigtem. Doch was für diese »goldene Generation der Bundesrepublik« noch »Normalität« ausmachte, also vor allem für jene Menschen, die während der Nachkriegsjahre geboren wurden, kann heute als Ausnahme verbucht werden. Es gelingt Julia Friedrichs ausgezeichnet, diesen Wandel wirtschaftspolitisch zu beschreiben und daraus mentalitätspolitische Folgerungen zu ziehen. Entsprechende sachkundige Erörterungen werden in angemessener Relation zwischen gewährten, sehr persönlichen Einblicken in den Alltag von Arbeitern, Angestellten und Selbständigen – d. h.: einer sich wandelnden Working Class – der neuen Bundesrepublik eingebaut.
Seit Frühjahr 2020 ist nunmehr die Coronakrise fester Bestandteil des Lebens dieser neuen Republik. Die Passagen über die Fragen, wer profitiert, wer verliert oder auch wer resigniert, zählen zu den stärksten Reflexionen in der deutschsprachigen Corona-Literatur überhaupt, nicht zuletzt, weil faktenbasiert gezeigt wird, wie bestimmte Konzerne milliardenschwere Profite einfahren, die Krisengewinne folglich privatisieren, während sie den Staat als »Melkkuh« (Arnold Gehlen) ausnutzen und sich Lohnfortzahlungen qua Kurzarbeiterregelungen vom Halse schaffen, die Kosten hierfür also vergemeinschaften. Daß sich Julia Friedrichs bisweilen zeitgeistig verheddert, etwa wenn es um den vermeintlich reaktionären Charakter des verblichenen Alleinverdienerfamilienhaushaltes geht, trübt den Eindruck nur geringfügig. Auch ein George Packer war in seinem Meilenstein davor nicht gefeit – und man las ihn dennoch mit Gewinn.
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Julia Friedrichs: Working Class. Warum wir Arbeit brauchen, von der wir leben können, Berlin / München: Berlin Verlag 2021. 320 S., 22 €
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