Tom Holland: Herrschaft. Die Entstehung des Westens

von Felix Dirsch -- Im frühen 21. Jahrhundert sortiert sich die Welt politisch und wirtschaftlich in atemberaubendem Tempo neu.

Zu den erstaun­lichs­ten Erschei­nun­gen im Rah­men die­ser Pro­zes­se zählt der gern dra­ma­ti­sier­te »Abstieg des Wes­tens« (Josch­ka Fischer), auch beschrie­ben als »Ende der west­li­chen Welt­herr­schaft« (Jan Roß) oder »Ende der west­li­chen Welt­ord­nung (Andrea Böhm).

Eine sol­che zen­tra­le Gegen­warts­ten­denz ist Anlaß, Ent­ste­hung und Gene­se des Wes­tens neu zu unter­su­chen. Der bri­ti­sche Jour­na­list und erfolg­rei­che Buch­au­tor Tom Hol­land nähert sich sei­nem Gegen­stand auf nar­ra­ti­vem Weg. Die­ses Vor­ge­hen – soviel ist vor­weg­zu­neh­men – macht das Buch inter­es­sant für eine grö­ße­re Leser­schaft. Aller­dings wird die Quint­essenz der Ana­ly­se – so der offen­kun­di­ge Nach­teil – von der Fabu­lier­kunst des Ver­fas­sers überdeckt.

In 21 Kapi­teln ver­sucht der Autor, die west­li­che Vor­stel­lungs­welt her­aus­zu­ar­bei­ten. Er spannt einen inter­es­san­ten Bogen von »Athen« und »Jeru­sa­lem«, zwei cha­rak­te­ris­ti­schen Polen der abend­län­di­schen Geis­tes- und Phi­lo­so­phie­ge­schich­te, bis zum Abschnitt »Woke«, der zu den Debat­ten der 2010er Jah­ren führt.

Anfang wie Ende der Betrach­tun­gen sind nicht zufäl­lig gewählt. Ein roter Faden der Publi­ka­ti­on ist der Facet­ten­reich­tum des Chris­ten­tums. Die­se Glau­bens­rich­tung setzt sich um so mehr durch, als sich ihre Inhal­te – gern unspe­zi­fisch-modern als »Wer­te« bezeich­net – uni­ver­sa­li­sie­ren und gar nicht mehr als christ­lich erkenn­bar sind. Der Sie­ges­zug der natur­wis­sen­schaft­lich-tech­ni­schen Kul­tur seit der Auf­klä­rung läßt es zuneh­mend attrak­tiv erschei­nen, das huma­nis­ti­sche Poten­ti­al des Chris­ten­tums von des­sen tran­szen­den­ter Aus­rich­tung abzu­spal­ten und rein inner­weltlich zu instru­men­ta­li­sie­ren. Auch das ratio­na­lis­ti­sche Erbe des Chris­ten­tums, das schon in des­sen Früh­zeit als Syn­the­se von Glau­ben und grie­chi­scher Phi­lo­so­phie her­vor­tritt und im »tho­ma­si­schen Aris­to­te­lis­mus« des 13. Jahr­hun­derts sei­nen Höhe­punkt erreicht, gibt der neu­zeit­li­chen Wis­sen­schaft Impul­se. Die mit­tel­al­ter­li­che Aus­dif­fe­ren­zie­rung von Regnum und Sacer­do­ti­um hat­te gewal­ti­ge Aus­wir­kun­gen, gera­de in der Neu­zeit. Die Auf­klä­rung hat sich nicht zufäl­lig nur in Euro­pa dau­er­haft ent­wi­ckeln können.

Die Klü­ge­ren unter den Säku­la­ris­ten wuß­ten stets, auf wel­chem Wur­zel­bo­den ihr Zelo­ten­tum gedei­hen konn­te. Gele­gent­lich wei­sen heu­te »woke« Akti­vis­ten ehr­lich dar­auf hin, daß es zumeist pro­tes­tan­ti­sche Chris­ten in den USA gewe­sen sind, vor­nehm­lich die »Aboli­tio­nis­ten«, die auf den unchrist­li­chen Cha­rak­ter der Ras­sen­tren­nung auf­merk­sam gemacht haben.

Die­ser rote Faden ist ange­sichts des christ­li­chen Ein­flus­ses auf die abend­län­di­sche Kul­tur, auch auf sei­ne säku­la­ren For­men, voll zustim­mungs­fä­hig. Aufs Gan­ze gese­hen gewinnt man aber den Ein­druck, daß Hol­land sein Unter­neh­men unter­schätzt hat. Für eine grund­le­gen­de Dar­stel­lung der Ent­ste­hung der west­li­chen Kul­tur reicht es nicht aus, den Abscheu der »west­li­chen« Grie­chen vor den Hin­rich­tungs­prak­ti­ken »östlich«-persischer Des­po­ten aus­führ­lich zu erzäh­len. Greift man zu anspruchs­vol­le­ren his­to­rio­gra­phi­schen Stu­di­en wie der­je­ni­gen des Alt­his­to­ri­kers Chris­ti­an Mei­er, so kann man her­aus­fin­den, wie die grie­chi­sche »Kul­tur um der Frei­heit wil­len« ent­stan­den ist.

So zeig­ten sich früh jene Gegen­sät­ze zwi­schen West und Ost, die der Geschichts­schrei­ber Hero­dot schon um 430 kon­sta­tier­te. Die­se Impul­se kon­kre­ti­sie­ren sich im Ver­lauf der okzi­den­ta­len Geschich­te (mit neu­en Akzen­ten) im »libe­ra­len Sys­tem« (Ernst Nol­te). Gemeint ist damit ein poly­go­na­les Gebil­de, in dem König, Adel, Kir­che und Städ­te mit­ein­an­der kon­kur­rie­ren und sich lan­ge Zeit kein Ele­ment auf Kos­ten der ande­ren durch­set­zen kann. Erst die mono­kra­ti­schen Regimes Faschis­mus und Kom­mu­nis­mus bre­chen im 20. Jahr­hun­dert mit die­sen Tra­di­tio­nen. Die His­to­rie des Wes­tens läßt sich also auf ver­schie­de­ne Arten schil­dern. Hol­lands Par­force­ritt durch die Stof­fül­le mutet – For­mu­lie­rungs­küns­te hin oder her – dann doch etwas zu volks­tüm­lich an.

Tom Hol­land: Herr­schaft. Die Ent­ste­hung des Wes­tens, Stutt­gart: Klett-Cot­ta 2021. 619 S., 28 €

 

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