Für Furore in seiner Heimat hatte bereits sein migrationskritisches, multikultiskeptisches Buch The British Dream (2013) gesorgt. Erst sein nächstes Buch, The Road to Somewhere (2017), wurde ins Deutsche (2020, mit gleichem Titel, der auf deutsch leider gar nicht zündet) übersetzt. Darin hat Goodhart den Gegensatz zwischen den mobilen, »ortlosen« kosmopolitischen Eliten und den »normalen« Menschen herausgearbeitet, die an einen Ort, an ihr jeweiliges Land gebunden seien. In seinem neuen, lesenswerten Buch widmet sich Goodhart einem weiteren Kernproblem der heutigen Zeit: der Überakademisierung unserer Gesellschaft. Daß kognitiv-analytische Fähigkeiten heute deutlich überbewertet werden, führt zum einen dazu, daß durch die zwischen 1970 und 2010 sukzessiv angestiegene Studierendenquote das Niveau der Hochschulen beharrlich sinkt. Zum anderen werden Berufsstände, die »Hand und Herz« erfordern, nämlich die weiten und vielgestaltigen Bereiche der Pflege und des Handwerks, als unattraktiv angesehen. Das wirft eine Vielzahl von Problem und Fragen auf, die Goodhart in aller Gründlichkeit (allerdings nicht ohne Redundanzen) aufblättert – übrigens liefert er Zahlen und Analysen nicht nur für Großbritannien und die USA, sondern faßt explizit Deutschland ins Auge: Was bedeutet es, wenn es möglichst ein »Studium für alle« (Bernie Sanders) geben soll? Wie vernünftig und produktiv ist es, wenn schon Bankangestellte und Sachbearbeiter ein Studium vorweisen müssen? Was hat die nahezu vollständige Akademisierung der Pflegeberufe in Großbritannien erbracht? Was sagt es aus, und welches Geld wird überhaupt in akademische Ausbildung versenkt, wenn ein Drittel der Hochschulabsolventen fünf Jahre später in einem Beruf arbeitet, der kein Studium erfordert? Interessanterweise, hält Goodhart fest, werden die nutzlosesten Studiengänge am stärksten bezuschußt. Nämlich insofern, daß jene, die hinterher kein sehr solides Einkommen erwirtschaften, das zuvor gewährte Bafög nicht zurückzahlen müssen.
In der ersten Hälfte dieses enorm faktenreichen Buches kreist Goodhart um das Problem der Akademikerschwemme. In der zweiten Hälfte macht er sich stark für die Berufe der Hand und des Herzens, die in das heutige Ideal und Credo vom »unaufhörlichen Lernen« so schlecht passen wollen: Ein Handwerk verlange nämlich, eine Sache richtig gut zu beherrschen – der Handwerker ist das Gegenteil zum heute grassierenden »rolemodel« des frei flottierenden Unternehmensberaters, der sogar damit kokettiert, »nichts wirklich« zu können. Die westlichen Staaten investierten zu viel in sinnlose Zertifizierungen und zu wenig in hervorragende Ausbildung. Es ist, schreibt der Autor, als würde man ein Atomwaffenarsenal anschaffen, während die Fußsoldaten nicht mal ordentliche Stiefel hätten. So interessant wie fundiert sind Goodharts soziologische Betrachtungen: Akribisch sortiert er zwischen Status, Milieu und Einkommen. Ein hervorragender Handwerker (den wir, er belegt dies mit Zahlen, viel wahrscheinlicher in Deutschland finden denn in England) kann leicht besser verdienen als ein Büroangestellter mit einem Bachelorabschluß, nur: Handwerk wie Pflege haben mit einem gewaltigen Prestigeverlust zu kämpfen. Diese »Anerkennungslücke« ist ein weites Feld. Sie hat auch damit zu tun, daß sich gerade Menschen aus »bodenständigen« Berufen zunehmend »fremd im eigenen Land« und sozial marginalisiert zu fühlen. Mehr »Wertschätzung« für Hand und Herz, mehr Geld für Pflegeberufe – das wird nicht reichen. Bei seinen weiteren Vorschlägen zur Lösung des Dilemmas schweift Goodhart leider ab und gerät ins geradezu konfuse Schwadronieren über Meditation, nützliche Pflegeroboter und die Notwendigkeit kostenloser Eheberatungen. Das letzte der zehn Kapitel kann man sich getrost sparen.
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David Goodhart: Kopf, Hand, Herz. Das neue Ringen um Status. Warum Handwerks- und Pflegeberufe mehr Gewicht brauchen, München: Penguin 2021. 390 S., 22 €
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