Kulturtheorie und Kulturkonflikt

pdf der Druckfassung aus Sezession Sonderheft Spengler / Mai 2005

von Peter R. Hubert

Oswald Spengler ist es anders ergangen als seinem großen Vorbild Friedrich Nietzsche, anders auch als etwa Heinrich von Kleist oder Friedrich Hölderlin: Man entdeckte ihn und die Bedeutung seines Denkens nicht erst nach seinem Tode, sondern sein Ruhm als Geschichtsphilosoph setzte schlagartig bei Ende des Ersten Weltkrieges ein. Kurz vorher war der erste Band seines umfangreichen, mit dem Titel bald zum Schlagwort gewordenen Hauptwerkes erschienen, mit dem sein Name bis heute in erster Linie verbunden ist: Der Untergang des Abendlandes. Abgeschlossen hatte er das Manuskript in der ersten Fassung bereits kurz vor Kriegsausbruch, und als das Buch dann endlich nach Überwindung mannigfacher Schwierigkeiten erscheinen konnte, beschloß der Autor – der aus gesundheitlichen Gründen am Krieg nicht hatte teilnehmen können – das Vorwort zur Erstausgabe mit den Worten, er habe nur den einen Wunsch auszusprechen, „daß dies Buch neben den militärischen Leistungen Deutschlands nicht ganz unwürdig dastehen möge“.


Es kam indes alles ganz anders. Mit den mili­tä­ri­schen Leis­tun­gen des deut­schen Hee­res war es seit dem Novem­ber 1918, als der Krieg end­gül­tig ver­lo­ren war, erst ein­mal vor­bei, und der Ruhm Speng­lers stieg para­do­xer­wei­se – sozu­sa­gen in kon­tra­fak­ti­scher Bewe­gung – mit dem poli­ti­schen Nie­der­gang Deutsch­lands, das im Früh­som­mer 1919 den als Schan­de und Demü­ti­gung emp­fun­de­nen Ver­sailler Frie­dens­ver­trag akzep­tie­ren muß­te, immer wei­ter an. Die all­ge­mei­ne Stim­mung im Lan­de des Haupt­ver­lie­rers des Ers­ten Welt­krie­ges ver­düs­ter­te sich in einer Wei­se, daß der Titel von Speng­lers gro­ßem Werk von den Deut­schen der dama­li­gen Zeit gewis­ser­ma­ßen als die Losung der gegen­wär­ti­gen Welt­stun­de emp­fun­den wur­de: Der von dem Den­ker ange­kün­dig­te Unter­gang des Abend­lan­des wur­de mit dem Unter­gang Deutsch­lands gleichgesetzt.
Vie­le Asso­zia­tio­nen mögen hier­bei mit­ge­spielt haben. Spä­tes­tens seit Fried­rich Meine­ckes berühm­tem Buch Welt­bür­ger­tum und Natio­nal­staat von 1908 war den Deut­schen die Tat­sa­che ins Bewußt­sein zurück­ge­ru­fen wor­den, daß die deut­schen Klas­si­ker und die Ver­tre­ter des phi­lo­so­phi­schen Idea­lis­mus um 1800, allen vor­an Schil­ler und Fich­te, die Deut­schen als „Welt­volk“ ange­se­hen hat­ten, als geis­tig füh­ren­des Volk in der Welt, das frei­lich – und das war ent­schei­dend – die­sen Ruhm nicht für sich allein erstreb­te, son­dern das sei­ne geis­ti­gen Fähig­kei­ten voll­kom­men und aus­schließ­lich in den Dienst der Höher­ent­wick­lung der gesam­ten Mensch­heit stell­te. Von den spä­te­ren natio­na­lis­ti­schen Ver­en­gun­gen war hier noch kei­ne Spur zu fin­den, doch die Selbst­iden­ti­fi­ka­ti­on der Deut­schen mit dem Höhe­punkt intel­lek­tu­el­ler Welt­kul­tur wirk­te lan­ge nach. Auch noch spä­ter, gera­de in der Zeit des Kai­ser­reichs, gab es nicht weni­ge Deut­sche, von denen Deutsch­lands Haupt­auf­ga­be in der Welt zuerst und vor allem in den Berei­chen der Wis­sen­schaft und der Kunst gese­hen wur­de. Der poli­ti­sche Nie­der­gang des Lan­des nach dem Ende des Ers­ten Welt­krie­ges konn­te aus die­sem Grund umso umstands­lo­ser mit dem Nie­der­gang der abend­län­di­schen, ja sogar der „wei­ßen“ Welt über­haupt in Par­al­le­le gesetzt wer­den. Die­ser Gedan­ke bot nicht nur die Mög­lich­keit, dem für die meis­ten deut­schen Zeit­ge­nos­sen nur schwer faß­ba­ren Unter­gang des Kai­ser­reichs eine Art von „Sinn“ abzu­ge­win­nen, son­dern es war in der Per­spek­ti­ve die­ser Deu­tung nun eben­falls mög­lich, die eige­ne Nie­der­la­ge gewis­ser­ma­ßen meta­phy­sisch und geschichts­phi­lo­so­phisch zu über­hö­hen – eben indem man das Schick­sal Deutsch­lands mit dem Schick­sal des Abend­lan­des selbst iden­ti­fi­zier­te: Stirbt Deutsch­land, das Herz des Abend­lan­des, dann ist auch der Kon­ti­nent, der Kul­tur­kreis als gan­zer mit Not­wen­dig­keit zum Unter­gang verurteilt.

Die Zeit­um­stän­de waren also für die all­ge­mei­ne Auf­nah­me und Ver­brei­tung von Speng­lers Buch außer­or­dent­lich güns­tig; unmit­tel­bar nach Erschei­nen des ers­ten Ban­des setz­te eine außer­or­dent­lich inten­si­ve Rezep­ti­on die­ses Wer­kes ein, das sehr bald schon in die wich­tigs­ten Fremd­spra­chen über­setzt wur­de. Mit einem Schlag stand der erst acht­und­drei­ßig­jäh­ri­ge, bis dahin ganz unbe­kann­te ehe­ma­li­ge Gym­na­si­al­leh­rer und freie Schrift­stel­ler Oswald Speng­ler im Mit­tel­punkt des dama­li­gen intel­lek­tu­el­len Deutsch­lands. Es ver­steht sich, daß ein Werk von der intel­lek­tu­el­len Kühn­heit des Unter­gangs, des­sen Autor auch vor schein­bar gewalt­sa­men Kon­struk­tio­nen zum Beleg sei­ner Haupt­the­sen nicht zurück­schreck­te, auch auf deut­li­chen Wider­stand stieß. Eine Rei­he der damals bekann­tes­ten Fach­ge­lehr­ten tat sich zusam­men, um Speng­ler man­nig­fa­che, meist klei­ne­re Feh­ler im Detail, man­che Miß­ver­ständ­nis­se und aller­lei Gewalt­sam­kei­ten in der Argu­men­ta­ti­on und The­sen­bil­dung nach­zu­wei­sen – und in vie­len Fäl­len hat­ten sie damit auch recht. Aber den weit aus­grei­fen­den, aufs Gan­ze gehen­den, über­aus küh­nen Ent­wurf einer neu­en Gesamtdeu­tung der Welt­ge­schich­te ver­moch­ten sie im Kern eben nicht zu erschüt­tern. Ent­we­der konn­te man ihn als Gan­zes ableh­nen, oder aber man muß­te zuge­ben, daß Speng­ler zumin­dest einen dis­kus­si­ons­wür­di­gen Ent­wurf vor­ge­legt hat­te, des­sen inne­rer Gehalt kei­nes­wegs so abwe­gig war, wie es auf den ers­ten Blick schei­nen moch­te. Hin­zu kam eben­falls die Tat­sa­che, daß es unter den füh­ren­den deut­schen Fach­ge­lehr­ten nicht nur Kri­tik, son­dern durch­aus auch Zustim­mung und Aner­ken­nung gab – allen vor­an vom damals füh­ren­den deut­schen Alt­his­to­ri­ker, dem Ber­li­ner Ordi­na­ri­us Edu­ard Mey­er, Autor einer viel­bän­di­gen und welt­be­rühm­ten Geschich­te des Altertums.
Trotz allem blieb Speng­ler natür­lich umstrit­ten; der Zahl der Ver­eh­rer stand eine frag­los nicht weni­ger umfang­rei­che Zahl der Ver­äch­ter gegen­über. Das hing nicht nur mit sei­ner immer noch sehr oft kri­ti­sier­ten Theo­rie der his­to­ri­schen Kul­tu­ren zusam­men, son­dern vor allem auch mit sei­nen poli­ti­schen Schrif­ten. Denn Speng­ler hat sich immer auch – die­ser Aspekt sei­nes Lebens und Wer­kes darf kei­nes­falls ver­ges­sen wer­den – als strikt poli­ti­scher Autor gese­hen. Er war auf­ge­wach­sen im Glanz des wil­hel­mi­ni­schen Kai­ser­reichs, er war stolz auf sein Land, auf des­sen poli­ti­schen und wirt­schaft­li­chen Auf­stieg im 19. Jahr­hun­dert und auf des­sen bei­spiel­haf­te Leis­tun­gen in den Berei­chen Kul­tur und Wis­sen­schaft, und er ver­trat mit aller Ent­schie­den­heit die Über­zeu­gung, daß Deutsch­land eine Füh­rungs­rol­le auch in der poli­ti­schen Welt zukom­me. Speng­ler war, das zei­gen sei­ne poli­ti­schen Schrif­ten in aller Deut­lich­keit, ein von den Erfah­run­gen sei­ner Gene­ra­ti­on tief gepräg­ter deut­scher Nationalist.
Schon 1919 publi­zier­te er sei­ne ers­te gro­ße poli­ti­sche Schrift, deren Titel eben­falls bald in den all­ge­mei­nen Sprach­ge­brauch über­ging: Preu­ßen­tum und Sozia­lis­mus. Er knüpf­te an die bereits im Kai­ser­reich noch zur spä­ten Bis­marck­zeit beschwo­re­ne Tra­di­ti­on eines ver­meint­lich urpreu­ßi­schen und damit auch deut­schen „Staats­so­zia­lis­mus“ an, eines Sozia­lis­mus also, der (so sei­ne Über­zeu­gung) nicht von Marx, auch nicht von den Früh­so­zia­lis­ten, son­dern von Fried­rich Wil­helm I. „erfun­den“ wor­den und von Bis­marck auf sei­nen ers­ten Höhe­punkt geführt wor­den sei. Speng­ler skiz­zier­te von hier aus­ge­hend den nach sei­ner Auf­fas­sung gang­ba­ren Weg für einen künf­ti­gen deut­schen Wie­der­auf­stieg: Ori­en­tie­rung an einem star­ken, auto­ri­tär und kor­po­ra­tiv, „wirt­schafts­so­zia­lis­tisch“, agie­ren­den Staat, – dage­gen Kampf gegen das „inne­re Eng­land“, womit Speng­ler den poli­ti­schen Libe­ra­lis­mus und den Par­la­men­ta­ris­mus der soeben neu begrün­de­ten Wei­ma­rer Repu­blik mein­te. Die­ses Kon­zept hat er, mit nur weni­gen Ver­än­de­run­gen, auch noch spä­ter in wei­te­ren sei­ner poli­ti­schen Schrif­ten ver­tre­ten, vor allem im Neu­bau des Deut­schen Rei­ches von 1924.

Speng­ler war also, dies ist klar zu sehen, Anti­de­mo­krat und ent­schie­de­ner Geg­ner eines west­li­chen Par­la­men­ta­ris­mus, und nicht nur dies stellt ihn in die nächs­te Nähe zu den Den­kern der Kon­ser­va­ti­ven Revo­lu­ti­on. Wie die meis­ten ande­ren Ver­tre­ter die­ser Denk­strö­mung ver­ach­te­te er die ver­meint­lich schwa­che Repu­blik, und deren „Über­win­dung“ durch den Natio­nal­so­zia­lis­mus hat er anfangs durch­aus begrüßt. Frei­lich war der Natio­nal­so­zia­lis­mus nicht unbe­dingt das, was er sich als neue poli­ti­sche Form für Deutsch­land erhofft hat­te; als zeit­wei­li­ger Ver­eh­rer Mus­so­li­nis hät­te er einen „gemä­ßig­ten“ Faschis­mus oder ein eher auto­ri­tä­res Sys­tem, wie es damals bereits in Por­tu­gal bestand, zwei­fel­los bevor­zugt. Über den Cha­rak­ter des NS-Regimes mach­te er sich schon bald kei­ne Illu­sio­nen mehr, und als einer sei­ner engs­ten Freun­de, ein Münch­ner Musik­kri­ti­ker namens Wil­li Schmid, im Zuge der Mord­ak­tio­nen der SS am 30. Juni 1934 nur auf­grund einer Namens­ver­wechs­lung umge­bracht wur­de, zog sich Speng­ler voll­kom­men ins Pri­vat­le­ben zurück. Die bei­den letz­ten Jah­re sei­nes Lebens ver­brach­te der schwer herz­kran­ke Den­ker mit der Aus­ar­bei­tung einer völ­lig neu­en Kul­tur­theo­rie, die er lei­der nicht mehr in die letz­te von ihm gewoll­te Form brin­gen konn­te. Immer­hin sind die umfang­rei­chen Frag­men­te, die sein Nach­laß ent­hält, außer­or­dent­lich beacht­lich; sie zei­gen, daß die den­ke­ri­sche Kraft, die Fähig­keit zur gedank­li­chen Syn­the­se und der Wil­le zur geschichts­phi­lo­so­phi­schen Gesamt­deu­tung bis zuletzt leben­dig waren – den zuneh­men­den phy­si­schen Beschwer­den kor­re­spon­dier­te jeden­falls kein geis­ti­ger Niedergang.
Speng­ler, der 1936 im Alter von nur sechs­und­fünf­zig Jah­ren starb, hat sei­nen Ruhm über­lebt. Trotz aller natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Pole­mik, die den ver­meint­lich aus­schließ­lich „pes­si­mis­ti­schen“ Unter­gangs­theo­re­ti­ker von der Agen­da der poli­tisch und welt­an­schau­lich wich­ti­gen Autoren zu strei­chen trach­te­te, wur­de sein Werk wei­ter­hin beach­tet, und dar­an änder­te sich auch in der zwei­ten Nach­kriegs­zeit zuerst nichts. Der all­ge­mei­ne geis­ti­ge und poli­ti­sche Umbruch der 1960er Jah­re jedoch brach­te auch hier eine Wen­de. Zwar konn­te aus­ge­rech­net im Jahr 1968 die ers­te, von Anton Mir­ko Kok­tanek ver­faß­te umfang­rei­che Dar­stel­lung von Leben und Werk Speng­lers erschei­nen, doch die von die­sem For­scher eben­falls bereits vor­her in den Jah­ren 1965 und 1966 edier­ten bei­den Nach­laß­bän­de „Urfra­gen“ und „Früh­zeit der Welt­ge­schich­te“ wur­den nur noch wenig beach­tet. Man ent­deck­te, im Gegen­teil, die eigent­lich längst ver­ges­se­nen poli­ti­schen Schrif­ten neu und ver­moch­te den Den­ker nun in die Rei­he der­je­ni­gen zu stel­len, denen man die Schuld am Nie­der­gang der ers­ten deut­schen Demo­kra­tie zuschob: auch Speng­ler wur­de, wie Moel­ler van den Bruck, Schmitt, Jün­ger, Jung und vie­le ande­re, jetzt zuerst als einer der „anti­de­mo­kra­ti­schen Den­ker“ in der Wei­ma­rer Repu­blik identifiziert.
Obwohl er – das ist nicht im min­des­ten zu leug­nen oder auch nur zu rela­ti­vie­ren – in die­se Rei­he zwei­fel­los gehört, über­deck­te und über­deckt noch heu­te die Stig­ma­ti­sie­rung die­ses Autors zugleich den Rang sei­nes kul­tur­phi­lo­so­phi­schen Gesamt­werks. Vor allem wur­de hier­durch eine inten­si­ve Rezep­ti­on und Aus­ein­an­der­set­zung mit sei­nem aus dem Nach­laß her­aus­ge­ge­be­nen Spät­werk im Grun­de fast voll­kom­men blo­ckiert; die intel­lek­tu­el­le Welt und auch die Wis­sen­schaft nahm es, von eini­gen Aus­nah­men abge­se­hen, ein­fach nicht zur Kennt­nis. Nur weni­ge For­scher – vor allem aus­län­di­sche Gelehr­te wie der fran­zö­si­sche Ger­ma­nist und Speng­ler­ex­per­te Gil­bert Mer­lio – haben sich der Ana­ly­se und Deu­tung die­ser (zuge­ge­be­ner­ma­ßen nicht beson­ders leicht zugäng­li­chen) Text­frag­men­te gewidmet.

Fragt man nun aus der Per­spek­ti­ve der Gegen­wart nach dem­je­ni­gen, was von Speng­ler und sei­nem Werk heu­te noch geblie­ben ist, dann sind in ers­ter Linie zwei Haupt­aspek­te zu nen­nen, ein geschichts­phi­lo­so­phi­scher und ein poli­ti­scher. Der ers­te – der geschichts­phi­lo­so­phi­sche oder kul­tur­theo­re­ti­sche – betrifft das Spät­werk Speng­lers. Die bei­den von Kok­tanek vor nun­mehr fast vier Jahr­zehn­ten edier­ten Bän­de „Urfra­gen“ und „Früh­zeit der Welt­ge­schich­te“ sind längst ver­grif­fen und fast ver­ges­sen. Das soll­te und könn­te sich ändern, denn schon ein flüch­ti­ger Blick in die­se Bän­de zeigt, daß Speng­ler, trotz der offe­nen, apho­ris­ti­schen Form, die er (im Anschluß an Nietz­sche) in sei­ner Spät­zeit bevor­zug­te, um eine neue Geschlos­sen­heit sei­ner Kul­tur­theo­rie bemüht war, daß er bestrebt gewe­sen ist, die damals neu­es­ten Resul­ta­te vor allem der archäo­lo­gi­schen, der vor- und früh­ge­schicht­li­chen und der alt­his­to­ri­schen For­schung in sei­ne Über­le­gun­gen mit ein­zu­be­zie­hen. Es ist des­halb durch­aus kein Zufall, daß sei­ne aller­letz­te zu Leb­zei­ten erschie­ne­ne Ver­öf­fent­li­chung in einer Fach­zeit­schrift erschie­nen ist – ein Auf­satz mit dem Titel Zur Welt­ge­schich­te des zwei­ten vor­christ­li­chen Jahrtausends.
Der Den­ker hat in sei­nen letz­ten Lebens- und Schaf­fens­jah­ren inten­sivs­te Anstren­gun­gen unter­nom­men, sei­ne frü­he­re Theo­rie der sich mona­disch von­ein­an­der abschlie­ßen­den, auf­blü­hen­den und abster­ben­den, ins­ge­samt neun Hoch­kul­tu­ren zwar nicht grund­le­gend zu revi­die­ren, aber doch gewis­ser­ma­ßen „nach unten“ neu zu unter­mau­ern, also exak­ter zu fun­die­ren. Speng­ler ging dabei weit in die Urge­schich­te zurück. Er unter­schied jetzt vier ver­schie­de­ne Kul­tur­stu­fen (die er, im Gegen­satz zu sei­ner frü­he­ren Dar­stel­lungs­wei­se nun ganz pro­sa­isch als die auf­ein­an­der fol­gen­den Stu­fen „a“ bis „d“ bezeich­ne­te): Zuerst das vie­le Jahr­zehn­tau­sen­de umfas­sen­de Alt­pa­läo­li­thi­kum, das den Men­schen auf sei­ner noch tier­haf­ten Exis­tenz­stu­fe zeigt, sodann (b) das Jung­pa­läo­li­thi­kum, umgrei­fend die Zeit vom 20. bis zum 6. / 7. vor­christ­li­chen Jahr­tau­send, das er bereis als ein Zeit­al­ter „dumpf­mensch­li­cher“ Emp­fin­dung und eines rudi­men­tä­ren Selbst­be­wußt­seins erkann­te. Es folgt © die Zeit des Neo­li­thi­kums (6. bis 3. Jahr­tau­send), die his­to­ri­sche Epo­che der begin­nen­den „Mensch­wer­dung“, der Seß­haf­tig­keit, der erst­ma­li­gen Aus­prä­gung und Sicht­bar­wer­dung von „Ein­zel­küns­ten“ und per­sön­lich sich abhe­ben­den Talen­ten. Erst die vier­te Stu­fe (d) umfaßt jetzt das­je­ni­ge, was Speng­ler erst eigent­lich als „Welt­ge­schich­te“ bezeich­net, also die Zeit seit dem Beginn der jeweils etwa ein Jahr­tau­send andau­ern­den alten und neue­ren „Hoch­kul­tu­ren“.
Was also bleibt von Speng­ler? – um die­se Fra­ge noch ein­mal zu stel­len: Immer­hin eine in ihrer Bedeu­tung noch kaum aus­ge­wer­te­te und aus­ge­leuch­te­te Theo­rie der his­to­ri­schen Kul­tur­stu­fen, die ihr Urhe­ber mit einer Fül­le von Daten, Fak­ten, aber auch inten­si­ver und tief in die Mate­rie ein­drin­gen­der Refle­xio­nen unter­mau­ert hat. Die his­to­ri­sche For­schung – geschwei­ge denn die uni­ver­sal­his­to­risch aus­grei­fen­de Geschichts­deu­tung – hat sich noch so gut wie gar nicht hier­mit aus­ein­an­der­ge­setzt. Die Fül­le der Gedan­ken und Ideen hier­zu, von denen über­haupt erst ein klei­ner Teil aus dem sehr umfang­rei­chen Nach­laß Speng­lers ver­öf­fent­licht wor­den ist, sind in ihrer Bedeu­tung ganz offen­sicht­lich bis­her über­se­hen wor­den. Es bleibt heu­te nur abzu­war­ten, ob sich dies ein­mal ändern wird. Ein loh­nen­des Unter­neh­men wäre es auf jeden Fall.

Der zwei­te Haupt­aspekt der Fra­ge nach der Aktua­li­tät Speng­lers rich­tet sich auf die poli­ti­sche Dimen­si­on sei­nes Wer­kes. Damit sind heu­te nicht mehr die in der Tat sehr zeit­be­ding­ten – und damit in ihren Kern­aus­sa­gen weit­ge­hend über­hol­ten – poli­ti­schen Schrif­ten im enge­ren Sin­ne gemeint, son­dern in ers­ter Linie die welt­po­li­ti­schen Aspek­te sei­ner spä­te­ren Über­le­gun­gen, die er, aus­ge­hend von den Grund­an­nah­men sei­ner Kul­tur­theo­rie, in sei­ner Spät­schrift Jah­re der Ent­schei­dung von 1933 wenigs­tens ansatz­wei­se for­mu­liert hat (denn ein ange­kün­dig­ter zwei­ter Band die­ses letz­ten sei­ner Bücher ist nie­mals erschie­nen). Auch die Jah­re der Ent­schei­dung sind ein har­tes, kom­pro­miß­los argu­men­tie­ren­des, sich durch einen fast bru­ta­len Rea­lis­mus aus­zeich­nen­des Werk, eine Schrift, die den poli­ti­schen Nerv der Zeit tref­fen woll­te und auch getrof­fen hat. Auf­schluß­reich zur Rekon­struk­ti­on der poli­ti­schen Über­zeu­gun­gen des spä­ten Speng­ler ist die hier ledig­lich ansatz­wei­se sicht­bar wer­den­de, in der For­mu­lie­rung nur vor­sich­tig ange­deu­te­te, in der Sache aber unüber­seh­bar deut­li­che Distan­zie­rung vom Natio­nal­so­zia­lis­mus, beson­ders von der Ras­sen­theo­rie. Dem vom NS-Regime ver­ord­ne­ten Geschichts­op­ti­mis­mus (etwa die Idee eines soeben neu anbre­chen­den „ger­ma­ni­schen Zeit­al­ters“ und der­glei­chen) hat Speng­ler in sei­nem letz­ten Buch eine fast höh­ni­sche Abfuhr erteilt, die frei­lich nur der­je­ni­ge zur Kennt­nis neh­men konn­te, der zwi­schen den Zei­len zu lesen verstand.
Zwei The­sen stellt der Den­ker auf. Die ers­te: Mit dem Ende des Welt­krie­ges 1918 hat eine fun­da­men­tal neue welt­ge­schicht­li­che Epo­che begon­nen. Die bis 1914 voll­kom­men unan­ge­foch­te­ne Füh­rung der abend­län­di­schen Mäch­te – und damit auch die Domi­nanz der abend­län­di­schen Kul­tur über­haupt – wird in immer stär­ke­rem Maße in Fra­ge gestellt; das alte Euro­pa hat sich selbst mit die­sem Krieg fun­da­men­tal geschwächt, so daß eine all­ge­mei­ne Umschich­tung der poli­ti­schen Kräf­te­ver­hält­nis­se auf dem Glo­bus begon­nen hat, deren Ziel­rich­tung und Ergeb­nis noch kei­nes­wegs abzu­se­hen sind. Neue Mäch­te begin­nen auf­zu­stei­gen: Nicht nur die Ver­ei­nig­ten Staa­ten von Nord­ame­ri­ka sind end­gül­tig in das Kar­tell der Welt­mäch­te ein­ge­tre­ten, auch die bol­sche­wis­ti­sche Sowjet­uni­on schickt sich an, in das Spiel der macht­po­li­ti­schen Ent­schei­dun­gen ein­zu­grei­fen. – Und die zwei­te The­se: Mit dem Sieg der Bol­sche­wis­ten in der Sowjet­uni­on hat die „wei­ße Welt­re­vo­lu­ti­on“ begon­nen, deren Ende eben­falls noch nicht abzu­se­hen ist. Die­se sozia­le Revo­lu­ti­on, die Erhe­bung der Unter­pri­vi­le­gier­ten gegen die bis­he­ri­gen gesell­schaft­li­chen und öko­no­mi­schen Füh­rungs­schich­ten, ist ein Vor­gang, der sich, so Speng­ler, in naher Zukunft noch wei­ter fort­set­zen und der voll­ends unab­seh­ba­re Fol­gen nach sich zie­hen wird, wenn sich künf­tig ein­mal die „wei­ße“ mit der „far­bi­gen Welt­re­vo­lu­ti­on“ ver­bün­det, also mit dem eben begin­nen­den Auf­stand der von den Wei­ßen bis dahin noch beherrsch­ten afri­ka­ni­schen und asia­ti­schen Völ­ker gegen ihre Kolonialherren.
Gegen die dro­hen­de „Gefahr der Ver­stän­di­gung zwi­schen den Far­bi­gen und dem wei­ßen Pro­le­ta­ri­at“ sah Speng­ler kei­ne ande­re Mög­lich­keit (er deu­tet sie aller­dings nur vor­sich­tig an), als den Zusam­men­schluß der wei­ßen Völ­ker zu gemein­sa­mer Akti­on, um die eige­ne welt­be­herr­schen­de Stel­lung zu ret­ten, damit auch den immer noch andau­ern­den Vor­rang des Abend­lan­des wenigs­tens für ein oder zwei Jahr­hun­der­te zu sichern. In die­sem Zusam­men­hang ist dar­an zu erin­nern, daß Speng­ler den „Unter­gang“ des Abend­lan­des noch kei­nes­wegs als sol­chen kon­sta­tier­te, son­dern nur für die Zukunft prognostizierte.

Dem in der Tat bereits sicht­ba­ren lang­sa­men Erlö­schen der geis­ti­gen und künst­le­ri­schen Kräf­te Euro­pas und sei­ner Able­ger stell­te er die immer noch andau­ern­den schöp­fe­ri­schen Fähig­kei­ten im Bereich der moder­nen Tech­nik ent­ge­gen. Hier­in wer­de Euro­pa, davon war der Den­ker über­zeugt, noch lan­ge Zeit einen unauf­hol­ba­ren Vor­sprung besit­zen. Aber eben nur dann, wenn die Gefahr einer Über­wäl­ti­gung durch die „wei­ße“ und die „far­bi­ge Welt­re­vo­lu­ti­on“ und einer all­zu raschen Aneig­nung der moder­nen Tech­nik durch die außer­eu­ro­päi­schen Völ­ker rasch erkannt – und wenn eben die­se Gefahr mit ent­schlos­sen durch­ge­führ­ten Gegen­maß­nah­men bekämpft werde.
Auf den ers­ten Blick erscheint auch die­ses Sze­na­rio, das Speng­ler in sei­nem letz­ten Buch ent­wor­fen hat, als über­holt. Auf den zwei­ten Blick aber zeigt sich, daß sei­ne Pro­phe­zei­ung einer kom­men­den glo­bal­po­li­ti­schen Kon­fron­ta­ti­on, die sich vor allem an der Linie der kul­tu­rel­len Dif­fe­renz abspie­len wer­de, kei­nes­wegs abwe­gig gewe­sen ist – im Gegen­teil. Zuerst ein­mal hat er dar­in recht behal­ten, daß sich – sogar nach dem Ende der Ost-West-Spal­tung und des Kal­ten Krie­ges – eben kei­ne „ein­heit­li­che“ Welt, kein Welt­staat, kein „ewi­ger Frie­den“, auch kei­ne kul­tu­rell nivel­lier­te, „ame­ri­ka­ni­sier­te“ Ein­heits­welt her­aus­ge­bil­det hat, trotz aller öko­no­mi­schen „Glo­ba­li­sie­rung“. Das „Ende der Geschich­te“, die Auf­lö­sung his­to­ri­scher Exis­tenz im Zuge eines uni­ver­sal agie­ren­den Libe­ra­lis­mus, ist bis heu­te tat­säch­lich aus­ge­blie­ben. Die von Nietz­sche pro­phe­zei­ten „letz­ten Men­schen“, die „in der Son­ne blin­zeln“ und sagen „Wir haben das Glück erfun­den“, sind – obwohl die­ser Typus sich in den 1990er Jah­ren hier und da bereits anzu­kün­di­gen schien – noch nicht auf der Bild­flä­che der Gegen­wart erschie­nen. Die fun­da­men­ta­len kul­tu­rel­len Dif­fe­ren­zen zwi­schen den ver­schie­de­nen Kul­tur­krei­sen bestehen wei­ter­hin mit unver­min­der­ter Schär­fe fort, vor allem zwi­schen der euro­pä­isch gepräg­ten und der isla­mi­schen Welt. Und es sieht nicht so aus, als ob sich dar­an in abseh­ba­rer Zukunft etwas ändern sollte.
Das bedeu­tet aber: Der ent­schei­den­de Fak­tor der heu­ti­gen Welt­po­li­tik ist und bleibt vor­erst die Tat­sa­che der kul­tu­rel­len Frag­men­tie­rung der Welt und der sich dar­an anschlie­ßen­den poli­ti­schen Kon­flik­te. Wie immer man die Ursa­chen die­ser Kon­flik­te auch deu­ten mag: als Kon­fron­ta­ti­on eines reli­gi­ös-kul­tu­rel­len „Fun­da­men­ta­lis­mus“ mit der „auf­ge­klär­ten Welt“ des Wes­tens oder doch wohl tref­fen­der (und zugleich neu­tra­ler) als „Zusam­men­stoß der Kul­tu­ren“ – es han­delt sich um ein Fak­tum, das Speng­ler vor mehr als sie­ben Jahr­zehn­ten bereits prä­zi­se vor­aus­ge­se­hen und wenigs­tens in sei­nen Umris­sen beschrie­ben hat, frei­lich mit den Begrif­fen sei­ner dama­li­gen Gegen­wart und unter Bezug­nah­me auf die sei­ner­zeit unmit­tel­bar drän­gen­den Zeit­pro­ble­me. Was man von Speng­ler auch heu­te noch ler­nen kann, was also von sei­nem poli­tisch-publi­zis­ti­schen Werk bleibt, das ist die Ein­sicht in die Unhin­ter­geh­bar­keit und auch in die Unüber­wind­bar­keit der Kon­flikt­hal­tig­keit der poli­ti­schen Exis­tenz des Men­schen. Solan­ge Men­schen unter­schied­li­chen Kul­tu­ren ange­hö­ren und sich des­sen auch bewußt sind, so lan­ge wird es kei­ne Ein­heits­welt geben, so lan­ge wird es Kon­kur­renz­kämp­fe und in der Regel auch gewalt­sa­me Kon­flik­te zwi­schen den Ange­hö­ri­gen der ver­schie­de­nen, mit­ein­an­der kon­kur­rie­ren­den Kul­tur­krei­se geben.
Denn auch das hat Speng­ler gelehrt: Zwei Kul­tu­ren mögen sich noch so sehr annä­hern – eine letz­te, unüber­wind­ba­re Schran­ke bleibt immer bestehen. Das ver­meint­lich allen gemein­sa­me „Mensch­li­che“ kommt nur dort zum Tra­gen, wo es um die „Natür­lich­keit“ des Men­schen geht. Kommt die „Kul­tur“ ins Spiel, dann beginnt der Kon­flikt, weil Kul­tu­ren jeweils zeit­lich und räum­lich gebun­den, daher grund­sätz­lich ver­schie­den sind und letzt­lich fun­da­men­tal von­ein­an­der dif­fe­rie­ren. Dar­aus folgt nun kei­nes­wegs zwin­gend, daß es für alle Zukunft eine ago­na­le, eine „krie­ge­ri­sche“ Welt geben muß, daß die Men­schen, so lan­ge sie exis­tie­ren wer­den, sich immer wie­der gegen­sei­tig zu ver­nich­ten trach­ten. Aber dar­aus folgt, daß es Frie­den und Ein­tracht, wenn über­haupt, nur in der von allen gemein­sam erkann­ten und bewußt aus­ge­hal­te­nen, bewußt akzep­tier­ten Dif­fe­renz geben wird. Hier­in lie­gen die Gren­zen des Uni­ver­sa­lis­mus und erst recht die­je­ni­gen der „Glo­ba­li­sie­rung“. Und dar­in liegt auch die Unmög­lich­keit des Ver­zichts auf „Poli­tik“, auch des Ver­zichts auf „Welt­po­li­tik“ in einem durch­aus tra­di­tio­nell gemein­ten Sinn. Noch für unse­re Gegen­wart gilt unver­än­dert – viel­leicht mehr denn jemals zuvor – die War­nung, die Speng­ler in den Jah­ren der Ent­schei­dung for­mu­lier­te: „Der Ver­zicht auf Welt­po­li­tik schützt nicht vor ihren Folgen“.

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