Es kam indes alles ganz anders. Mit den militärischen Leistungen des deutschen Heeres war es seit dem November 1918, als der Krieg endgültig verloren war, erst einmal vorbei, und der Ruhm Spenglers stieg paradoxerweise – sozusagen in kontrafaktischer Bewegung – mit dem politischen Niedergang Deutschlands, das im Frühsommer 1919 den als Schande und Demütigung empfundenen Versailler Friedensvertrag akzeptieren mußte, immer weiter an. Die allgemeine Stimmung im Lande des Hauptverlierers des Ersten Weltkrieges verdüsterte sich in einer Weise, daß der Titel von Spenglers großem Werk von den Deutschen der damaligen Zeit gewissermaßen als die Losung der gegenwärtigen Weltstunde empfunden wurde: Der von dem Denker angekündigte Untergang des Abendlandes wurde mit dem Untergang Deutschlands gleichgesetzt.
Viele Assoziationen mögen hierbei mitgespielt haben. Spätestens seit Friedrich Meineckes berühmtem Buch Weltbürgertum und Nationalstaat von 1908 war den Deutschen die Tatsache ins Bewußtsein zurückgerufen worden, daß die deutschen Klassiker und die Vertreter des philosophischen Idealismus um 1800, allen voran Schiller und Fichte, die Deutschen als „Weltvolk“ angesehen hatten, als geistig führendes Volk in der Welt, das freilich – und das war entscheidend – diesen Ruhm nicht für sich allein erstrebte, sondern das seine geistigen Fähigkeiten vollkommen und ausschließlich in den Dienst der Höherentwicklung der gesamten Menschheit stellte. Von den späteren nationalistischen Verengungen war hier noch keine Spur zu finden, doch die Selbstidentifikation der Deutschen mit dem Höhepunkt intellektueller Weltkultur wirkte lange nach. Auch noch später, gerade in der Zeit des Kaiserreichs, gab es nicht wenige Deutsche, von denen Deutschlands Hauptaufgabe in der Welt zuerst und vor allem in den Bereichen der Wissenschaft und der Kunst gesehen wurde. Der politische Niedergang des Landes nach dem Ende des Ersten Weltkrieges konnte aus diesem Grund umso umstandsloser mit dem Niedergang der abendländischen, ja sogar der „weißen“ Welt überhaupt in Parallele gesetzt werden. Dieser Gedanke bot nicht nur die Möglichkeit, dem für die meisten deutschen Zeitgenossen nur schwer faßbaren Untergang des Kaiserreichs eine Art von „Sinn“ abzugewinnen, sondern es war in der Perspektive dieser Deutung nun ebenfalls möglich, die eigene Niederlage gewissermaßen metaphysisch und geschichtsphilosophisch zu überhöhen – eben indem man das Schicksal Deutschlands mit dem Schicksal des Abendlandes selbst identifizierte: Stirbt Deutschland, das Herz des Abendlandes, dann ist auch der Kontinent, der Kulturkreis als ganzer mit Notwendigkeit zum Untergang verurteilt.
Die Zeitumstände waren also für die allgemeine Aufnahme und Verbreitung von Spenglers Buch außerordentlich günstig; unmittelbar nach Erscheinen des ersten Bandes setzte eine außerordentlich intensive Rezeption dieses Werkes ein, das sehr bald schon in die wichtigsten Fremdsprachen übersetzt wurde. Mit einem Schlag stand der erst achtunddreißigjährige, bis dahin ganz unbekannte ehemalige Gymnasiallehrer und freie Schriftsteller Oswald Spengler im Mittelpunkt des damaligen intellektuellen Deutschlands. Es versteht sich, daß ein Werk von der intellektuellen Kühnheit des Untergangs, dessen Autor auch vor scheinbar gewaltsamen Konstruktionen zum Beleg seiner Hauptthesen nicht zurückschreckte, auch auf deutlichen Widerstand stieß. Eine Reihe der damals bekanntesten Fachgelehrten tat sich zusammen, um Spengler mannigfache, meist kleinere Fehler im Detail, manche Mißverständnisse und allerlei Gewaltsamkeiten in der Argumentation und Thesenbildung nachzuweisen – und in vielen Fällen hatten sie damit auch recht. Aber den weit ausgreifenden, aufs Ganze gehenden, überaus kühnen Entwurf einer neuen Gesamtdeutung der Weltgeschichte vermochten sie im Kern eben nicht zu erschüttern. Entweder konnte man ihn als Ganzes ablehnen, oder aber man mußte zugeben, daß Spengler zumindest einen diskussionswürdigen Entwurf vorgelegt hatte, dessen innerer Gehalt keineswegs so abwegig war, wie es auf den ersten Blick scheinen mochte. Hinzu kam ebenfalls die Tatsache, daß es unter den führenden deutschen Fachgelehrten nicht nur Kritik, sondern durchaus auch Zustimmung und Anerkennung gab – allen voran vom damals führenden deutschen Althistoriker, dem Berliner Ordinarius Eduard Meyer, Autor einer vielbändigen und weltberühmten Geschichte des Altertums.
Trotz allem blieb Spengler natürlich umstritten; der Zahl der Verehrer stand eine fraglos nicht weniger umfangreiche Zahl der Verächter gegenüber. Das hing nicht nur mit seiner immer noch sehr oft kritisierten Theorie der historischen Kulturen zusammen, sondern vor allem auch mit seinen politischen Schriften. Denn Spengler hat sich immer auch – dieser Aspekt seines Lebens und Werkes darf keinesfalls vergessen werden – als strikt politischer Autor gesehen. Er war aufgewachsen im Glanz des wilhelminischen Kaiserreichs, er war stolz auf sein Land, auf dessen politischen und wirtschaftlichen Aufstieg im 19. Jahrhundert und auf dessen beispielhafte Leistungen in den Bereichen Kultur und Wissenschaft, und er vertrat mit aller Entschiedenheit die Überzeugung, daß Deutschland eine Führungsrolle auch in der politischen Welt zukomme. Spengler war, das zeigen seine politischen Schriften in aller Deutlichkeit, ein von den Erfahrungen seiner Generation tief geprägter deutscher Nationalist.
Schon 1919 publizierte er seine erste große politische Schrift, deren Titel ebenfalls bald in den allgemeinen Sprachgebrauch überging: Preußentum und Sozialismus. Er knüpfte an die bereits im Kaiserreich noch zur späten Bismarckzeit beschworene Tradition eines vermeintlich urpreußischen und damit auch deutschen „Staatssozialismus“ an, eines Sozialismus also, der (so seine Überzeugung) nicht von Marx, auch nicht von den Frühsozialisten, sondern von Friedrich Wilhelm I. „erfunden“ worden und von Bismarck auf seinen ersten Höhepunkt geführt worden sei. Spengler skizzierte von hier ausgehend den nach seiner Auffassung gangbaren Weg für einen künftigen deutschen Wiederaufstieg: Orientierung an einem starken, autoritär und korporativ, „wirtschaftssozialistisch“, agierenden Staat, – dagegen Kampf gegen das „innere England“, womit Spengler den politischen Liberalismus und den Parlamentarismus der soeben neu begründeten Weimarer Republik meinte. Dieses Konzept hat er, mit nur wenigen Veränderungen, auch noch später in weiteren seiner politischen Schriften vertreten, vor allem im Neubau des Deutschen Reiches von 1924.
Spengler war also, dies ist klar zu sehen, Antidemokrat und entschiedener Gegner eines westlichen Parlamentarismus, und nicht nur dies stellt ihn in die nächste Nähe zu den Denkern der Konservativen Revolution. Wie die meisten anderen Vertreter dieser Denkströmung verachtete er die vermeintlich schwache Republik, und deren „Überwindung“ durch den Nationalsozialismus hat er anfangs durchaus begrüßt. Freilich war der Nationalsozialismus nicht unbedingt das, was er sich als neue politische Form für Deutschland erhofft hatte; als zeitweiliger Verehrer Mussolinis hätte er einen „gemäßigten“ Faschismus oder ein eher autoritäres System, wie es damals bereits in Portugal bestand, zweifellos bevorzugt. Über den Charakter des NS-Regimes machte er sich schon bald keine Illusionen mehr, und als einer seiner engsten Freunde, ein Münchner Musikkritiker namens Willi Schmid, im Zuge der Mordaktionen der SS am 30. Juni 1934 nur aufgrund einer Namensverwechslung umgebracht wurde, zog sich Spengler vollkommen ins Privatleben zurück. Die beiden letzten Jahre seines Lebens verbrachte der schwer herzkranke Denker mit der Ausarbeitung einer völlig neuen Kulturtheorie, die er leider nicht mehr in die letzte von ihm gewollte Form bringen konnte. Immerhin sind die umfangreichen Fragmente, die sein Nachlaß enthält, außerordentlich beachtlich; sie zeigen, daß die denkerische Kraft, die Fähigkeit zur gedanklichen Synthese und der Wille zur geschichtsphilosophischen Gesamtdeutung bis zuletzt lebendig waren – den zunehmenden physischen Beschwerden korrespondierte jedenfalls kein geistiger Niedergang.
Spengler, der 1936 im Alter von nur sechsundfünfzig Jahren starb, hat seinen Ruhm überlebt. Trotz aller nationalsozialistischen Polemik, die den vermeintlich ausschließlich „pessimistischen“ Untergangstheoretiker von der Agenda der politisch und weltanschaulich wichtigen Autoren zu streichen trachtete, wurde sein Werk weiterhin beachtet, und daran änderte sich auch in der zweiten Nachkriegszeit zuerst nichts. Der allgemeine geistige und politische Umbruch der 1960er Jahre jedoch brachte auch hier eine Wende. Zwar konnte ausgerechnet im Jahr 1968 die erste, von Anton Mirko Koktanek verfaßte umfangreiche Darstellung von Leben und Werk Spenglers erscheinen, doch die von diesem Forscher ebenfalls bereits vorher in den Jahren 1965 und 1966 edierten beiden Nachlaßbände „Urfragen“ und „Frühzeit der Weltgeschichte“ wurden nur noch wenig beachtet. Man entdeckte, im Gegenteil, die eigentlich längst vergessenen politischen Schriften neu und vermochte den Denker nun in die Reihe derjenigen zu stellen, denen man die Schuld am Niedergang der ersten deutschen Demokratie zuschob: auch Spengler wurde, wie Moeller van den Bruck, Schmitt, Jünger, Jung und viele andere, jetzt zuerst als einer der „antidemokratischen Denker“ in der Weimarer Republik identifiziert.
Obwohl er – das ist nicht im mindesten zu leugnen oder auch nur zu relativieren – in diese Reihe zweifellos gehört, überdeckte und überdeckt noch heute die Stigmatisierung dieses Autors zugleich den Rang seines kulturphilosophischen Gesamtwerks. Vor allem wurde hierdurch eine intensive Rezeption und Auseinandersetzung mit seinem aus dem Nachlaß herausgegebenen Spätwerk im Grunde fast vollkommen blockiert; die intellektuelle Welt und auch die Wissenschaft nahm es, von einigen Ausnahmen abgesehen, einfach nicht zur Kenntnis. Nur wenige Forscher – vor allem ausländische Gelehrte wie der französische Germanist und Spenglerexperte Gilbert Merlio – haben sich der Analyse und Deutung dieser (zugegebenermaßen nicht besonders leicht zugänglichen) Textfragmente gewidmet.
Fragt man nun aus der Perspektive der Gegenwart nach demjenigen, was von Spengler und seinem Werk heute noch geblieben ist, dann sind in erster Linie zwei Hauptaspekte zu nennen, ein geschichtsphilosophischer und ein politischer. Der erste – der geschichtsphilosophische oder kulturtheoretische – betrifft das Spätwerk Spenglers. Die beiden von Koktanek vor nunmehr fast vier Jahrzehnten edierten Bände „Urfragen“ und „Frühzeit der Weltgeschichte“ sind längst vergriffen und fast vergessen. Das sollte und könnte sich ändern, denn schon ein flüchtiger Blick in diese Bände zeigt, daß Spengler, trotz der offenen, aphoristischen Form, die er (im Anschluß an Nietzsche) in seiner Spätzeit bevorzugte, um eine neue Geschlossenheit seiner Kulturtheorie bemüht war, daß er bestrebt gewesen ist, die damals neuesten Resultate vor allem der archäologischen, der vor- und frühgeschichtlichen und der althistorischen Forschung in seine Überlegungen mit einzubeziehen. Es ist deshalb durchaus kein Zufall, daß seine allerletzte zu Lebzeiten erschienene Veröffentlichung in einer Fachzeitschrift erschienen ist – ein Aufsatz mit dem Titel Zur Weltgeschichte des zweiten vorchristlichen Jahrtausends.
Der Denker hat in seinen letzten Lebens- und Schaffensjahren intensivste Anstrengungen unternommen, seine frühere Theorie der sich monadisch voneinander abschließenden, aufblühenden und absterbenden, insgesamt neun Hochkulturen zwar nicht grundlegend zu revidieren, aber doch gewissermaßen „nach unten“ neu zu untermauern, also exakter zu fundieren. Spengler ging dabei weit in die Urgeschichte zurück. Er unterschied jetzt vier verschiedene Kulturstufen (die er, im Gegensatz zu seiner früheren Darstellungsweise nun ganz prosaisch als die aufeinander folgenden Stufen „a“ bis „d“ bezeichnete): Zuerst das viele Jahrzehntausende umfassende Altpaläolithikum, das den Menschen auf seiner noch tierhaften Existenzstufe zeigt, sodann (b) das Jungpaläolithikum, umgreifend die Zeit vom 20. bis zum 6. / 7. vorchristlichen Jahrtausend, das er bereis als ein Zeitalter „dumpfmenschlicher“ Empfindung und eines rudimentären Selbstbewußtseins erkannte. Es folgt © die Zeit des Neolithikums (6. bis 3. Jahrtausend), die historische Epoche der beginnenden „Menschwerdung“, der Seßhaftigkeit, der erstmaligen Ausprägung und Sichtbarwerdung von „Einzelkünsten“ und persönlich sich abhebenden Talenten. Erst die vierte Stufe (d) umfaßt jetzt dasjenige, was Spengler erst eigentlich als „Weltgeschichte“ bezeichnet, also die Zeit seit dem Beginn der jeweils etwa ein Jahrtausend andauernden alten und neueren „Hochkulturen“.
Was also bleibt von Spengler? – um diese Frage noch einmal zu stellen: Immerhin eine in ihrer Bedeutung noch kaum ausgewertete und ausgeleuchtete Theorie der historischen Kulturstufen, die ihr Urheber mit einer Fülle von Daten, Fakten, aber auch intensiver und tief in die Materie eindringender Reflexionen untermauert hat. Die historische Forschung – geschweige denn die universalhistorisch ausgreifende Geschichtsdeutung – hat sich noch so gut wie gar nicht hiermit auseinandergesetzt. Die Fülle der Gedanken und Ideen hierzu, von denen überhaupt erst ein kleiner Teil aus dem sehr umfangreichen Nachlaß Spenglers veröffentlicht worden ist, sind in ihrer Bedeutung ganz offensichtlich bisher übersehen worden. Es bleibt heute nur abzuwarten, ob sich dies einmal ändern wird. Ein lohnendes Unternehmen wäre es auf jeden Fall.
Der zweite Hauptaspekt der Frage nach der Aktualität Spenglers richtet sich auf die politische Dimension seines Werkes. Damit sind heute nicht mehr die in der Tat sehr zeitbedingten – und damit in ihren Kernaussagen weitgehend überholten – politischen Schriften im engeren Sinne gemeint, sondern in erster Linie die weltpolitischen Aspekte seiner späteren Überlegungen, die er, ausgehend von den Grundannahmen seiner Kulturtheorie, in seiner Spätschrift Jahre der Entscheidung von 1933 wenigstens ansatzweise formuliert hat (denn ein angekündigter zweiter Band dieses letzten seiner Bücher ist niemals erschienen). Auch die Jahre der Entscheidung sind ein hartes, kompromißlos argumentierendes, sich durch einen fast brutalen Realismus auszeichnendes Werk, eine Schrift, die den politischen Nerv der Zeit treffen wollte und auch getroffen hat. Aufschlußreich zur Rekonstruktion der politischen Überzeugungen des späten Spengler ist die hier lediglich ansatzweise sichtbar werdende, in der Formulierung nur vorsichtig angedeutete, in der Sache aber unübersehbar deutliche Distanzierung vom Nationalsozialismus, besonders von der Rassentheorie. Dem vom NS-Regime verordneten Geschichtsoptimismus (etwa die Idee eines soeben neu anbrechenden „germanischen Zeitalters“ und dergleichen) hat Spengler in seinem letzten Buch eine fast höhnische Abfuhr erteilt, die freilich nur derjenige zur Kenntnis nehmen konnte, der zwischen den Zeilen zu lesen verstand.
Zwei Thesen stellt der Denker auf. Die erste: Mit dem Ende des Weltkrieges 1918 hat eine fundamental neue weltgeschichtliche Epoche begonnen. Die bis 1914 vollkommen unangefochtene Führung der abendländischen Mächte – und damit auch die Dominanz der abendländischen Kultur überhaupt – wird in immer stärkerem Maße in Frage gestellt; das alte Europa hat sich selbst mit diesem Krieg fundamental geschwächt, so daß eine allgemeine Umschichtung der politischen Kräfteverhältnisse auf dem Globus begonnen hat, deren Zielrichtung und Ergebnis noch keineswegs abzusehen sind. Neue Mächte beginnen aufzusteigen: Nicht nur die Vereinigten Staaten von Nordamerika sind endgültig in das Kartell der Weltmächte eingetreten, auch die bolschewistische Sowjetunion schickt sich an, in das Spiel der machtpolitischen Entscheidungen einzugreifen. – Und die zweite These: Mit dem Sieg der Bolschewisten in der Sowjetunion hat die „weiße Weltrevolution“ begonnen, deren Ende ebenfalls noch nicht abzusehen ist. Diese soziale Revolution, die Erhebung der Unterprivilegierten gegen die bisherigen gesellschaftlichen und ökonomischen Führungsschichten, ist ein Vorgang, der sich, so Spengler, in naher Zukunft noch weiter fortsetzen und der vollends unabsehbare Folgen nach sich ziehen wird, wenn sich künftig einmal die „weiße“ mit der „farbigen Weltrevolution“ verbündet, also mit dem eben beginnenden Aufstand der von den Weißen bis dahin noch beherrschten afrikanischen und asiatischen Völker gegen ihre Kolonialherren.
Gegen die drohende „Gefahr der Verständigung zwischen den Farbigen und dem weißen Proletariat“ sah Spengler keine andere Möglichkeit (er deutet sie allerdings nur vorsichtig an), als den Zusammenschluß der weißen Völker zu gemeinsamer Aktion, um die eigene weltbeherrschende Stellung zu retten, damit auch den immer noch andauernden Vorrang des Abendlandes wenigstens für ein oder zwei Jahrhunderte zu sichern. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, daß Spengler den „Untergang“ des Abendlandes noch keineswegs als solchen konstatierte, sondern nur für die Zukunft prognostizierte.
Dem in der Tat bereits sichtbaren langsamen Erlöschen der geistigen und künstlerischen Kräfte Europas und seiner Ableger stellte er die immer noch andauernden schöpferischen Fähigkeiten im Bereich der modernen Technik entgegen. Hierin werde Europa, davon war der Denker überzeugt, noch lange Zeit einen unaufholbaren Vorsprung besitzen. Aber eben nur dann, wenn die Gefahr einer Überwältigung durch die „weiße“ und die „farbige Weltrevolution“ und einer allzu raschen Aneignung der modernen Technik durch die außereuropäischen Völker rasch erkannt – und wenn eben diese Gefahr mit entschlossen durchgeführten Gegenmaßnahmen bekämpft werde.
Auf den ersten Blick erscheint auch dieses Szenario, das Spengler in seinem letzten Buch entworfen hat, als überholt. Auf den zweiten Blick aber zeigt sich, daß seine Prophezeiung einer kommenden globalpolitischen Konfrontation, die sich vor allem an der Linie der kulturellen Differenz abspielen werde, keineswegs abwegig gewesen ist – im Gegenteil. Zuerst einmal hat er darin recht behalten, daß sich – sogar nach dem Ende der Ost-West-Spaltung und des Kalten Krieges – eben keine „einheitliche“ Welt, kein Weltstaat, kein „ewiger Frieden“, auch keine kulturell nivellierte, „amerikanisierte“ Einheitswelt herausgebildet hat, trotz aller ökonomischen „Globalisierung“. Das „Ende der Geschichte“, die Auflösung historischer Existenz im Zuge eines universal agierenden Liberalismus, ist bis heute tatsächlich ausgeblieben. Die von Nietzsche prophezeiten „letzten Menschen“, die „in der Sonne blinzeln“ und sagen „Wir haben das Glück erfunden“, sind – obwohl dieser Typus sich in den 1990er Jahren hier und da bereits anzukündigen schien – noch nicht auf der Bildfläche der Gegenwart erschienen. Die fundamentalen kulturellen Differenzen zwischen den verschiedenen Kulturkreisen bestehen weiterhin mit unverminderter Schärfe fort, vor allem zwischen der europäisch geprägten und der islamischen Welt. Und es sieht nicht so aus, als ob sich daran in absehbarer Zukunft etwas ändern sollte.
Das bedeutet aber: Der entscheidende Faktor der heutigen Weltpolitik ist und bleibt vorerst die Tatsache der kulturellen Fragmentierung der Welt und der sich daran anschließenden politischen Konflikte. Wie immer man die Ursachen dieser Konflikte auch deuten mag: als Konfrontation eines religiös-kulturellen „Fundamentalismus“ mit der „aufgeklärten Welt“ des Westens oder doch wohl treffender (und zugleich neutraler) als „Zusammenstoß der Kulturen“ – es handelt sich um ein Faktum, das Spengler vor mehr als sieben Jahrzehnten bereits präzise vorausgesehen und wenigstens in seinen Umrissen beschrieben hat, freilich mit den Begriffen seiner damaligen Gegenwart und unter Bezugnahme auf die seinerzeit unmittelbar drängenden Zeitprobleme. Was man von Spengler auch heute noch lernen kann, was also von seinem politisch-publizistischen Werk bleibt, das ist die Einsicht in die Unhintergehbarkeit und auch in die Unüberwindbarkeit der Konflikthaltigkeit der politischen Existenz des Menschen. Solange Menschen unterschiedlichen Kulturen angehören und sich dessen auch bewußt sind, so lange wird es keine Einheitswelt geben, so lange wird es Konkurrenzkämpfe und in der Regel auch gewaltsame Konflikte zwischen den Angehörigen der verschiedenen, miteinander konkurrierenden Kulturkreise geben.
Denn auch das hat Spengler gelehrt: Zwei Kulturen mögen sich noch so sehr annähern – eine letzte, unüberwindbare Schranke bleibt immer bestehen. Das vermeintlich allen gemeinsame „Menschliche“ kommt nur dort zum Tragen, wo es um die „Natürlichkeit“ des Menschen geht. Kommt die „Kultur“ ins Spiel, dann beginnt der Konflikt, weil Kulturen jeweils zeitlich und räumlich gebunden, daher grundsätzlich verschieden sind und letztlich fundamental voneinander differieren. Daraus folgt nun keineswegs zwingend, daß es für alle Zukunft eine agonale, eine „kriegerische“ Welt geben muß, daß die Menschen, so lange sie existieren werden, sich immer wieder gegenseitig zu vernichten trachten. Aber daraus folgt, daß es Frieden und Eintracht, wenn überhaupt, nur in der von allen gemeinsam erkannten und bewußt ausgehaltenen, bewußt akzeptierten Differenz geben wird. Hierin liegen die Grenzen des Universalismus und erst recht diejenigen der „Globalisierung“. Und darin liegt auch die Unmöglichkeit des Verzichts auf „Politik“, auch des Verzichts auf „Weltpolitik“ in einem durchaus traditionell gemeinten Sinn. Noch für unsere Gegenwart gilt unverändert – vielleicht mehr denn jemals zuvor – die Warnung, die Spengler in den Jahren der Entscheidung formulierte: „Der Verzicht auf Weltpolitik schützt nicht vor ihren Folgen“.