Gruselig, wenn Platon, Kant und Hannah Arendt unter Rassismusverdacht stehen, wenn Mozart und Beethoven aus dem Lehrplan gestrichen werden, weil sie aus der Zeit der Sklaverei stammen.
Wo sind wir hingekommen, wenn projektive Unterstellungen der “Postcolonial”- und “Racial Studies” sowie “Critical Whiteness” in den einst liberalen USA für ein Klima an den Universitäten sorgen, in dem weiße Professoren vor Auditorien ihre angeblichen Privilegien bekennen müssen?
Es erinnert an Szenen wie in der maoistischen Kulturrevolution oder im Stalinismus. In seinem überaus erhellenden Buch „Jahrmarkt der Befindlichkeiten“ nimmt Bernd Ahrbeck die komplexen hypermoralischen Zusammenhänge auseinander und erläutert das Selbstverständnis der neuen Befindlichkeitskrieger: Diejenigen, die Totalitarismus anprangern, betreiben ihn selbst, indem sie die Ausgrenzung jener fordern, die nach ihrer Auffassung schuldig daran wurden, daß Welt und Menschen nicht so gut erscheinen, wie sie sein könnten. Politik ist angewandte Anthropologie, wird also bestimmt von Diskussionen um Menschenbilder. Wird eines, vorzugsweise das Rousseausche, zum sakrosankten Muster erhoben, ist’s nicht mehr weit bis zur Gewalt.
Dieser Transformationsprozeß ist weit vorangeschritten, wenn etwa die einst bewährten Förderschulen als Ausdruck der Apartheid oder gar als nationalsozialistisch geprägt gelten und die radikale Inklusionspädagogik selbst um den Preis fortgeschrieben werden soll, daß sie zu einer „exkludierenden Inklusion“ (Rudolf Stichweh) zu werden droht.
Die Erweiterung dieses Inklusionsgedankens auf die gesamte Pädagogik, ja auf die Gesamtgesellschaft ist verhängnisvoll, wo vergleichende Leistungsbewertungen abgeschafft werden und sich Heranwachsende nicht mehr über ihr Leistungsstreben integrieren können, sondern sich per se gleichgestellt finden.
Die Schwächung des Leistungsprinzips wendet sich gegen die sozial benachteiligten Kinder selbst,
wenn das Leistungsniveau so lange gesenkt wird, bis niemand mehr hinter den gestellten Anforderungen zurückfällt.
Das Gerede von der ungerechten Schule ist Unfug:
Das nach PISA-Kriterien gerechteste Bildungssystem findet sich in Algerien, in einem Land, das auf der Leistungsskala den vorletzten Platz bekleidet.
Als Hintergrund dieser Umwertungen erkennt Ahrbeck, Professor für psychoanalytische Pädagogik, einen ideologischen Imperativ: Totale Gerechtigkeit! Herzustellen nicht in kritischer Revision sozialökonomischer Tatsachen, sondern über sprachliche Zuschreibungen mittels „linguistic turns“. Dies soll nicht nur in der Sexualpädagogik mit der Überzeugung erfolgen,
dass die Wirklichkeit durch Sprache erschaffen wird und das Geschlecht ein sprachlicher Diskurseffekt ist,
sondern wird in allen Lebensbereichen politische Praxis. Gerechtigkeit soll sich verkürzend einfach als Gleichheit verstehen.
Ganz im Gegensatz zu Martin Luther Kings Traum, Menschen sollten nicht nach ihrer Hautfarbe, sondern nach ihrem Charakter beurteilt werden, ist es doch wieder die Hautfarbe, sind es an ethnischen Grenzen, sexuellen Vorlieben und an Geschlechterverhältnissen festgemachte Gruppenmerkmale, die heute hochgehalten werden.
Einerseits hat ein kategorisches Diskriminierungsverbot zu gelten, andererseits definieren sich Gruppen in sexueller und kultureller Selbstbestimmung derart abgegrenzt, daß sie die gesamte Außenwelt als gegnerisch ausschließen und Kritik wie Zuwendung als Übergriffigkeit diffamieren. Sie verstehen sich als Opfer und treten mit anderen Gruppen in einen Opfer-Wettbewerb.
Die Antidiskriminierungs- und Gerechtigkeitsideologie wiederum folgt der utopistischen Illusion,
es könne eine von historischen Belastungen, gesellschaftlichen Verpflichtungen und inneren Widersprüchen bereinigte Entwicklung geben.
Mit diesem Anspruch sitzt die linksgrüne Meinungsführerschaft auf dem ganz hohen Roß. Sie legt sich die „narzißtische Gratifikation“ bei,
weltoffen auf der Seite des Fortschritts zu stehen.
Je mehr Egalität hergestellt scheint, umso lauter wird in jakobinischer Weise der Ruf nach noch mehr Egalität. Keine Grenzen mehr, stattdessen umfassende Entgrenzungen, darin liegt die Gefahr, nicht nur pädagogisch, sondern politisch, und zwar auf ambivalente Weise:
Einerseits versteht sich die Gesellschaft als besonders permissiv, sie will freier und toleranter sein denn je zuvor. Tabus scheint es kaum noch zu geben. Auf der anderen Seite ist sie in einer Weise repressiv geworden, die noch vor wenigen Jahren kaum vorstellbar war.
Ahrbeck fragt naheliegend, ob eine vollkommen gerechte Gesellschaft überhaupt psychologisch verkraftbar wäre. Die von der fragwürdigen Pädagogik totaler Inklusion gepäppelten Schüler würden jenseits der „safe spaces“ eben doch erfahren:
Hierarchien bleiben erhalten, und auch das Konkurrenzprinzip ist nicht außer Kraft gesetzt.
Und genau das ist nicht nur gut so, sondern fordert die Entwicklung der Persönlichkeit heraus. Ahrbeck zitiert Harald Martenstein:
Vollkommene Gerechtigkeit ließe sich nur erreichen, indem man das Glück abschafft (…) Ich glaube, wir alle werden das Glück vermissen, wenn es tatsächlich verboten ist.
Gefährlich werden die vermeintlichen Gerechtigkeitsbestrebungen, wenn sie nach der Natur des Menschen selbst greifen, wie es innerhalb der Sexualpädagogik und – damit im engen Zusammenhang – mit der Transgender-Agitation geschieht. Nicht genug, daß „Zwangsheterosexualität“ verteufelt wird und unter Generalverdacht steht, Macht- und Herrschaftsverhältnisse zu generieren; es wird darüber hinaus der Eindruck erweckt,
alles, was außerhalb des Heterosexuellen liegt, befindet sich in einer befreiten Zone.
Das Ziel: Transgender soll in allgemeinen Transhumanismus münden.
Der Autor, als Psychoanalytiker, warnt:
Das binäre Modell ist der Motor allen Weiterlebens, die Differenzierung der Generationen und Geschlechter der entscheidende Inhalt des Ödipuskomplexes. (…) Der ödipale Komplex trägt entscheidend zu einer Gewissensbildung bei. Jede Relativierung und Aushebelung symbolischer Ordnungen führt zu schweren Verlusten. Ordnende Strukturen müssen deshalb aufrechterhalten, gestärkt und gegen Angriffe verteidigt werden.
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Bernhard Ahrbeck: Jahrmarkt der Befindlichkeiten. Von der Zivilgesellschaft zur Opfergemeinschaft, 158 S., 16 € — hier bestellen.
Maiordomus
Transhumanismus könnte auch als Entmenschlichung bis hin zur Abschaffung des Menschen interpretiert werden. Dabei bevorzuge ich bei z.B. Beschreibungstexten oder Hinweisen auf Teilnehmer, auch Teilnehmerinnen den Begriff "Person". Der letztere Begriff gehört nicht zuletzt zur Entwicklung der Menschenrechte nun mal als Personenrechte. Der Begriff der Person wurde in der abendländischen Ethik stark von der Personen-Debatte um die Errungenschaft der Heiligen Dreifaltigkeit geführt. Wer findet, dies sei eine geschmäcklerische bis unbedeutende Angelegenheit, sei daran erinnert, dass im Prinzip die Person das Göttliche im Menschen ist, nicht als Vergottung, aber als Teilhabe, wie die Mystiker betonten bei jeglichem Bewusstsein eines unaufhebbaren Abstandes. Es hängt durchaus auch mit Kants Ethik zusammen, wonach es bei der Person nie um Verzwecklichung gehen könne, sondern um das ethische Wesen der Menschheit in der Person als "reinen Zweck", nicht Mittel zum Zweck. Dieser Gedanke wäre wohl ohne die vorangehende jahrhundertelange Debatte nicht entwickelbar gewesen; wobei freilich die Einwände Schopenhauers gegenüber dem Begriff "Menschenwürde" meines Erachtens nach wie vor zu bedenken bleiben.