Man darf dann auch die Warnung Hans Blumenbergs, daß „Metaphern dirigieren, führen und verführen“ nonchalant übergehen, ja das Flottieren sogar zur Tugend machen und „gleichsam einer Laune nachgebend“ – das sind die original Eingangsworte! – oder einem „Reflex folgend“ seinen Assoziationen nachsinnen und daraus ein neues Buch machen. Wenn man Sloterdijk heißt, dann darf man das, denn es kommt dennoch Wesentliches zum Vorschein.
Dann darf man auch einen Satz Cézannes – „Solange man kein Grau gemalt hat, ist man kein Maler“ auf das Denken und den Philosophen beziehen. Das war die Ausgangsintuition; der Philosoph geht ihrem inneren Witz freudig und ausschweifend nach.
Grau steht natürlich für mehr als nur eine Farbe, grau ist auch die Theorie, die Bürokratie, die Theologie, die Geschichte, grau ist das Mittlere, das Alltägliche, die Depression und vieles mehr – wenn man sich willig von der Metapher verführen läßt. Grau sind auch die
Indifferenzzonen, die sich selbst gern als Sphären der Toleranz, der Bildung und Weitläufigkeit, ja der kosmopolitischen Gesinnung schildern.
An Sätzen wie diesen mag man erkennen, daß Sloterdijk die politische Konfrontation nicht scheut:
Seit Vernetzungen den Begründungen den Rang ablaufen, ist es ratsam, in der Abwegigkeit eine Anderswegigkeit zu vermuten
oder:
Man darf versichert sein, daß das inzwischen globalisierte jakobinische Empfinden nicht lange suchen muß, um alternative Empörungsgründe zu entdecken. Es wird aktuell in den passiv-aggressiven Spielarten des Feminismus fündig, der aus der Menge der Frauen die Klasse der Belästigten hervorhebt; es ergreift schon das Wort in der juvenilen Woke-Ideologie, die ihre unduldsame Empfindlichkeit gegen Symbole unwillkommener Unterschiede vor sich herträgt.
oder:
Die polychrome Idylle trügt; die zur Durchmischung einladende Liberalität der Moderne kann die erwünschte Regenbogengesellschaft nicht erzwingen. Zugleich ist es für Entmischung und reinfarbige Identitäten zu spät. Aus der Summe der Einzelfarben entsteht (…) keine leuchtende Allfarbe, vielmehr ergibt sich ein stumpfes bräunliches Grau.
Solche schillernden Nuggets lassen sich aus dem Bleiwüstengrau herauswaschen – wenn man aufmerksam liest. Sie sind hochgradig kodiert. In der letzten Passage finden wir sogar eine dialektische Bezeugung versteckt, denn Sloterdijk bekennt sich in der Kritik des Grauen just zu diesem. Gerade im politischen Kapitel wird die „Rot-Grau-Verschiebung“ all dessen, was rot und revolutionär angetreten war und zwangsläufig grau und uniformiert enden mußte, als historische Crux kenntlich gemacht.
Trotz seiner stark farbkonnotierten Perioden in rot und braun etwa, macht Sloterdijk das darunterliegende Deckgrau sichtbar und satisfaktionsfähig. Wenn man das Grau nach der Kritik nun aber affirmiert? Sloterdijk – wem es bisher noch nicht klar war – macht sich als ausgleichender Denker, als ein Mann der Mitte, des Gemäßigten, Kultivierten und Zivilisierten kenntlich. Und so auch in theologischen, philosophischen, ästhetischen, historischen Fragen, um das weite Spektrum seines Denkens nur anzudeuten.
Das Material ist so unendlich wie Sloterdijks Wissensradius, und mit dröger Technik ließe es sich mühelos erweitern. Auch wenn der Leser nicht jeder Gedankenvolte folgen kann, so gelingt es dem Sprachmeister doch, stets den Eindruck zu vermitteln, daß dies an des Lesers Unvollkommenheit liegt. Am Ende bricht der Philosoph seine Gedankenfahrt auch eher ab, als daß er abschließt; paradigmatisch dafür die „dritte Digression: Von Grau und Frau“ – was hätte man da nicht alles schreiben können, wenn man nur an die vergangenen 16 bleiernen Jahre denkt … zwar werden die „Merkel-grauen Stimmungen“, das „Kunststück, zugleich lau und machtbesessen zu sein“ erwähnt, aber dann läßt er „einen Windstoß zur rechten Zeit“ den Blätterstapel verwehen und den Leser weiter warten. Immerhin würde der Lektor befriedet sein, der zum zu Sagenden wohl seinerseits gesprochen hätte: „Paß auf, wenn man keine Frau ist, kann man so etwas heute nicht mehr schreiben!“
Aber wenn man Peter Sloterdijk heißt, dann könnte man es wohl doch! Bis das geschieht, muß man weiterhin zwischen diesen originellen und immens studierens- und denkenswerten Zeilen lesen.
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Peter Sloterdijk: Wer noch kein Grau gedacht hat. Eine Farbenlehre. Suhrkamp. Frankfurt 2022. 286 Seiten. 28 € – hier bestellen
RMH
One man on a lonely platform
One case sitting by his side
Two eyes staring cold and silent
Shows fear as he turns to hide
Aaah, we fade to grey ...
https://www.youtube.com/watch?v=UMPC8QJF6sI
Sloterdijk war damals bei der Veröffentlichung des Liedes ca. 33 Jahre alt ...