Der Schlaf in den Uhren ist ein so dichtes Gewebe, ein so weitverzweigtes Labyrinth, daß kein Rezensent, kein professioneller Leser diese 900 Seiten schon bewältigt (bewältigt?) haben kann. Es gab aber bereits in den Tagen vor der Sperrfrist, die der Suhrkamp Verlag verhängt hatte und an die man sich natürlich nicht hielt, einen Wettlauf der Stellensucher, der Querleser, der Vorausahner und der Standrichter.
Marie Schmidt formulierte in der Süddeutschen Zeitung am 12. Mai die Blaupause:
Es bleibt jedoch richtig, dass Suhrkamp diesen Roman veröffentlicht. Seine Probleme liegen dadurch offen zu Tage, ohne von Cancel-Debatten mythisiert zu werden. Die Frage bleibt: Wie konnte aus dem Autor des prätentiösen, aber eben auch sinnlichen, vermittelnden Romans „Der Turm“ der Erschaffer eines so engen Weltbildes werden?
Nennen wir Schmidts Fragestellung und das, was beispielsweise Richard Kämmerlings in der Welt, Julia Encke in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, Jan Drees im Deutschlandfunk und andere anderswo sehr rasch äußerten, den Schildwall der Zivilgesellschaft.
In diesen Rezensionen geht es um den Versuch einer Entzauberung und Entmythisierung dessen, was alle seit Jahren einschweben sahen und worin sie sich und ihre freiwillige Einpassung in die offizielle Kulturpolitik auf fatale Weise beschrieben vermuteten. Nun ist es da, umfassend, schwer, vorhanden – und muß weggestoßen, für irrelevant und enttäuschend erklärt und abgetan werden, rasch, rasch.
2. Dutzende Besprechungen, Interviews und die termingenaue Ausstrahlung einer 3Sat-Dokumentation über Tellkamps literarisch-politischen Furor beweisen die Relevanz des vermeintlich Irrelevanten. Die Erstauflage ist gigantisch, sie wird abverkauft werden.
“Es bleibt jedoch richtig, dass Suhrkamp diesen Roman veröffentlicht. Seine Probleme liegen dadurch offen zu Tage”, schreibt Schmidt, siehe oben. Wem fällt die Arroganz auf, die in diesem Urteil steckt? “Jedoch” meint, man habe es hin und her erwogen und zunächst eher abgeraten; “dadurch” schreibt Suhrkamp die Strategie zu, man lasse Tellkamp aus größtmöglicher Höhe ins Messer fallen – Bestsellerpolitik, um einen Autor zu erledigen?
3. Ein Roman kann nicht widerlegt werden. Er ist da, er bleibt und entfaltet seine Wirkung, zeigt sein Gewicht: Der Schlaf in den Uhren wird in Bereichen und Leserschaften zum Bestand werden, zu denen dem Feuilleton der Zugang fehlt und auf die es keinen Zugriff hat.
Der Regierungsbezirk der Literaturfürsten ist enger als früher. Sie sind zu sehr unter sich und schreiben zu ungeschickt und zu deutlich voneinander ab. Das reicht in formierten Gesellschaften aus, man kann gut und vor allem bequem davon leben. Dieses Phänomen ist gründlich beschrieben worden: Echokammern, verbale Tuchfühlung, Schreiben, Dämmern, Fügen – der Anpassungsdruck muß immens sein, das Ausscheren aus dem Gespann fast ein Ding der Unmöglichkeit, der Einzelgänger eine seltene Spezies mit Neigung zur Tarnung oder ein Hasardeur – oder eine Persönlichkeit.
Jedenfalls: Wenn das so simpel Vorhersagbare geschrieben und verkündet ist und der publizistische Geschwindigkeitswahn sich ausgetobt haben wird, werden die gründlichen Auseinandersetzungen folgen.
4. Der 3‑Sat-Film, anderthalb Stunden, geht der Frage nach, wie es so weit kommen konnte, im Doppelsinn der Formulierung: Warum tat Tellkamp, was er tat, und was richtete zuvor das kulturelle und das politische Deutschland an? Der Film ist sehenswert und wichtig, er ist nicht unfair.
Uwe Tellkamps Zorn auf die Zumutungen der Zeit steht im Mittelpunkt der Dokumentation. Man sieht den Autor auf Gängen durch die Elbaue, schmale, mauergefaßte Gassen hinauf ins Villenviertel, im Innenhof bei Susanne Dagen, auf Lesungen und – Ausgangspunkt aller Fragen nach einem plötzlich “so engen Weltbild” – in der Debatte mit Durs Grünbein im Dresdner Kulturpalast, März 2018. Dort äußerte Tellkamp sein Unverständnis darüber, daß Diskussionen in Meinungskorridoren zu verlaufen hätten und daß es zu Formen von Selbstzensur und Risikoabwägung komme, wenn aus ideologischen Gründen Grenzen des Sagbaren gezogen würden, die nicht gezogen werden dürften.
Man sieht Tellkamp schreibend, mit der Hand, mit dem Füller, dann an der mechanischen Schreibmaschine und nur einmal kurz am Laptop. Man sieht ihn nachschlagen, lesen, sprechen – nach den großen Auseinandersetzungen vortragend im emotionalen Rückraum, dem Kulturhaus Loschwitz. Er schrieb in den Jahren seither seine dichte Erzählung Das Atelier für die neue Buchreihe Dagens, das EXIL, und er beendete den Schlaf in den Uhren – eine kaum faßbare Leistung in einer Zeit, in der es bröckelte, abriß, sich sortierte, fand und klärte.
5. Tellkamp wird im Film eingerahmt von fünf Personen, die ihn erklären sollen, aus immer größerer Distanz. Zunächst ist da Susanne Dagen, die Buchhändlerin und langjährige Freundin, mit ihrem Mann zusammen eine kulturelle Instanz in Dresden, hellwach wie Tellkamp, wenn es um die Einengung von Äußerungsmöglichkeiten geht und um Kennzeichen totalitärer Demokratie.
Dagen initiierte die “Charta 2017”, in der sich Publizisten, Autoren, Verleger, Bürger gegen die verfälschende Darstellung der Vorfälle auf der Frankfurter Buchmesse im Oktober des namensgebenden Jahres wandten. Antaios stand damals im Mittelpunkt der Auseinandersetzung um die Frage, was “die Zivilgesellschaft” an abweichender, vielleicht radikaler Position auszuhalten habe in einer Messehalle und im öffentlichen Raum.
Dagen spricht im Film als diejenige, die nicht zornig sein kann: ruhig, fördernd, kreativ, mutig – sie markiert rote Linien auf eine ebenso undramatische wie kompromisslose Art und Weise, namentlich dort, wo man die Schaufenster ihrer Buchhandlung einwarf, um Buttersäure nachzukippen und einen Brandsatz zu platzieren.
Dagen kennt die Kulturszene, sie kennt ihre Pappenheimer. Einer davon, der Schriftsteller Ingo Schulze, ist der Gegenentwurf zu Tellkamp: kein empörungsfähiger Künstler mit dem großen Talent und dem notwendigen Fleiß zum epochalen Roman, sondern einer der Vertreter jenes Milieus, das Regierungshandeln vertritt, moralpolitisch profitiert und in teigiger Unerbittlichkeit die woke Verantwortungslosigkeit absichert.
Tellkamp sagt, was er sagen muß, weil er nachdachte, nun nicht mehr anders kann und sich um die Folgen nicht schert (immerhin riskierte er als Autor seinen Platz in den Listen des noch immer mit der Aura des Wesentlichen umhüllten Suhrkamp Verlags); Schulze hingegen denkt und äußert sich nur nach gründlicher Abwägung der Folgen für sich selbst. Dies ist ihm zur zweiten Haut geworden, auch physiognomisch – das Satte, Selbstzufriedene, das Angekommene, der Gestus der Großzügigkeit auf Kosten derer, die auszuhalten und auszubaden haben, was ihnen zugemutet wird.
Schulze: schlafwandlerische Sicherheit in der Benutzung der gerade gängigen Vokabeln, der immer noch feineren Markierung des Störenden. Einpassung, Anpassung – Auftragserfüllung als Tellkamp-Erklärer, als der lässig Großzügige: eine schlappe Rolle.
In Abstufungen weitere Figuren: Pegida-Grübler Frank Richter, eitel wie je, ihm eilt der Ruf voraus, die Gesprächswaage stets in der Balance halten zu können. Vielleicht ist das schon viel in unserer Zeit. Und dann: Martin Machowecz, Jahrgang 1988, Leiter des Ressorts “Streit” in der Wochenzeitung Die Zeit. Auch er ein Ermöglicher von Debatten, einer, der das, was er tut, für Pluralismus hält.
6. Ermöglicher von Debatten – dasselbe ließe sich über Frank Richter auch sagen. Aber es könnte auch etwas anderes sein: Pluralismussimulation, Herrschaftsabsicherung durch Oppositionskrümelchen. Auch das ist in der Macht- und Medientheorie alles längst beschrieben und abgelegt: Ein 3Sat-Film könnte zum Feigenblatt werden – seht her, Tellkamp durfte zu Wort kommen, 90 Minuten lang, Schulze auch, Schulze gab sich her dafür, obwohl ein bißchen angeekelt, sehr honorig also, und nun, mündiger Bürger, wäge ab…
Nein, nein: Es ist schon recht so, der Film schafft den Rahmen, den Klangraum, in dem Tellkamps Werk sich bewegt, in dem es tönt. Er hat als Schriftsteller etwas erreicht, wozu die meisten seiner Kollegen nicht in der Lage sind: Ohne Arroganz und ohne Qualitätseinbuße an die Seite des Normallesers zu treten, das exquisite, fingerspitzige Feuilleton, das grüne, woke, mainstreamige offizielle Deutschland links liegenlassend, weil es nicht aufrichtig, weil es denen, von denen es lebt, nicht zugeneigt ist.
Wer wird sich, wenn er den 3Sat-Film sieht, auf wessen Seite schlagen? Wer wird die geschleckte Schulze-Wohnung als einen Ort sehen, an dem redlich erwogen und gedacht wird, wer den engeren, hölzernen Raum Tellkamps oder den Innenhof der Dagens mit Fugenkraut und wildem Wein und mit dem Eingang in die Buchhandlung?
Dort wird nun Der Schlaf in den Uhren stapelweise verkauft, dort werden Lesungen stattfinden. Dagen am Telefon: Sie wisse nicht genau, ob jeder, der nun die 900 Seiten aus ihrem Laden nach Hause trage, das Werk wirklich lese, lesen könne, durchhalte. Aber bei allen werde es auch als solidarisches Zeichen im Regal stehen. Anders ausgedrückt: Die Fahne, die Tellkamp gehißt hat, ist sichtbar, sein Name hat sich als Chiffre bereits vom Werk entfernt. Die meisten Rezensionen, die so rasch, zu rasch erschienen sind, wollen keine Leseerfahrung schildern, sondern Verurteilungsanleitungen geben. Sie wollen dem Phänomen Tellkamp Herr werden, wollen es immer noch nicht gelten lassen. Zu spät.
7. Ich bin bei Seite 230 angelangt, Ellen Kositza bei zwei Dritteln, Dagen ist fast durch, andere sind mittendrin oder am Anfang oder beginnen noch einmal von vorn. Das Buch arbeitet, allein heute haben wir 40 Exemplare davon in die Post gegeben. Wir werden das Werk besprechen, im Literarischen Trio, in langen, gründlichen Auseinandersetzungen – aber nicht schon morgen.
– – –
Uwe Tellkamp: Der Schlaf in den Uhren. Roman, 900 Seiten, 32 € – hier bestellen.
Nemo Obligatur
Ohne den Schlaf in den Uhren gelesen zu haben:
Ein Buch, das Diskussionen provoziert. Also Literatur im besten Sinne. Die knappen Inhaltsangaben in den Rezensionen lassen (u.a. wegen der Anklänge an Jules Verne) an Arno Schmidts Gelehrtenrepublik denken. Wenn das Buch nur der Kommentar Tellkamps zur Flüchtlingskrise 2015 wäre, wie mancher Rezensent behauptet, wäre es in der Tat wertlos, schon bei Erscheinen veraltet.
Aber nun genug der müßigen Spekulationen und ran ans Buch! Wir haben hier schließlich auch eine Kulturnation zu bewahren.